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Berichte zur Krise

EINS: England

»Die Arbeitsplatzverluste haben noch nicht einmal richtig angefangen.«

Wir hatten Leute in verschiedenen Ländern gebeten, ihre Beobachtungen zu den Auswirkungen der Krise aufzuschreiben.
Hier ein Bericht aus London von November 2008 mit einem Update am Schluss.

English version


1. Wie wirkt sich bei euch die Krise sozial aus?

Besonders die Preise für die Strom-, Gas- und Wasserversorgung und den Öffentlichen Nahverkehr, neben denen für Grundstücke und Mieten, waren jahrelang viel stärker angestiegen als die offizielle Inflationsrate, bis dann Mitte 2008 dasselbe mit den Preisen für Grundnahrungsmittel geschah. Für die Preissteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln hatte man, oft mit Begriffen aus dem Umweltschutz oder der Geopolitik – wie peak oil oder die bösen Russen, die ihr Gas horten – grob vereinfachend Angebotsverknappungen angegeben, aber natürlich gingen die Gebühren für die Verbraucher nicht zurück, als die jeweiligen Rohstoffpreise fielen. Wichtig ist auch, dass diese Preissteigerungen, die die Armen ungleich stärker treffen, lange Zeit offiziell nicht als »Inflation« erschienen – und somit auf die Lohnverhandlungen keinen Einfluss hatten –, im allgemeinen bis zum Preisschock bei Nahrungsmitteln und Gebrauchsartikeln dieses Jahr. Teilweise war das so, weil diese Dinge wegen ihrer »Volatilität« vom »Kern« der Inflationsindizes ausgenommen sind; und zum Teil, weil sie in diesen Warenkörben durch sinkende Preise weniger lebenswichtiger Waren ausgeglichen werden, wie etwa Unterhaltungs- und Haushaltselektronik und Dienstleistungen in der Telekommunikation.

So haben sich gesellschaftliche Entwicklungen verschärft, wie etwa, dass Leute aus der Londoner Innenstadt vertrieben werden, weil der Anteil ihrer Einkommen, den sie für Miete und Nebenkosten aufbringen müssen, ständig größer wird, aber das hatte definitiv schon vorher in der 'Boomphase' angefangen. Ich hege den Verdacht, dass die eigentlichen Auswirkungen der Krise erst an ihrem Anfang stehen und von den Arbeitern in den Dienstleistungssektoren wie dem, in dem ich selbst arbeite, erst in den kommenden Jahren wahrgenommen werden, in zwei, vielleicht drei Wellen. Die erste, die bereits im Rollen ist, wird aus Massenentlassungen bestehen, aus Konkurrenz um Arbeitsplätze und Druck auf die Löhne und Bedingungen in den »Dienstleistungs«-Branchen, die sich bisher von den Geldströmen in dieses Land ernährt haben, das Loren Goldner zum »dekadentesten der Welt« ausgerufen hat. Ein sehr einfaches Beispiel: die größten Kunden meiner Bosse waren Lehman Brothers und Merrill Lynch. Viele ArbeiterInnen in einfachen Bürojobs wie meinem, die sich selbst als »qualifizierte Berufstätige« sehen, werden ihre Lage neu überdenken müssen. Ich will mich gar nicht darüber lustig machen, angesichts der Einkommensanteile, die von den TeilzeitarbeiterInnen in diesen Jobs im wesentlichen mit Akkordarbeit verdient werden. Aber der härteste Schlag wird wahrscheinlich die Jobs treffen, wo die Löhne, Bedingungen und Absicherung bereits auf ein Minimum runter«verhandelt« worden waren, wo man andererseits aber leicht Arbeit bekam. Jedenfalls gibt es dort nichts mehr zu »opfern«, wenn man das Existenzminimum halten will: Einzelhandel, Kellnern, Umzüge, Putzen usw. Wenn man außerdem das Ausmaß informeller Arbeit und irregulärer Einwanderung berücksichtigt, sind wahrscheinlich die Schäden, die diesen Sektoren bereits zugefügt wurden, durch die Statistiken verschleiert worden.

Die zweite Welle wird ein bisschen später eintreffen, wenn die öffentliche Verschuldung durch die »Notfallmaßnahmen« vom Staat »zurückgezahlt« wird und die öffentlichen Ausgaben wieder runtergefahren werden. Offiziell wurden keine »neuen« Ausgaben genehmigt: Das Geld wird nur vorzeitig ausgegeben und muss in den kommenden Jahren durch Kürzungen oder Steuererhöhungen zeitnah wieder reingeholt werden – letzteres ist höchst unwahrscheinlich, es sei denn in der Form regressiver Steuern wie der Poll Tax [einkommensunabhängige Gemeindesteuer, die pro Kopf gezahlt werden muss; mit regressiv ist gemeint, dass die Steuern nicht mit steigendem Einkommen ebenfalls ansteigen, wer mehr einnimmt, behält auch prozentual mehr; A. d. Ü.]oder der Mehrwertsteuer. Das wird genau die Menschen treffen, die bereits nicht mehr in der Lage sind, mittels Löhnen und/oder Kredit ihr Auskommen zu finden, da staatliche Sozialleistungen gekürzt werden und der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen erschwert wird.

Die mögliche dritte Welle, von der ich sprach und die jederzeit eintreffen kann, würde es geben, wenn die stark fremdfinanzierten, privaten Vertragspartner, an die sehr viele staatliche Dienstleistungen ausgelagert wurden, ihre eigene Privatfinanzierungskrise erleiden. Besonders dramatisch wäre das beim »öffentlichen« Wohnungsbau, wo der Großteil des staatlichen Sektors privaten »sozialen« Hausbesitzern übertragen wurde (s.u.), die sich ihren Kredit als Geschäftskunden besorgen müssen. Probleme dieser Art beginnen gerade in Frankreich aufzuscheinen, wo der Mietpreisbindung unterliegende Vermieter von den Schutzgeldabzockern Calyon und Natixis [Investmentbanken von Credit Agricole bzw. den frz. Sparkassen] »Zinsswaps« gekauft hatten.
Allerdings geht es nicht nur um Sozialwohnungen: fast der gesamte öffentliche Verkehr und ein großer Teil der Gesundheitsversorgung, der Sozialleistungen (einschließlich der damit gekoppelten Durchsetzung des Arbeitszwangs), des Bildungswesens und diverser kommunaler Infrastruktur (sogar Teile des Militärs!) werden über denselben Private Finance Initiative-Plan betrieben, bei dem der Staat sich auf Jahrzehnte bei einem privaten Dienstleister verschuldet (und so die aktuellen Ausgaben außerhalb der Bilanz hält), der sich natürlich seine eigenen Kredite immer wieder neu organisieren muss. In all diesen Bereichen bedeuten schärfere Bedingungen bei der Kreditvergabe und auf den Märkten für die privaten Vertragsnehmer Kürzungen bei »öffentlichen« Dienstleistungen und höhere Gebühren für die Benutzer, was ebenfalls diejenigen ungleich härter treffen wird, die sich eigene private Alternativlösungen nicht leisten können.

2. Sind die Leute verschuldet? Was passiert nun?

Viel von dem, was den Leuten jetzt an Verschuldung und Unsicherheit geschieht, oder von dem sie fürchten, dass es jetzt beginne, scheint das unausweichliche Ergebnis der Aufrechterhaltung des Konsums und der individuellen sozialen Aufwärtsmobilität über die Ausweitung der Kredite während der Zeit von De-Industrialisierung und starren bis sinkenden Reallöhnen seit den 1970ern zu sein. Das ist vielleicht eine banale Beobachtung, aber ich denke dabei besonders an zwei Dinge, die die staatliche Politik des Vereinigten Königreichs seit 1979 vorangetrieben hat: die demographischen Verschiebungen in Richtung »Eigenheim« und private Altersversorgung. Mal ganz abgesehen von den aktuellen Erscheinungen der Verbriefung von Hypotheken und der aufgrund steigender Immobilienpreise ausgeweiteten Verschuldung zur Einkommensergänzung würde eine Krise der bankseitigen Kreditvergabe nicht automatisch für so viele LohnarbeiterInnen zu Obdachlosigkeit führen und zu völliger Abhängigkeit von der Aufrechterhaltung bestehender »Karrieren«, wäre der Anteil der Bevölkerung in staatlichen Mietwohnungen nicht von etwa 60 Prozent auf zwischen 20 und 25 Prozent gefallen. Die Differenz rührt beinahe ausschließlich von auf Pump erworbenen »Eigenheimen«, und zwar schon lange bevor der »subprime«-Beschiss in großem Stil importiert wurde. Das sind ganz klar politische Entscheidungen, die seit der Ära Thatcher durch ein subventioniertes »Kaufrecht« für staatliche Mieter umgesetzt wurden, wobei die Gemeinden die Erlöse nicht dafür verwenden durften, die verkauften Sozialwohnungen zu ersetzen. Außerdem wurde der Anspruch auf eine Wohnung eingeschränkt und, erst jüngst, verbliebene staatliche Sozialwohnungen privaten Vermietern übertragen, wodurch den Mietern viel schlechtere Bedingungen drohen, wenn sie von ihrem »Kaufrecht« immer noch keinen Gebrauch machen wollen.

Bei den Renten ist es ähnlich. Dort wird die deregulierte Explosion bei der Bandbreite der angebotenen »Investitionen« vom Zurückfahren der staatlichen Vorsorge auf das nackte Existenzminimum begleitet. Die gegenwärtige Regierung plant außerdem ein »Zwangssparen« (also den Zwang zum Glücksspiel) durch den erzwungenen Transfer eines Teils der Löhne auf »individuelle Rentenkonten«, die auf dem Markt investiert werden. Angesichts der immer noch aktuellen Debatte über den Anteil des »kapitalistischen Kommandos« an der »Krise« (oder die Frage einer »einheitlichen Strategie des Kapitals«) scheint es der Mühe wert, zu betonen, auf welche Art und Weise die Politik die individuellen Interessen der ArbeiterInnen nachhaltig mit denen der Finanzmärkte verknüpfte.

3. Wird überhaupt über Teuerung und Krise diskutiert? Was kriegst du diesbezüglich mit? Kannst du gemeinsame Entwicklungen beobachten?

Es ist schwierig, dazu etwas Allgemeines zu sagen. Die Leute, die ich kenne, sind kaum repräsentativ. Einige von ihnen versuchen sich an recht detaillierter Analyse oder Kritik, während andere die schon lange zu hörende Story von der Kreditklemme nur für einen weiteren ideologisch-medialen Nebenkriegsschauplatz halten, oder jedenfalls für etwas, was nur »Eigentümer« von Dingen wie Häusern und Kreditkarten beträfe. In einem Kontext von steigenden Mieten, Gentrification, Sozialwohnungsbürokratie und dem Abbröckeln von Hausbesetzungen überrascht es nicht wirklich, dass der Gedanke, sinkende Immobilienpreise seien etwas Schreckliches, unter jenen, die beständig kämpfen müssen, um in der Londoner Innenstadt bleiben zu können, auf wenig Sympathie stieß. Es scheint eine recht breite Nostalgie in Bezug auf einen sozialdemokratischen »gesunden Menschenverstand« zu geben (obwohl das, seit ich in der Ära Thatcher/Reagan aufwuchs, Dauerthema war), und als die Bösen müssen dort »einige gierige Banker und Hedgefond-Manager« herhalten. Mit am deprimierendsten, wenn auch nicht neu, ist die weit verbreitete Annahme – und das nicht nur in der Mittelschicht -, Proletarier zu sein ohne die erlösende Aussicht auf eine persönliche Karriere sei etwas grundsätzlich Beschämendes und Verhängnisvolles. Diese Prämisse teilen links orientierte Sozialdemokraten und Stadtteil-Aktivisten, die sich beschweren, dass die »gesellschaftlich Ausgegrenzten« und »von der Bildung Ausgeschlossenen« keine Möglichkeit geboten bekämen, »sich zu verbessern«, mit ausgewiesenen Reaktionären (selbst meist jung und »aufstrebend«, wie es scheint), die das »Scheitern« – also den Mangel an individuellem Aufstieg – auf die Faulheit, den Mangel an »Initiative« oder die Dummheit der Betroffenen schieben. Eine weitere hässliche Entwicklung war der Versuch eines Regierungssprechers, die Krise zum Vorwand zu nehmen, noch schärfere Beschränkungen der Zuwanderung aus Nicht-EU-Ländern vorzuschlagen, obwohl es Beweise dafür gibt, dass jene MigrantInnen, deren Zahl in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen hatte, nämlich die aus EU-Ländern, gerade massenhaft das Land verlassen. Ob solche Ideen außerhalb jener Minderheit, die sich eher aus nationalen/kulturellen/rassischen Gründen gegen die Zuwanderung stellt, als dass sie die Ursachen eines existierenden Drucks auf die Löhne, den Arbeitsmarkt und staatliche Dienstleistungen fehldeutet, breite öffentliche Unterstützung erhalten werden, bleibt abzuwarten.

4. Gibt es vielleicht sogar schon Kämpfe an dieser Front?

Was Kämpfe gegen die spezifisch neuen Entwicklungen angeht, gibt es bisher sehr wenig. Das ist vielleicht nicht wirklich überraschend, denn die Entlassungswelle rollt ja erst an - ein Viertel der von der Financial Times befragten Bosse planen für 2009 Entlassungen, doch wesentlich weniger hatten schon welche ausgesprochen. Der Arbeitsplatzverlust (oder auch der Rückgang bei Neueinstellungen) scheint sich bisher meist auf ungarantierte, teilweise informelle »Dienstleistungs«-Jobs zu beschränken, wo die Chancen auf kollektive Kämpfe schlecht stehen, und die Entlassungen tauchen vielleicht nicht einmal in den Statistiken auf. (Es gibt Hinweise darauf, dass viele ungarantierte ArbeiterInnen in die neuen EU-Länder zurückkehren, obwohl der eventuelle Arbeitskräftemangel dort nur sehr kurzlebig sein könnte.) Was geschieht, wenn die Kürzungen und Entlassungen erst einmal richtig ins Rollen kommen und die Aussichten auf individuelle Lösungen sich langsam verflüchtigen, bleibt abzuwarten. Vielleicht sind einige ArbeiterInnen eher willens zu handeln, wenn die konkreten Auswirkungen dessen, was uns immer noch als recht abstrakte Ereignisse auf der Ebene der Finanz dargestellt wird, unmissverständlich werden. Aber es kann natürlich auch sein, dass die Drohung mit Entlassungen erfolgreich dazu benutzt wird, Lohnkürzungen durchzusetzen. In der gestrigen Financial Times diskutiert ein Gremium aus Bossen und Akademikern über die beste Weise, diese verlockenden Optionen miteinander zu kombinieren.

Die Frage von Lohnsteigerungen unterhalb der Inflationsrate war schon früher aufgeworfen worden, bevor die »inflationäre« Phase der Krise wirklich zugeschlagen hatte, als Gordon Brown als Vorsichtsmaßnahme gegen die Inflation forderte, die Lohnerhöhungen im öffentlichen Sektor unterhalb der Inflationsrate zu halten (die damals betrügerisch – s. o. – auf um die zwei Prozent berechnet wurde). Es folgte eine Reihe kraft- und erfolgloser symbolischer Streiks. In einem der wenigen Ausnahmefälle, als nichtlehrende ArbeiterInnen im Bildungswesen lieber auf einem Inflationsausgleich beharrten als ein in Prozenten höheres Angebot anzunehmen, wurde, als die Inflation über den zuvor angebotenen Prozentsatz stieg, der staatliche Arbeitgeber zur Einhaltung des Vertrags gezwungen – er schwor daraufhin, ein solcher Ausgleich würde nie wieder vereinbart werden.

Heftigere Streiks, zum Beispiel bei der Post und im öffentlichen Personenverkehr, gingen im allgemeinen auch um die Umstrukturierung und die Angriffe auf die Arbeitsbedingungen, die während der ganzen Boom- und Krisenperioden nie eine Pause einlegten. Was das angeht, waren einige Transportarbeiterstreiks erfolgreich, bei der Post jedoch wurde ein Kompromiss bei der Lohnfrage vom Arbeitgeber dazu benutzt, einen großen Teil der (von der EU vorgeschriebenen) Umstrukturierung durchzusetzen.

Das Fehlen offener Kämpfe ist meiner Meinung nach nicht unbedingt ein Zeichen für Ignoranz oder sogar einen automatischen Individualismus-Reflex, obwohl diese Dinge natürlich mit reinspielen. Die trotzkistischen Parteien halten die Krise wahrscheinlich für eine großartige Gelegenheit zur Rekrutierung. Davon abgesehen könnte es sein, dass eine Menge Leute auf eine unklare Weise – und zeitlich etwas hintendran – das Gefühl haben, es sei jetzt schwierig, im Nachhinein gegen die Jahrzehnte lokaler und globaler Umstrukturierung anzukämpfen, die zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Das trifft vielleicht vor allem auf Sozialdemokraten (wie meine Eltern und die einiger Bekannter) zu, die meinen, ohne die dreißig Jahre von De-Industrialisierung und Finanzkapitalisierung im Westen hätten wir immer noch einen hübschen, gesunden und »menschlichen« Kapitalismus. (Natürlich wünschen sich andere Wähler derselben Parteien lediglich Gehaltskürzungen für Banker und eine bessere, »expertengestützte« Regulierung der Märkte, aber die Rolle der Ignoranz habe ich ja bereits oben gewürdigt.)

Gruppen, die eine Art politisierter Selbsthilfearbeit machen – einige beeinflusst von einem anarchistischen Klassenkampfkonzept, wie z.B. die London Coalition Against Poverty (die zu Sozialleistungen und Sozialwohnungen intervenieren), Advisory Service for Squatters und die Hackney- und Haringey Solidarity-Netzwerke, aber auch Hackney Independent, die Independent Working Class Association und verschiedene Gruppen zu Stadtteil- oder Wohnungsfragen oder gegen die Vertreibung durch Sanierung – scheinen sich, auch wenn sie ihre Aktionen vor der Krise begannen, dessen bewusst zu sein, dass sie sich zunehmend mit Bedingungen auseinandersetzen müssen, die mit der Krise zusammenhängen.

Das Hackney Solidarity-Netzwerk hat zu einem breiteren Treffen aufgerufen, um zu diskutieren, wie damit umzugehen ist. Es wird darauf ankommen, ob Stadtteil- und Gemeindegruppen den manchmal einschränkenden Widerspruch im Lokalaktivismus überwinden können (obwohl er nicht bei den oben genannten anarchistischen Gruppen vorkommt), nämlich dass die Konzentration auf die lokale Gemeinde (was manchmal heißt: sesshafte, beständige Gemeinde) so intensiv sein kann, dass sie diejenigen ausschließt, die gerade aufgrund ihrer Arbeits-, Wohn- und Migrationsbedingungen in den letzten Jahren ihr Leben lang nicht in der Lage sein werden, sich in irgendeiner Community »anzusiedeln«.

Nachwort (9. Januar 2009)

Seit der Niederschrift der obigen Antworten Ende 2008 gab es keine größeren Anzeichen für durchsetzungsfähigere Klassenkämpfe, aber vielleicht ist das gar nicht so seltsam. Schon damals waren das hauptsächlich Langzeitentwicklungen, die gerade ihre hässliche Seite zu zeigen begannen. Die dramatischsten Entwicklungen waren keine glücklichen (es sei denn, man glaubt an die Gleichung Verelendung = automatisch Antagonismus) und kamen nicht überraschend. Wie schon in den bürgerlichen Medien breit berichtet wurde, hat sich die Welle der Insolvenzen und präventiven Entlassungen von den Banken zu den Einzelhandelsketten verbreitet und zu dem, was an Produktion noch übrig war (solche »nationalen Champions« wie die Hoflieferanten für Tafelporzellan). Ein Großteil der Medienberichterstattung und Regierungspropaganda schreibt diese Firmenpleiten und Arbeitsplatzverluste immer noch unaufrichtigerweise direkt der angeblichen plötzlichen Konsumverweigerung durch die Verbraucher zu: Verweise auf die fremdfinanzierte Fremdfinanzierung, über die selbst das »Eigentum« an kleinen Geschäften organisiert ist und die nicht weiter verlängert werden kann, und auf Zusammenbrüche von Zuliefererketten (z.B. der Bankrott der Woolworth-Kette, der den ehemaligen Virgin-Einzelhändler Zavvi mit runterriss, weil Woolworth deren Hauptgroßhandelslieferant war) beschränken sich auf die Wirtschaftsseiten, und die Debatte über die »Kreditkrise« verläuft fast vollständig auf der Ebene von Krediten an Konsumenten und Hypothekengläubiger. Einen allgemeinen Überblick darüber zu bekommen, wie weit diese verzerrte Sichtweise akzeptiert wird, ist sehr schwer. (Ein winziges Beispiel: Ich arbeite bei einer kleinen Agentur für Presseausschnitte (nur ein paar hundert ArbeiterInnen), deren Eigentumsverhältnisse über privates Beteiligungskapital organisiert sind und die ab und zu »Mitarbeiterforen« abhält, auf denen sie die Geschäftsergebnisse verkünden und vorher eingereichte Fragen beantworten. Meine Frage zu den Chancen der Refinanzierung von Schulden aus dem kürzlich stattgefundenen privaten Firmenaufkauf wurde wegen der Vertraulichkeit privaten Kapitals zurückgewiesen, danach lösten sie das Forum auf. Inzwischen machen sich ArbeiterInnen einige Sorgen um die Überlebenschancen der Firma, aber fast immer auf der Ebene der Auftragseingänge durch Kunden und nicht der Anfälligkeit für Finanzvorgänge woanders.) Eines scheint allerdings sicher: Die Arbeitsplatzverluste haben noch nicht einmal richtig angefangen, und so führen die Medienberichte über vorübergehende Erscheinungen wie die Verkaufszahlen zu Weihnachten in die Irre. Natürlich sind Statistiken von Rating-Agenturen so eine Sache, aber wir sollten dennoch zur Kenntnis nehmen, dass Standard & Poor's im November 2008 den »spekulativen Anteil« an der Schuldenausfallquote von Konzernen in Europa auf drei Prozent berechnete, ihre Vorhersage für den Zeitraum von 2009 und 2010 allerdings bei 8,7 bis 11 Prozent liegt.

Die niederschmetterndste Nachricht in Bezug auf die Auswirkungen für den Klassenkampf war, dass eine große Anzahl von Industriearbeitern im Zuge von verzweifelten Bemühungen, ihre Arbeitsplätze zu sichern, freiwillig (und natürlich vermittelt durch Gewerkschaften) wesentliche Einschnitte bei der Lohnhöhe anbot. So geschehen gegen Ende 2008 bei JCB, nichtsdestotrotz entließ die Firma danach Hunderte von Arbeitern; die Gewerkschaft GMB versuchte das trotzdem als einen Sieg zu verkaufen, da sonst noch mehr ArbeiterInnen entlassen worden wären. Kurz danach, im Dezember 2008, berichtete die Financial Times, bei GMB organisierte ArbeiterInnen beim Stahlhersteller Corus (Tata-Gruppe) hätten für eine Arbeitsplatzgarantie eine zehnprozentige Lohnkürzung angeboten. Die Gewerkschaft leugnete das zunächst, dann machte es die Runde von Fabrik zu Fabrik. Mittlerweile bittet Tata um eine staatliche Subvention »für den Arbeitsplatzerhalt« bei Jaguar-Land Rover, dem Autohersteller in den Midlands, den es jüngst über dem Nennwert als »Investitionstrophäe« gekauft hatte. Berichte von dieser Woche über die Beschwerden von Firmen bezüglich der Kosten pro ArbeiterIn bei direkten Entlassungen legen nahe, dass Schritte unternommen werden, das Problem zu umgehen. Zum Beispiel durch Lohnkürzung oder Verringerung der Arbeitszeit, obwohl dies hier bisher noch nicht in demselben Ausmaß geschehen ist wie in anderen Ländern. Nissan hatte in seinem Sunderland-Werk, dem »effektivsten in ganz Europa«, das erst im Januar 2008 auf Dreischicht umgestellt und im Juni immer noch so produziert hatte, bereits Schichten runtergefahren. Und doch kündigten sie erst gestern 1200 Entlassungen an: von 400 ZeitarbeiterInnen und 800 »Festen«.

Es gibt auch Anzeichen dafür, dass die Umstände der Krise als Vorwand genutzt werden, um widerspenstige Arbeitergruppen anzugreifen. So holte man Peter Mandelson, ein unpopuläres Mitglied des inneren Kreises der Regierung Blair, als eine Art Krisenmanager aus Brüssel zurück, woraufhin er sofort die Teilprivatisierung der zum Streiken neigenden Royal Mail verfügte. Seit Jahren war das ein politisches Ziel gewesen, aber man hatte es nie durchsetzen können.

Die »Rückkehr zu Keynes« (Mann des Jahres in Rupert Murdochs Times) wird weiterhin überall verkündet, und zwar auf eine verblüffende Weise, es sei denn, man versteht »Nachfragesteuerung« so buchstäblich, dass dazu auch ein verzweifeltes Wiederaufpumpen einer Kredit- und Vermögensblase zählt. Die Basiszinsen wurden so weit unter die Inflationsrate gesenkt, dass sie die armseligen Einkommen der Mittelklassepensionäre aus den Sparguthaben auslöschen. Die von der Regierung zaghaft und von den »Verteidigern der Rentner« bei den Tories lauthals vorgeschlagene Lösung besteht darin, die Besteuerung besagter Ersparnisse zu senken. Das würde zur »Notwendigkeit« einer qualitativen Austerität beitragen (also Kürzungen bei der öffentlichen Altersvorsorge), um in ein paar Jahren für quantitative Anreize (also Geldspritzen) von heute die Rechnung zahlen zu können.

Wie oben bereits vorhergesagt, beginnt sich die Schuldenkrise jetzt auf das private »Sozial«-Wohnungswesen auszuwirken. Eine private »Wohnungsgenossenschaft«, Ujima, ist bereits zusammengebrochen, und der Regulierer für den Sektor versucht, die solventeren Hausbesitzer dazu zu bringen, den schwächeren mit Krediten auszuhelfen, um die Banken zu umgehen. Besonders die Strategie, Häuser zu verkaufen, um »bezahlbare« Mietwohnungen zu finanzieren, führt zur Auflösung. Ein anonymer »Experte für Wohnungswesen« wird in der FT von gestern in dem Sinne zitiert, dass die Regierung »darüber nachdenken muss, den größten und schwächsten Sozialwohnungsgesellschaften frisches Kapital zur Verfügung zu stellen«. (Ja, Wohnungsgesellschaften und sozial, im Gegensatz zu »unsozial«. Wenn das nicht ein Widerspruch in sich ist!)

Und gerade jetzt wird eine wenig bekannte (vor der Krise beschlossene) staatliche Maßnahme wirksam, die die weitere Vertreibung der Arbeiterklasse aus den Innenstädten sichern soll, wo auch trotz der geplatzten Immobilienblase ein weiteres Ansteigen der Bodenpreise zu erwarten ist: Das Wohngeld (d.h. eine staatliche Subventionierung aufgeblähter privater Mieten) muss im Verhältnis zur Durchschnittsmiete in einem großen, sozial durchmischten Gebiet gezahlt werden und nicht mehr entsprechend den Mieten auf einem bestimmten Grundstück, wie es bisher geregelt war. So werden die Bezieher von Wohngeld selbst bei einem abflauenden Markt aus Sanierungsenklaven rausgepreist, weil dort die Mieten über dem Durchschnitt liegen. Das vorherige System dagegen, bei dem das Wohngeld entsprechend der jeweiligen Miete gezahlt worden war, hatte die Klassensäuberung selbst während des Immobilienbooms abgebremst.

Auf der allgemeineren Ebene offenbart sich die institutionelle Erwartung einer langfristigen Massenarbeitslosigkeit wahrscheinlich am deutlichsten bei den beispiellosen Strafmaßnahmen gegen Empfänger von Arbeitslosen- und Krankengeld (VOLLZEITüberwachte Jobsuche; ausdrückliche Vergleiche zur »Jugendstrafe mit Ausbildung« und zur Verurteilung zu »gemeinnütziger Arbeit« in der Strafjustiz), wie sie in der Regierungserklärung der Königin angekündigt wurden, was bedeutet, dass sie irgendwann in den kommenden zwei bis drei Jahren Gesetzeskraft erlangen sollen.

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