10.05.2004 Brüchige Festungen – Schluss

 

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7) Nach der Integration die Desintegration

In der Prekarität entsteht eine neue proletarische Existenzweise. Unter welchen Bedingungen kann sich die Gemeinschaft der Ausgebeuteten, die frontal angegriffen wird in ihren Arbeits- und Lebensverhältnissen von der Umstrukturierung des krisenhaften Ausbeutungssystems, als antagonistische Macht, mit anderen Worten, als revolutionäre Klasse konstituieren? Die Fragestellung ist nicht neu, nur die historischen Bedingungen und Umstände.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die aus ihren zyklischen Krisen wieder hochgeschnellte Expansion des Kapitalismus der Arbeiterklasse bedeutende materielle Verbesserungen eingeräumt. Die zur Staatspartei gewordene Sozialdemokratie revidierte die Idee des Sozialismus, der nach einer Konfrontation mit der bourgeoisen Klasse errichtet werden sollte. Sie versprach im Gegenzug das Ende der sozialen Ungleichheit über den Weg der Reformen. [...] Die neue Wissenschaft Soziologie entsprach dem Bedürfnis der Bourgeoisie, die sozialen Bewegungen zu verstehen, um sie besser befrieden zu können. Sie führte einen Begriff von Klasse ein als »Ansammlung von Menschen unter denselben Bedingungen«, der der revolutionären Vorstellung einer bewussten und tätigen Kollektivität von Produzenten entgegengesetzt ist. Die Konstituierung als Klasse wäre so der Prozess, der von der Revolte zur kollektiven Selbstorganisation der Ausgebeuteten führt; also die Ablösung des jakobinischen Projekts, das nur »die von einem revolutionären Generalstab angeführte Revolte der Armen« ist. Es lässt sich somit festhalten, dass die frühere Arbeiterklasse, deren Krise man heute feststellt, nur in Momenten des revolutionären Bruchs die Form der Klasse im emanzipatorischen Sinne angenommen hat.

Der lange Zeitraum der Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hat, endet heute mit einer raschen Desintegration. Dieser Vorgang ist mit Sicherheit vorübergehend, und in seinem Verlauf wird das Lohnarbeitsverhältnis selbst verändert. Das Verschwinden der Sicherheit, die vorher durch den stabilen Status und den sozialen Aufstieg vermittelt wurde, erzeugt beim Beschäftigten ein individualistisches Erlöschen des Interesses gegenüber dem Unternehmen. Es drückt das Bewusstwerden dieser Veränderungen und die Unmöglichkeit der Integration über die Arbeit aus. Die Integrationsideologie der gemeinsamen Aufopferung für das Unternehmen hat ebenso Blei in den Flügeln wie die diversen Managerdiskurse vom »Mitbürger-Unternehmen«. In den alten kapitalistischen Zentren entdecken junge und weniger junge Proletarier, dass die brutalen Ausbeutungsverhältnisse nicht vorübergehend sind, dass sie tatsächlich die einzige Zukunftsperspektive darstellen. So bilden sich wieder Kampf- und Widerstandskollektive. Auch wenn der Individualismus in der neuen Arbeitsorganisation ausgenutzt werden kann, steht er nicht notwendigerweise im Widerspruch zum Entstehen von Formen der Selbstorganisation. Die letzte Frage scheint wieder die zentrale zu sein: Die kämpferischen Arbeiter, denen bewusst ist, dass die großen Gewerkschaftsapparate gegenüber der derzeitigen Umwälzung wirkungslos sind, betrachten diese nicht mehr als ihr eigenes Werk, sondern als Strukturen, die man benutzen kann, als Sozialhilfebüros. Manche suchen eine Alternative in den neuen militanteren, minoritären gewerkschaftlichen Organisationen, um dann zu entdecken, dass sie im Morast derselben Probleme stecken, genauso unfähig, sich der Logik der Rationalisierung des Arbeitsprozesses zu widersetzen.

Ähnliche Illusionen findet man auf dem Feld der Politik wieder, wo die Neugründung der Linken der letzte herzanrührende Vorschlag war. Welchen neuen Inhalt sollte so was haben? Die klassische Linke ist todkrank, sie war im Stande gewesen, den Konsens durch staatliche Eingriffe zu verwalten, aber der Sozialstaat verschwindet und macht dem ausufernden Polizeistaat Platz. Eine Positionierung, die sich auf die Linke und ihre Organisationsprinzipien bezieht, hat mit unserem Weg nichts zu tun! [...] Die kommende Alternative muss reinen Tisch machen mit diesen vorgeblich gegensätzlichen Projekten [»die Rechte« und »die Linke«, die sich in Wirklichkeit beide auf den Staat beziehen], sie muss aus der Aktivität und durch die Aktivität der Betroffenen entstehen. Sie muss die Untrennbarkeit von Ökonomie und Politik bekräftigen, indem sie diese Kategorien hinter sich läßt. In der Zwischenzeit kann die Waffe der Kritik helfen, einen Weg in den Ruinen der alten Politik zu bahnen.




Wir haben den Text fürs Web gekürzt und die Fußnoten weggelassen. Um den vollständigen Text zu erhalten, schreibt bitte eine e-Mail an die Redaktion.

 

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