Banlieues | |
Stand: 06.03.2006 | [Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt] |
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Derselbe FeindÜberlegungen zu den jüngsten Unruhen in den französischen Vorstädtenvon Nicole Thé aus La Question Sociale No. 3 In der Revolte der jungen Generation der Banlieues ihre ganze Kraft und ihren ganzen Sinn erkennen, bevor man zugibt, dass das polizeiliche Vorgehen, das sich auf die von der Gesellschaft ausgehende Forderung nach Ordnung stützte, genügt hat, um sie zu ersticken. Wissend, dass die sicherheitspolitische und polizeiliche Reaktion für die Macht nur eine Flucht nach vorne darstellt, sich fragen welche Spuren zu verfolgen sind, um die Verknüpfungen der Revolte der Vorstädte mit den Kämpfen der Welt »außerhalb« zu finden. Das ist der Sinn dieses Artikels, gefolgt von einer kurzen kritischen Erwiderung. (Diese Erwiderung haben wir nicht übersetzt. Sie ist hier auf Französisch nachzulesen. Dort befinden sich noch weitere Texte zu dieser Debatte.) Die Brände in den Vorstädte im November haben schon viel Tinte fließen lassen, und dies große Kopfzerbrechen bringt an sich schon die Kraft der Ereignisse und die Neuheit des Phänomens zum Ausdruck. Natürlich gehören die brennenden Autos und die Unruhen nach Übergriffen durch die Polizei seit zwanzig Jahren zum Alltag, aber ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung gibt dem Ganzen eine völlig andere Tragweite und einen anderen Sinn. Wie alle anderen hatten auch wir unsere Phase der Betroffenheit und des Stumpfsinns angesichts der Formen, die diese mehrfach angekündigte Revolte annahm, bei der wir uns aber nicht nur als körperlich Außenstehende sondern auch mental als Fremde wieder fanden; wir, die wir geprägt sind von den Werten und Bezugssystemen, den Methoden der Arbeiterbewegung. Tatsächlich haben wir uns niemals so deutlich als »Erben« gefühlt: Erben eines Wissens, einer Kultur, einer Tradition, die – dieses Ereignis bringt dafür die unverhüllte Bestätigung – ein für alle Mal aus den armen »Vierteln« und aus den mentalen Koordinaten der jungen Generation, die dort aufgewachsen ist, verbannt wurde, obwohl sie vorgibt, das Erbe jener Klasse zu bleiben, der diese Jugend angehört. Eine einzudämmende RevolteAuch wenn wir einen mentalen und sozialen Abstand zu den aufständischen Jugendlichen haben und Unbehagen verspüren angesichts der Aktionen, die a priori so wenig emanzipatorischen oder auch nur fordernden Charakter haben, dürfen wir diese Handlungen nicht verurteilen, wie die große Mehrheit der Linken – klassisch, extrem und sogar ultralinks – es eilig getan hat und – je nach politisch besetzter Nische – die erwarteten Rechtfertigungen vorgebracht hat: »blinde Gewalt«, »fehlendes Klassenbewusstsein« oder »fehlende politische Verankerung in der Klasse«. Denn die Revolte, die sich in diesen Unruhen ausdrückt, ist – in ihrem Ablauf mehr als in ihrer Form – so schreiend offensichtlich, dass niemand, ob rechts oder links, behaupten kann, er nähme sie nicht wahr. Angesichts einer kollektiven Revolte ist nun jede öffentliche Äußerung zur Parteinahme gezwungen. Fangen wir damit an, dass wir in diesen Handlungen eine Revolte erkennen, die auch die unsere ist. Eine Revolte gegen eine Welt, die von den Dynamiken der Ungleichheit verwüstet wird, eine Welt, die jeden Tag über zwischengeschaltete Fernsehbildschirme materielles Glück verspricht, aber für einen wachsenden Teil von Proletariern nur eine Zukunft in diesen schrecklichen Hochhaussiedlungen mit schrecklichen Jobs zu bieten hat. Mit anderen Worten, stellen wir also fest, dass wir mit ihnen zumindest eine existentielle Sache gemeinsam haben: denselben Feind. Anschließend kann man bedauern, dass diese aufständischen Jugendlichen so wenig Worte für ihre Revolte übrig haben, dass sie keine »staatsbürgerlichen« Formen des Protestes kennen, dass sie in dem, was sie tun, sich nicht um die Solidarisierung mit den Angehörigen ihrer Klasse bemühen, nicht einmal mit denen, die ihnen räumlich am nächsten sind. Aber man muss auch die Stimme des »Erben«, die aus uns spricht, erkennen können: desjenigen, der gelernt hat, seine Revolte mit Worten jener zivilisierten Ausdrucksweise zu belegen, die er mit seiner Schulbildung erworben hat, der vor jeder kollektiven Initiative die Kräfteverhältnisse abwägt, der die Idee der Klassensolidarität pflegt, aus Überzeugung oder strategischer Überlegung, immer aber mit Bezug auf eine Erinnerung, die ihm übertragen worden ist. Wie kann man von den Jugendlichen der Hochhaussiedlungen einen Ausdruck von Klassensolidarität verlangen, wo sie auf der Arbeit (wenn sie überhaupt Arbeit haben) nur Prekarität, Feindseligkeit, sogar Rassismus erfahren? Von Jugendlichen die täglich, aus der Sicht der »Außen«welt zurückgeworfen sind auf den Status von Unerwünschten, Versagern, von Menschen, die auf dieser Welt überflüssig sind..? Wie kann man fordern, dass sie die zivilisierte Sprache der politischen Aktion sprechen, wenn diese Sprechweise nicht nur von den Schulen (wenn sie überhaupt zur Schule gehen) verbannt worden ist, sondern auch von den meisten Orten der Sozialisation durch die Arbeit? Eine Revolte, die sich ausdrücken will, drückt sich mit den Mitteln aus, über die sie verfügt. Das Spektakel der Flammen ist so ein Mittel, und auch wenn dieses sicherlich nicht besonders geeignet ist, sie in den Augen der übrigen Gesellschaft zu Politaktivisten zu machen, so ist es doch das, was sie kennen; sie, oder wenigstens einige von ihnen, haben es schon mehr als einmal ausprobiert. Zum ersten Mal haben sie davon in großem Maßstab Gebrauch gemacht, was ihnen zumindest ermöglicht hat, eine kollektive antagonistische Identität zu entdecken; genau dem Prozess entsprechend, in dem Klassenempfinden entsteht und sich im Kampf verfestigt. Es wäre übrigens ungerecht, es bei dieser minimalistischen Feststellung bewenden zu lassen, da diese Unruhen zusammengenommen keine blinde Revolte waren. In der ersten Welle der Brände gab es eine Richtung, es war nicht einfach Spektakel: die Schulen, Fabriken und Läden, die in Flammen aufgegangen sind, waren nicht, jedenfalls nicht alle, zufällig ausgewählt – die Geschichte, das Leben der betroffenen Quartiere macht den Sinn dieser Ziele verstehbar. In der zweiten Phase, in der hauptsächlich Autos in Flammen aufgingen, ging es den Revoltierenden dann um die Ausweitung; ziemlich dumm, wer ihnen übel nimmt, dafür die Medien benutzt zu haben. Das ist in der heutigen Welt das direkteste Mittel auf sich aufmerksam zu machen, viele andere »kämpfende« soziale Gruppen haben das übrigens vor ihnen erfahren. Was die wenigen Taten, die tatsächlich Opfer gefordert haben, angeht: vermeiden wir es wenigstens, die Logik der kollektiven Verantwortung anzuwenden und damit ihre Revolte zu diskreditieren. Erkennen wir lieber an, dass es erstaunlicherweise im Verlauf der dreiwöchigen Unruhen so gut wie keine Aggression gegen Personen und keine Plünderungen gab. Allein dies reicht aus, um zu zeigen, in welchem Maße die Unruhen vor allem versuchten, »Sinn zu machen«. Das ist ihnen gelungen. Es ist verständlich, dass die an den Unruhen Beteiligten, die den Schnellverfahren vorgeladen wurden, die Zuschauer mit ihrer hochmütigen Würde überrascht haben. Sie sind, zumindest in ihren eigenen Augen, etwas anderes als Verdammte oder Opfer: sie sind Kämpfende. Doch die kommenden Jahre könnten uns auch dazu bringen, ihnen eine Art Schuld zu geben: die Schuld, zum ersten Mal seit sehr vielen Jahrzehnten der ganzen Gesellschaft gezeigt zu haben, dass die nackte Revolte ohne Vermittlung, so wenig es ihr auch gelingt aus einer rein lokalen Dimension heraus zu kommen, doch fähig ist, die Machtverhältnisse in Bewegung zu bringen. In weniger als zwei Wochen haben sie die Regierung dazu gebracht, ihre Sparmaßnahmen für die Schulen und Organisationen der Vorstädte zurückzunehmen. Das war zweifellos nicht das Ziel der Beteiligten, und dieser neue Fluss von Subventionen wird (jetzt, wo unter den Organisationen durch finanzielle Erstickung aufgeräumt worden ist) zweifellos vor allem an die Vermittler gehen, die sich der Idee des sozialen Friedens anschließen. Aber trotzdem: durch die Flammen haben sie gezeigt, dass eine Regierung, die Angst hat, ihre selbst aufgestellten Regeln der Unnachgiebigkeit verletzen kann, und das ist etwas, das keine der großen oder kleinen Bewegungen des Widerstands der Lohnabhängigen, eingerahmt von den Gewerkschaften, in den letzten Jahren von sich behaupten kann. Offensichtlich fürchtet die Macht heute die kollektiven Bewegungen überhaupt nicht mehr, deren »Vertreter« sie an den Verhandlungstisch holen kann, wo sie sich den Regeln der »Wirtschaft« beugen. Aber angesichts einer Revolte ohne Sprecher kommt ihre Angst vor der primitiven Klasse zurück. Ist das nicht eine Lehre, die auch anderen sozialen Akteuren gut tun würde? Man könnte den aufrührerischen Jugendlichen sogar dankbar dafür sein, dass sie auf ihre Weise den ideologischen Horizont erweitert haben: indem sie ihrer Revolte kollektiv Ausdruck verliehen haben, haben sie die sozialen Wurzeln der Misere der Vorstädte ans grelle Licht gebracht. Diese Wurzeln zu verdrängen haben sich Rechte wie Linke in den letzten Jahren bemüht – mit dem Ergebnis, dass ethno-religiöse Erklärungsansätze florieren. Wenn letztere nicht sowieso komplett ohne Grundlage sind, haben sie nur die republikanischen Werte verherrlicht, deren Schwäche schon offensichtlich war. So haben sie, da sie sich nicht in eine Perspektive der sozialen Transformation durch den Kampf einfügten, das Vorantreiben der Logik von Ordnung, Sicherheit und Polizeipräsenz begleitet – Logiken, die diese Verdrängung für ihre Vorwärtskommen brauchen 1. Allein die Existenz der Unruhen disqualifiziert hoffentlich für lange Zeit jegliche Appelle an die repressiven »republikanischen« Lösungen, und nimmt den falschen Debatten ihre Substanz. Die Islamisten sind dem Frieden in den Banlieues zur Hilfe geeilt, was endlich klar beweist, dass es ihnen vor allem darum geht, sich als Vermittler des sozialen Friedens in »ihren« Gebieten durchzusetzen – und was dazu führen könnte, sie in den Augen der revoltierenden Jugendlichen viel mehr zu diskreditieren als alle Diskurse zur Verteidigung eines im Sterben liegenden »republikanischen Modells«. Eine Randale zum NiedermachenDen Beitrag der Aufständischen im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind anzuerkennen, bedeutet auch nicht, ihre prinzipielle Grenze zu übersehen: sie stellen für die Macht lediglich ein Problem der öffentlichen Ordnung dar. Ein neuer politischer Akteur ist entstanden, die Angst hat für einen Moment die Seite gewechselt, und die brutale Realität der Polizeimethoden wurde für alle sichtbar, aber das hat die Regierung nicht daran gehindert, die Sache ohne große Schwierigkeiten wieder in die Hand zu nehmen, indem sie auf einem Bedürfnis nach Ordnung gesurft ist, das schnell die Oberhand gewonnen hat, reaktiviert durch alle Dynamiken der Angst. Nicht nur die, relativ rationelle, Angst der Leute, die in der Nähe der Aufständischen leben und objektiv Angst um ihre Autos haben konnten (und die von dieser Bereitschaft profitiert haben, indem sie wieder »soziale Zusammenhänge« hergestellt haben), sondern jene irrationale, offensichtlich unbegründete Angst, welche die Macht und die Medien inzwischen mit routinierter Kunst manipulieren. Die Angst erzeugt das Bedürfnis nach Sicherheit, das Bedürfnis nach Sicherheit legitimiert die Repression. Deshalb wurden die Aufständischen schnell von Revoltierenden zu Delinquenten, und die Regierung konnte problemlos die Situation ausnutzen, in der repressiven Logik einen Schritt weiter zu gehen. Seitdem hat sich die Debatte verschoben: es geht nur noch darum, einen Kompromiss zu finden zwischen der Sorge nach demokratischer Identität und dem Bedürfnis nach Ordnung. Und die wirklichen Ursprünge der sozialen Spannungen, die Wurzeln des Übels, werden in die zweite Reihe geschoben. Die kausale Verkettung zwischen der Ablehnung der Arbeitswelt angesichts der Unternehmeroffensive und den sozio-geographischen Segregationen, welche zu den Explosionen führen, konnte in der kurzen Zeit nicht zum allgemeinen Empfinden werden. Letztlich sind sie erstickt worden. Zumindest für eine bestimmte Zeit. Das Bedürfnis nach Ordnung wurde künstlich geschaffen, doch es ist in seiner Tiefe schwer zu ergründen. Es war ganz bestimmt solide genug, um die gesamte Linke davor abzuschrecken, irgendetwas Ernsthaftes dagegen zu unternehmen – sogar die extreme Linke, die ebenfalls in der Falle sitzt, weil ihre ganze Handlungslogik auf die Wahlen gerichtet ist. Das macht es ihnen auf unbestimmte Zeit unmöglich, einen kohärtenen Kampf gegen den Notstandsstaat zu führen, dessen repressiven Verfügungen doch das ganze soziale Gefüge bedrohen. Deshalb kann die Repression rückhaltlos gegen die Aufständischen vorgehen. Das stört die institutionelle Linke sicherlich nicht, denn sie kann kaum hoffen, aus den Jugendlichen der Banlieues Wähler zu machen, hat sie doch offensichtlich jede Verankerung an diesen Orten der Verbannung verloren hat, selbst dort, wo sie an der Regierung ist. Aber der Chor der Verdammungen hat sich nicht auf die Kommunistische und die Sozialistische Partei beschränkt: wieviel hatten wir denn zu sagen an vorbehaltloser Solidarität mit den Aufständischen? Zu sagen, dass wir ihren sozialen Frieden nicht wollen, dass die Revolte der kids legitim und notwendig ist, weil sie in ihrer spezifischen Form ein Moment der Revolte gegen die etablierte Ordnung ist, ohne die jeder Diskurs über eine andere, mögliche Welt zur puren Spekulation wird? Selbst die Libertären konnten sich nicht alle dem Bedürfnis entziehen, sich vor allen Dingen von »allen Gewalttätigkeiten« abzugrenzen. Und da sich die Regierung ziemlich geschickt darin gezeigt hat, sowohl polizeiliches Fehlverhalten als auch einen unverhältnismäßigen Rückgriff auf Notstandsmaßnahmen zu vermeiden ... konnte der Schrei der Revolte aus den Banlieues am Ende hinter Gefängnismauern erstickt werden. Diese Revolte wird also auch die Gelegenheit für die Macht gewesen sein, einen zusätzlichen Schritt in der polizeilichen Logik zu machen, eine Logik, die noch lange nicht vollständig umgesetzt ist. Sie hat es der Polizei ermöglicht, in großem Maßstab neue Repressionsmethoden auszuprobieren, und die Regierung konnte in einer außergewöhnlichen Situation die Wirksamkeit neuer Gesetze auszuprobieren, die offener denn je zuvor die Justiz als repressiven Arm der Macht benutzen. Aber die Regierung hat auch nicht gezögert, schamlos ein Durcheinander zu veranstalten, indem sie die Einwanderung als Quelle von Delinquenz und Unruhe hinstellte, und gleich im Anschluss daran eine ganze Lawine von restriktiven Maßnahmen gegen das Bleiberecht von Immigranten loszutreten, die zweifellos bereits vorbereitet in der Schublade lagen. Wir müssen aber auch daran denken, dass in der Folge der Aufstände 4402 Jugendliche festgenommen oder in Polizeigewahrsam genommen wurden. 762 wurden inhaftiert, darunter etwa Hundert noch nicht volljährig, 562 eingeknastet und 422 im Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt wurden (Zahlen vom 8.12.2005). Wir müssen dafür kämpfen, sie rauszukriegen, das ist das Mindeste, was wir von unserer Position außerhalb aus tun können. Ohne zu zählen oder die Gründe eines solchen Kampfes zu formulieren kann es uns erlauben, damit anzufangen, unsere Revolte mit der ihren zusammenzubringen. Denn wir müssen dabei helfen, dass diese Revolte von sehr jungen Proletariern auf andere Revolten trifft, die nicht so einfach durch Repression kaputt zu kriegen sind. Flucht nach vorn und FlickenGlücklicherweise kann diese Perspektive nicht ausgeschlossen werden, denn vom Standpunkt des sozialen Friedens stellen sich diese Sicherheits- und Polizeilogiken als Flucht nach vorn heraus. Sie sind lediglich ein Deckel auf einem Kessel, der wegen der wachsenden sozialen Spannungen kocht. Das Kapital zwingt sein Gesetz den ArbeiterInnen in immer brutalerer Weise auf, die Konkurrenz verschärft sich, der Graben zwischen Arm und Reich wird tiefer, die sozialen Klassen trennen sich geografisch immer mehr, und die Regierungen begleiten im Wesentlichen diese Bewegung. Die Dezentralisierung hat die Konkurrenz zwischen den Stadt- und Regionalverwaltungen angeheizt, die nunmehr offen für sich selber kämpfen, losgelöst von jeder Sorge um den sozialen Zusammenhalt außerhalb ihres Territoriums. Vor allem aber eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen, die die Prekarisierung der Arbeit weiter legalisieren und ausweiten, Maßnahmen, die seit zwei Jahrzehnten von der Rechten wie der Linken in bemerkenswerter Kontinuität umgesetzt werden, bedeuten für eine wachsende Masse zunehmende materielle Unsicherheit. Da sie keinen Ausweg im Kampf gegen den kapitalistischen Feind findet, nährt diese Unsicherheit all die Gefühle von Unsicherheit. Nun aber dreht die Maschine hohl bis zu dem Punkt, dass die Angst der Mittelschichten vor ihrer Proletarisierung zweifellos, fast heimlich, zum hauptsächlichen Antrieb für die seit zwanzig Jahren vor sich gehende soziale Segregation geworden ist, deren schlimmste und radikalste Auswirkung zweifellos die schulische Segregation darstellt. Wie kann man diesen Rückgang an Sorge um den sozialen Zusammenhalt bei der herrschenden Klasse verstehen? Hier können viele Gründe angeführt werden, wobei das Verschwinden des »sowjetischen« Feindes nach dem Fall der Mauer zweifellos nicht der unwichtigste ist: der Klassenkompromiss, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet hatte und der es ermöglichte, der Anziehungskraft des rivalisierenden Modells etwas entgegenzusetzen, indem die ungleichen Einkommen umverteilt wurden, scheint für die herrschende Klasse zu einer Zwangsjacke geworden zu sein, von der man sich befreien muss. Kann man sich in diesem Zusammenhang noch über das Scheitern der »Stadtpolitiken« (politiques de ville) wundern, was die Werbefachleute des sozialen Friedens öffentlich eingestehen mussten – auch das ein Verdienst der Aufstände, das wir anerkennen sollten. Kann man glauben, dass Strafmaßnahmen gegen Stadtverwaltungen, welche gegen die Regeln der »notwendigen sozialen Koexistenz« verstoßen (die Sarkozy'sche vorneweg) diesen Prozess der Separierung hemmen könnten? Kann denn die »positive Diskriminierung« etwas anderes sein als armselige Flicken, während das Schiff der »republikanischen Schule« von überallher voll Wasser läuft? Der Rückgriff auf die Repression wird die sozialen Spannungen nicht ausknipsen, das wissen alle sehr genau. Schlimmer noch, er wird die beklagte Ghettoisierung verstärken, indem er die jugendlichen Aufständischen wegsperrt, die zur Zeit das Gefängnis kosten dürfen, in einem Hass, der auf die Repressionskräfte fokussiert und, blind gegenüber dem Arm ist, der diese bewegt. Und, genauso schlimm, ermutigt er den Diskurs der Stigmatisierung der Einwanderer der schwachsinnigen und arroganten Rechten; ein Diskurs, der zu einer fürchterlichen Gefahr werden kann in einem Kontext, wo soziale Schichten, die noch etwas zu verlieren haben, sich zutiefst bedroht fühlen von den schädlichen Auswirkungen der kapitalistischen Globalisierung. Wenn andere Ausbrüche von Revolte auf sich warten lassen, in Formen, die eher zur Vereinigung streben und auch die Welt der Arbeit berühren, dann kann dieser Diskurs sich ausweiten und das Phänomen radikalisieren, dass breite Schichten nach rechts gehen; etwas, das wir seit 20 Jahren beobachten, was aber bisher relativ gezügelt blieb – einerseits durch das, was an Erbschaft aus der Arbeiterbewegung übrig geblieben ist, andererseits durch das Gewicht der Mittelschichten, bei denen die »political correctness« noch für Zusammenhalt sorgt. Die Gefahr des Rechtsdralls der Unterschichten besteht nicht so sehr in der »Faschisierung«, sondern in der regressiven Dynamik, die sie im Rahmen dieser »Demokratie« auslösen könnte; das amerikanische Beispiel zeigt, wie weit so etwas gehen kann. 2 Ein solches Szenario ist nicht zwangsläufig. Es ist nicht gesagt, dass es den Regierungen nicht gelingt, neue Formen des Quartiersmanagements ingang zu setzen, mit denen die Spannungen für eine gewisse Zeit beruhigt werden, vor allem, wenn es der Rechten nicht wieder gelingt, sich bei den nächsten Wahlen mit Taschenspielertricks an der Macht zu halten. Wege in diese Richtung sind schon zu sehen. Die Mediation durch die Vereine [associations] ist (vorübergehend?) rehabilitiert worden – man wird sehen, wie es ihnen gelingt, ihre Rolle in einem radikalisierten Kontext zu spielen. Wenn wir an die Anmaßung Sarkozys denken, die kleinste Parzelle des nationalen Territoriums der staatlichen Polizeikonmtrolle zu unterwerfen, so ist es andererseits auch nicht ausgeschlossen, dass sich die Macht entweder vorzugsweise oder parallel dazu auf die Drogenbosse stützt, eher als auf die Islamisten, denn sie haben im Moment der Aufstände gezeigt, dass sie die wahren Friedensstifter im Ghetto sind. Auf Unternehmerseite, die diesbezüglich die höchste Staatsebene ablöst, scheint sich andererseits die Option »Kampf gegen die Diskriminierungen« abzuzeichnen. Das ist eine geschickte Antwort, denn sie scheint die wachsenden Proteste zur Kenntnis zu nehmen (die sowohl von seiten der Vereine zur Verteidigung demokratischer Rechte, von Polizeibeauftragten für die Arbeitsbeziehungen und den betroffenen Jugendlichen kommen – ein Zusammentreffen, welches die Macht schwerlich ignorieren kann) und weicht geschickt der Frage nach der Art und der Qualität der Arbeit aus, die auf dem kapitalistischen Markt angeboten wird – eine Frage, die die Revolte der Banlieues gleichwohl aufgeworfen hat, zumindest für diejenigen, die sie hören wollen. Sollte sich diese Option bestätigen, dann ist vorstellbar, dass die herrschende Klasse im Begriff ist, eine neue Entscheidung »auf amerikanisch« zu treffen, indem sie dabei hilft, dass sich eine kleine Mittelschicht aus den Banlieues herausbildet, welche die Leute aufsaugt, die am meisten fordern und ihr subversives Potential entschärft, indem sie sie aus dem Milieu herauholt, in dem sie entstanden sind – das selber im Ghetto gefangen bliebe. Auf der Suche nach der Einheit der KämpfeWelche Möglichkeiten haben wir, um zu verhindern, dass der Geist, der in den Revolten in den Vorstädten im November entstanden ist, angesichts der repressiven und integrativen Gegenmaßnahmen erlischt? Zuallererst sollte man vielleicht die falschen Lösungen bekämpfen, die sich bereits abzeichnen. Die »indigénistischen« Mobilisierungen zum Beispiel, die das koloniale Erbe – dessen Realität sicherlich nicht strittig ist – als Ursache aller Diskriminierungen betrachten. Das sie dabei die Frage der Ausbeutung und die Klassenauseinandersetzungen auslassen, laufen sie Gefahr ausgesetzt, Kämpfe auf identitärer Basis zu befördern, die – wenn auch ungewollt – die herrschende Strategie unterstützen, die eigentlich kritisiert werden soll. Mir scheint es wichtiger denn je, alles für die Einheit der unterdrückten Klassen zu tun. Das momentan größte Risiko ist möglicherweise, dass ein Krieg unter den Armen entsteht aus dem Zusammenstoß zweier Logiken: der gewalttätigen Revolte und der Angst. Ein Krieg, der zu nichts anderem führen wird als der Flucht derjenigen, die es sich noch leisten können, und der weiteren Gettoisierung der Zurückbleibenden. Wie lassen sich die Kämpfe der Lohnabhängigen und der Marginalisierten zusammenbringen? Diese Frage, die schon seit langem auf der Tagesordnung steht, ist sehr vordringlich geworden und wird es in Zukunft noch mehr werden, wenn die Auswirkungen der räumlichen Trennung vollends zum Tragen kommen. Vor zehn Jahren hat eine kleine Strömung radikaler Gewerkschafter versucht, auf diese Frage mit der Gründung von »Gemeinsam gegen die Arbeitslosigkeit« und der ersten Arbeitslosendemo eine Antwort zu finden. Dieses Projekt, das nicht frei von Widersprüchen war – für die institutionelle Repräsentation der Arbeitslosen zu kämpfen war dabei nicht der geringste – ist schnell an seine Grenzen gestoßen, bevor es 1997-98 zu wirklichen Kämpfen der Arbeitslosen gekommen ist 3. Dennoch ist es bedauerlich, dass der kurze Atem dieses Projekts bei der gemeinsamen Suche nach Aktionsformen eine Leerstelle hinterlassen hat. Die Zunahme der Prekarität geht (noch?) nicht einher mit einer Zunahme der Kämpfe von Prekären, deren Formen noch zu entwickeln sind. Die Schwäche der militanten Kräfte in den letzten Jahren – Jahre, die vom Rückzug nach großen Niederlagen geprägt waren – bedeutet auch, dass diese Formen nur innerhalb konkreter Kämpfe gefunden werden können. Es geht darum, die möglichen Verbindungen zwischen den vielen kleinen Kämpfen zu finden, die verstreut und isoliert aufflackern. Für diejenigen, die seit Jahren regelmäßig versuchen, in praktischer Solidarität und durch »Propaganda« die Ausweitung und Unterstützung der Kämpfe in den prekarisiertesten Branchen zu organisieren, heißt das, wenn möglich eine Verbindung zu denjenigen herzustellen, die von der Arbeitswelt ausgeschlossen sind. Mit dem Ziel, dass die Arbeitswelt nicht nur als Ort der Entwertung wahrgenommen wird, sondern auch als ein potentieller Ort der Vergesellschaftung und der Solidarität in Kämpfen. Die Kämpfe der »Immigranten«, die aktuell hauptsächlich auf die Frage des Bleiberechts fokussiert sind und unter dem Druck staatlicher Repression stehen, könnten auch ein Moment des Zusammenkommens sein, wenn sie einen Schritt weitergehen und die gesamten gesellschaftlichen Fragen aufwerfen würden, die hinter der Frage der Immigration stehen, und eine Verbindung mit den Arbeitskämpfen eingehen würden. Des weiteren können und müssen wir nach Kampfformen auch woanders suchen, jenseits der Grenzen, vor allem in den Ländern, die jünger sind als das alte Europa, wo die Lohnarbeit eine Ausnahme geblieben ist, die jüngste Geschichte aber reich ist an Volksaufständen großen Ausmaßes 4. Zweifelsohne lässt sich dort einiges darüber lernen, wie die krisengeschüttelte »Grande Nation«, deren herrschende Klasse nicht mehr in der Lage scheint, ihre inneren Widersprüche in den Griff zu bekommen, einen Weg beschreiten könnte, der sie von kollektiven verstreuten Revolten zu einem emanzipatorischen sozialen Wandel führen könnte. Nicole Thé Anmerkungen1 Auffällig ist, dass unter den Dutzenden von Publikationen, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden und die Frage des Islam, des Schleiers und der innerethnischen Konflikte innerhalb der marginalisierten Bevölkerung der Vorstädte behandeln, nur eine zu finden ist, welche den Schwerpunkt auf die soziale Realität in den Vorstädten legt: 80 % au bac et après?, Violences urbaines, violence sociale, pays de malheur! (dt.: 80 Prozent mit Abi und danach? Städtische Gewalt, soziale Gewalt, Orte des Unglücks) von Beaud und Pialoux, welches auch die aktuellen Ereignisse besser nachvollziehbar macht. Sie sind auch die Autoren eines kurzen und erhellenden Textes über die jüngsten Unruhen, La 'racaille' et les 'vraies jeunes'; Critique d'une vision binaire du monde des cités (dt. Das 'Gesindel' und die 'wahren Jugendlichen'; Kritik einer binären Sichtweise der Vorstädte), welcher in Liens socio No.2 erschienen ist (siehe auch www.liens-socio.org) 2 Siehe insbesondere Comment la droite américaine explotait les émeutes von Serge Halimi in Le Monde diplomatique vom Dezember 2005, Seite 20-21. 3 Für mehr Details siehe den Artikel Entre revendication et subversion. Le mouvement des chomeurs en France auf der Website von La Question Sociale. 4 La question sociale hat zwei Artikel veröffentlicht, die einige dieser Kämpfe behandeln: In der Nummer 2 Bolivie: 'guerre du gaz' ou guerre sociale? und in der Nummer 3 La guerre du prix des transports. |
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