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Materialien zur
China-Beilage
in Wildcat #80
Dezember 2007


Chinesische Einwanderung in Frankreich

Henri Simon

(Übersetzt aus dem Französischen: L'immigration chinoise en France. Échanges et Mouvement, #121, Sommer 2007. Englische Übersetzung: Chinese Immigration in France, prol-position news #9,10/2007)

 

Frankreich ist schon seit langem ein Einwanderungsland1 und war der erste Staat, der vor dem Ersten Weltkrieg eine bürokratische Kontrolle seiner Bevölkerung einführte (mit einem Personalausweis)2 und ein Modell der Einwanderungskontrolle definierte, mit dem auf die Rigidität des Arbeitsmarktes reagiert werden konnte.

Die Innenpolitik des französischen Bürgertums stützte sich, besonders nach der Pariser Kommune 1871, auf die Mittelklassen und die Bauernschaft und suchte, zum Zwecke der Eindämmung und als Gegengewicht zu den proletarischen Schichten, den gefährlichen Klassen, die Landflucht zu verhindern und sich eine dauerhafte politische Basis zu schaffen. Diese Politik stand im Gegensatz zur Strategie der USA, die aus der Besiedelung durch EinwanderInnen entstanden war, aber die gegenwärtige Einwanderung der »Latinos« nicht hinnimmt, oder der Großbritanniens, die weit früher mit drastischen Maßnahmen (den »enclosures«) die Bauern zwang, ProletarierInnen zu werden.

Entwicklung und allgemeine Bedeutung der Einwanderung in Frankreich

Das erste Gesetz, das jene Einwanderungspolitik zur Ersetzung der lokalen Arbeitskraft festschrieb, wurde im Jahr 1830 verabschiedet.3

Trotz der bürokratischen Versuche, die Einreise von Ausländern zu lenken und zu kontrollieren, war und ist es schwierig, die verschiedenen Einwanderungswellen einzuschätzen. Eine der wichtigsten Gründe ist, dass es praktisch unmöglich ist, Bevölkerungsbewegungen über die langen Landesgrenzen hinweg zu verhindern. Ob im Tiefland oder in den Bergen, es gibt praktisch keine natürlichen Hindernisse. Das bedeutet, dass wir die Zahlen, die wir hier zitieren können, mit äußerster Vorsicht genießen müssen. Sie sind nichts weiter als ungefähre Schätzungen. Momentan ist es absolut unmöglich, eine genaue Zahl der in Frankreich lebenden »illegalen« EinwanderInnen anzugeben. Dies gilt insbesondere für die chinesische Einwanderung, weil sie in keiner Weise den oben genannten Kriterien einer kontrollierten Immigration entspricht und weil sie die Besonderheit starker familiärer, regionaler und wirtschaftlicher Verbindungen aufweist, die es ihr erlauben, gewöhnliche Schwierigkeiten illegaler Einwanderung zu umgehen.

Wenn wir uns die gesamte Einwanderung (jeglicher Herkunft) in Frankreich im letzten Jahrhundert anschauen, erscheint die chinesische Einwanderung relativ bescheiden, und sie verläuft im Allgemeinen nicht nach demselben Schema wie bei anderen EinwanderInnen. Die gewollte und kontrollierte Einwanderung erlebte zwischen den Weltkriegen einen beispiellosen Aufschwung und diente dem Ausgleich des Arbeitskräftemangels in Landwirtschaft und Industrie in Folge der Bevölkerungsstagnation, die noch durch die enormen Zahlen von Toten und Invaliden des Ersten Weltkriegs verstärkt wurde.

Die Bedeutung jener Einwanderung zeigt sich daran, dass heute ein Viertel der französischen Bevölkerung (fast fünfzehn Millionen) von EinwanderInnen abstammt. Darunter sind etwa eine Million FranzösInnen asiatischer Herkunft, davon zwei Drittel chinesischer. Zum Vergleich, im Jahrhundert vor 1996 sind allein vier Millionen ItalienerInnen eingewandert. Nach offiziellen Schätzungen leben derzeit 450.000 ChinesInnen in Frankreich. Dazu kommen, ebenfalls nach offiziellen Angaben, 50.000 Illegale (tatsächlich sind es mehr als 100.000). Es wird angenommen, dass mindestens 6.000 pro Jahr über die Grenze kommen, die tatsächliche Zahl liegt aber weit darüber (im Jahr 2003 ersuchten 22.000 offiziell um Asyl). Nach Angaben des Europarates hat Frankreich die größte chinesische Einwanderung in Europa, mit insgesamt 200.000 legalen und 600.000 bis 900.000 Illegalen.

Die Vorhut der vorübergehenden EinwanderInnen

Außer während des Ersten Weltkriegs ist die chinesische Einwanderung durch das Aufnahmeland weder gewollt noch als Antwort auf den Bedarf der kapitalistischen Wirtschaft organisiert worden. Die Ankunft von ChinesInnen war vielmehr Folge politischer Ereignisse, die bestimmten, aus welchen Regionen die Leute kamen, wo sie hinwanderten und welchen wirtschaftlichen Aktivitäten sie nachgingen. Wegen ihrer Besonderheiten haben sich die verschiedenen Wellen chinesischer Einwanderung bis vor kurzem nicht vermischt, so wie sie sich auch nicht mit anderen EinwanderInnen und dem Rest der französischen Bevölkerung vermischt haben.

Vor dem Ersten Weltkrieg konnte man die geringe Zahl in Frankreich lebender ChinesInnen kaum als Einwanderung bezeichnen. Ein Zensus von 1911 gab ihre Zahl mit 283 an, in der Mehrheit StudentInnen. Sie waren von Sun Yat-sen nach dem Zusammenbruch des Reiches und der Proklamation der Republik geschickt worden, um im Westen eine »Ausbildung in Demokratie« zu durchlaufen. Obwohl die Monarchie im Jahre 1916 erneut eingeführt wurde, konnte eine »Gesellschaft für französisch-chinesische Erziehung« bis 1921 ihre Aktivitäten fortsetzen und chinesische StudentInnen mit Stipendien nach Frankreich schicken. In der Mehrzahl waren das junge Intellektuelle aus dem bürgerlichen Milieu. In Frankreich wurden sie zu »studentischen ArbeiterInnen«, in Paris oder bestimmten Städten in der Provinz. Vierhundert von ihnen haben mehrere Jahre in Montargis (Département Loiret; etwa 110 Kilometer südlich von Paris) verbracht, wo sie in einer Fabrik für Kautschuk-Produkte arbeiteten.4 Als sie im Jahr 1921 jede finanzielle Unterstützung verloren, sind die meisten nach China zurückgekehrt, aber einige haben sich auch in Frankreich niedergelassen (vielleicht 500).

Es gab aber noch eine andere chinesische Einwanderung nach Europa und Frankreich. Auch wenn sie damals beschränkt blieb, war sie nichts weniger als der Auftakt des wichtigsten Einwanderungsstroms, nämlich aus der Region Wenzhou. Im Jahr 1876 zwangen mehrere Fremdmächte, darunter Frankreich, China einen Vertrag auf, nach dem es fünf Hafenstädte für den internationalen Handel öffnen musste. Wenzhou (etwa 350 Kilometer Luftlinie südlich von Shanghai) war eine davon. Die Geschäftsleute der Region profitierten davon, indem sie 3.000 bis 4.000 Verkäufer nach Europa schickten, um die Steinskulpturen aus Qingtian zu verkaufen, einer Stadt sechzig Kilometer von Wenzhou. Das war der erste Einwanderungspfad nach Frankreich.

Getäuscht und bombardiert

Gekommen waren sie, um bei den Kriegsanstrengungen in Europa teilzunehmen. Aber sie wurden getäuscht und mussten oft unter Bombardierungen hinter der Front »arbeiten«. Diese zweite Gruppe von Vorläufern waren die »Freiwilligen«, die man nicht wirklich als EinwanderInnen bezeichnen kann. Sie kamen vorübergehend, aber sie bildeten in gewisser Weise und ungewollt die Vorhut der ersten Welle chinesischer EinwanderInnen nach Frankreich. Diese chinesischen ArbeiterInnen wurden während des Ersten Weltkrieges rekrutiert, eigentlich gedacht als Arbeitskräfte in Landwirtschaft und Industrie, wo sie die eingezogenen französischen Arbeiter ersetzen sollten. Sie wurden »freiwillig« von der chinesischen Regierung angeworben, nach einem Vertrag, der im Jahr 1916 mit den Regierungen Frankreichs und Großbritanniens geschlossen worden war. Voraussetzung war, dass sie zwischen 25 und 35 Jahre alt und in der Lage sind, harte Arbeit zu verrichten,5 fünf Jahre in Frankreich bleiben, einen Lohn bekommen und kostenlos nach China zurückgebracht werden. 150.000 junge ChinesInnen kamen dann nach Frankreich. In der Mehrzahl wurden ihnen die gefährlichsten Aufgaben zugewiesen, in der Kriegsindustrie für die Produktion von Sprengkörpern, Granaten und Bomben, zur Reparatur von Straßen und Eisenbahnlinien nahe der Front und hinter den Linien für die »Säuberung« der Schlachtfelder von Verletzten, Leichen und Minen. Im Frühjahr 1918 wurden einige von ihnen gar in Kampfhandlungen eingesetzt. Die Streiks und Rebellionen, Zeichen der aufgrund der nicht eingehaltenen Versprechen entstandenen Wut, werden fast vollständig verschwiegen. In Dunkerque gab es bei Konfrontationen zwischen chinesischen Hafenarbeitern und dem Militär einige Tote, in Creusot Zwischenfälle und einen Streik in einer Munitionsfabrik. Die meisten wurden in einer Art Konzentrationslager eingepfercht. Viele wurden getötet, andere starben an Krankheiten, vor allem der Epidemie der Spanischen Grippe am Ende des Krieges.6 Im Jahr 1919 wurden sie nach China rückgeführt, aber manche schafften es, in Frankreich zu bleiben (vielleicht 3.000).

Diese »Überlebenden« der Kriegsanstrengungen haben sich mehrheitlich in Paris niedergelassen, in einem räumlich begrenzten Viertel in der Nähe des Gare de Lyon (von dem aus sie den Zug nach Marseille nehmen sollten, dem Hafen für die Reise nach China). Diese kleine Ecke, die sich »l'Îlot Chalon« (Insel Chalon) nennt, wurde das erste »chinesische Quartier« der Hauptstadt. Auf sie folgten die »richtigen« EinwanderInnen, die hauptsächlich aus der Provinz Zhejiang und besonders aus der Stadt Wenzhou kamen, vermutlich über Familienbande oder Nachbarschaftsverbindungen. Wahrscheinlich sind diese Neuankömmlinge durch eine wirtschaftliche Krise, die jene Gegend in China heimsuchte, zur Emigration getrieben worden. Diejenigen, die in der Folge in Frankreich geblieben sind, waren wie alle Neuankömmlinge in der Mehrheit FabrikarbeiterInnen, und standen damit in einer Linie mit denen, die diese Jobs während des Krieges ausübten.

Die ökonomische Krise der dreißiger Jahre brachte viele Entlassungen mit sich. Die eingewanderten ArbeiterInnen waren die ersten Opfer (jene, die zum »Wiederaufbau Frankreichs« gekommen waren, wurden zügeweise in ihre Heimatländer rückgeführt). Die ChinesInnen fanden wieder neue Mittel des Überlebens und haben auf ihre gewohnten Formen zurückgegriffen, die man heute »kleine Jobs« (petits boulots) nennt. Viele wurden Verkäufer und vertrieben Gebrauchsgüter zu billigen Preisen, oft als Nippes bezeichnete Importware aus Japan.

Ihre Lieferanten waren die jüdischen Großhändler aus dem Marais in Paris (3. Arrondissement). Als die meisten von diesen im Laufe des Zweiten Weltkrieges deportiert wurden, haben ChinesInnen, oft aus eigenen Sachzwängen heraus, die Möglichkeit ergriffen, diejenigen zu ersetzen, mit denen sie Geschäftsverbindungen gehabt hatten (auch unter dem Verdacht, dass sie von der Situation profitiert haben). Damit änderte sich nicht nur ihre soziale Situation, sie haben auch die Îlot Chalon verlassen und sich im Quartier Arts et Métiers (Künste und Handwerke) niedergelassen.

Ihre Aktivitäten verschoben sich ebenfalls in die Produktion und den Groß- und Einzelhandel aller möglichen Arten von Leder- und Plastikteilen. Sie bauten dort eine ganze ökonomische Struktur auf, in der sich kleine Unternehmer ebenso fanden wie Händler, ArbeiterInnen in den kleinen Werkstätten, Handwerker und HeimarbeiterInnen.

Diese Situation dauerte nach dem Ersten Weltkrieg an, trotz des durch die inneren Machtkämpfe in China und die japanische Invasion verursachten Chaos. Wenzhou blieb nämlich aufgrund der internationalen Verträge ein »offener« Hafen. Politische Instabilität und Krieg schienen das Wiederaufleben der Einwanderung aus dieser Region Chinas zu fördern. Die Machtübernahme der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 1949 zog dagegen die totale Schließung der Grenzen und Häfen nach sich, und bis 1978 gab es praktisch keine chinesische Einwanderung mehr. Danach begann sie erneut, allerdings eher aus wirtschaftlichen denn aus politischen Gründen.

Entlang den herausgebildeten starken Familien-, Clan- und Dorfverbindungen gab es einen gleichmäßigen Strom neuer EinwanderInnen aus derselben Region, Zhejiang (Wenzhou), in das Quartier Arts et Métiers und in dieselben Unternehmungen und ökonomischen Strukturen. Aufgrund ihrer Anzahl weiteten sich zum einen ihre Aktivitäten aus, hauptsächlich in der Textilbranche, zum anderen breiteten sie sich nach Norden (Belleville) aus bis zur Rue du Temple und Rue du Faubourg-du-Temple, nach Osten bis zum Boulevard Voltaire, und von den Bahnhöfen Gare de l'Est und Gare du Nord bis in die Vororte (banlieues) von Paris.

Viele Werkstätten (illegal oder legal), in denen die ansässigen ChinesInnen ihre Landsleute ausbeuteten, wurden in diese ruhigeren Vororte verlagert, in denen die Kontrollen der Polizei und des Ordnungsamtes (Arbeitsschutz) nicht so dicht waren. 1974 wurden die sogenannten »wenzhou« auf 20.000 geschätzt. Heute sind es 60.000 bis 100.000 (vielleicht ein Drittel der illegalen EinwanderInnen). Sie stellen die Mehrheit der gesamten derzeitigen chinesischen EinwanderInnen. Wie man auch bei den anderen Communities chinesischer MigrantInnen sehen kann, erhalten die Neuankömmlinge von ihrer eigenen Community Unterstützung – finanzielle, bei der Ankunft und der Ausbeutung von Arbeitskraft – und versuchen auch außerhalb ihrer traditionellen Bereiche zu investieren, in Restaurants (zusammen mit Textilien und Lederwaren werden sie die Sektoren der »Drei Messer« genannt), Lebensmittelgeschäfte, Juwelierläden, Bereiche, in denen sie mit den Mitgliedern anderer Wellen chinesischer Einwanderung in Wettbewerb treten.

Heute ziehen die Einwanderungspfade aus Wenzhou in China selbst Menschen aus den Nachbarprovinzen Zhejiangs an. Diese tragen zu einer Ausdehnung ihres Gebietes in der Region Paris bei. Die Wenzhou stellen nicht nur den größten sondern auch den ärmsten Teil der chinesischen Einwanderung in Frankreich dar. Sie arbeiten im Kreis ihrer eigenen Community in den illegalen Werkstätten, die von Landsleuten geführt werden, die sie oft gnadenlos ausbeuten.

Zuflucht für ChinesInnen aus Südostasien

Die zweite Welle chinesischer Einwanderung unterschied sich deutlich von der ersten. Sie wurden die teochew genannt, Bezug nehmend auf den Chaozhou-Dialekt, einer Region in Guangdong, aus der sie vor langer Zeit stammten. Diese Welle war eine Folgeerscheinung der Dekolonisierung und der Machtübernahme der Kommunistischen Parteien in China und in Vietnam. Die ersten EinwanderInnen kamen etwa um 1955 aus der chinesischen Diaspora ganz Südostasiens, auf der Flucht aus den Ländern, die vom Krieg verwüstet worden waren, oder in Folge der politische und ethnischen Repressionswelle im Zusammenhang mit der weltweiten Politik der Eindämmung des maoistischen Chinas (vor allem in Vietnam, Laos, Kambodscha, aber auch in Hongkong, Taiwan und Thailand).

Zum Teil waren sie keine armen ImmigrantInnen, die ihr Land aus ökonomischen Gründen verließen, sondern sie kamen aufgrund politischer Probleme und der Furcht vor Verfolgung (Ostrazismus) und der Konfiszierung ihres Vermögens. Einige von ihnen hatten Geld und waren schon in ihren Heimatländern in Handelsbeziehungen eingebunden. Es ist schwer zu sagen, ob ihnen, abgesehen von der moralischen und politischen Unterstützung, die sie von den französischen Behörden und der Bevölkerung als Opfer des Krieges und des »Kommunismus« bekamen, die Ansiedlung in einer Weise erleichtert wurde, die andere EinwanderInnen nicht kannten. Fakt ist aber, dass sie sich schnell in einem anderen Teil von Paris festsetzen konnten, im 13. Arrondissement, im Choisy-Dreieck (nach dem Namen der wichtigsten Straße des Viertels) oder neuen chinesischen Quartier.

In den sechziger und siebziger Jahren wurde dieses alte Industrie- und Arbeiterviertel von Paris komplett umstrukturiert. Die Industrien wurden verlagert und, entsprechend den damaligen architektonischen Vorstellungen, Wohntürme gebaut. Dieser Wohnungsbau war ein halber Fehlschlag und die Ankunft der EinwanderInnen ermöglichte der Regierung, die leeren Gebäude aufzufüllen. Die neuen ImmigrantInnen fanden eine Baustruktur, die ihrer sozialen Zusammensetzung entsprach: Einige kauften die Appartments, um dort zu wohnen, andere, die kein Geld hatten, mieteten sie. Geschäfte und Werkstätten konnten sich in den Räumen ansiedeln, die für wirtschaftliche Unternehmungen vorgesehen waren, sei es im Handel oder in der Produktion, sei es für ArbeiterInnen in Werkstätten oder in Heimarbeit.

Die neuen ChinesInnen erreichten Frankreich nicht alle zur gleichen Zeit, sondern im Rhythmus der Ereignisse in Südostasien. Die Ersten kamen noch bevor Frankreich Indochina geräumt hat, 1954 und 1955. Die zweite Welle traf ein, bevor die US-Truppen 1975 Vietnam verließen. Danach kamen diejenigen, die aus ihren Ländern flüchteten, die sogenannten »boat people«, darunter einige, die dem von der Kommunistischen Partei beherrschten China entflohen. Diese Population war sozial heterogen. Einige waren in die Handelsaktivitäten mit ihren Herkunftsländern verwickelt und haben sich die Beziehungen erhalten, die sie für ihre Ansiedlung in Frankreich einsetzen konnten. Einige hatten Geld (eher die ersten Ankömmlinge) und den Unternehmergeist, die Geschäftserfahrungen und die wirtschaftliche Verbindungen, ein großer Teil der anderen, vor allem die zuletzt Gekommenen, waren mittellose ArbeiterInnen, die gezwungen waren, sich zu acht oder zehnt in eine kleine Wohnung zu zwängen und unter härtesten Bedingungen ausbeuten zu lassen.

Aufgrund dieser räumlichen Konzentration einer sozial strukturierten Bevölkerung wurde dieser Teil zu einer wahren Stadt in der Stadt, mit allen für diese chinesische Community lebenswichtigen Einrichtungen. Sie zog die ChinesInnen der anderen Quartiere von Paris (und die neuen EinwanderInnen) ebenso an, wie die französische Bevölkerung, die auf der Suche nach »Exotik« war. Die ChinesInnen und Nicht-ChinesInnen konnten in diesem Viertel alles für ein Leben als ChinesIn im Ausland Notwendige finden – Geschäfte mit traditionellen Lebensmitteln, aber auch Banken, Ärzte, Rechtsanwälte, Reisebüros und Zeitungen, alles an China ausgerichtet. Es gibt sogar chinesische Supermärkte und die chinesische Mafia. Auf diesem Hintergrund lieferten die traditionellen Werkstätten mit ihren extremen Ausbeutungsbedingungen nicht nur alles, was für den lokalen chinesischen Handel notwendig war, sondern auch alles für die anderen chinesischen Sektoren der Hauptstadt, die besonders in der Textilindustrie aktiv waren.

Das »Choisy-Dreieck« dehnte sich auch in die angrenzenden Vororte von Choisy, Ivry und Vitry (südöstlich von Paris) aus und nahm zum Teil die neue Welle von EinwanderInnen auf, weil diese, wie die erste, sozial stark untergliedert war. Natürlich haben die meisten Neuankömmlinge die härteste Ausbeutung erfahren, denn in der Mehrzahl hatten sie nichts, als sie ankamen, und viele waren hoch verschuldet. Diese starke Strukturierung und soziale Hierarchie, die zur Not auch mit Gewalt durchgesetzt wurde, zeigt sich daran, dass die französischen Behörden wesentlich seltener eingriffen (zum Beispiel bei der Jagd nach chinesischen Illegalen), als in anderen Sektoren. Sie verließen sich auf die Aufrechterhaltung einer Kontrolle und eines sozialen Friedens durch eine ad hoc-Organisation, die von der chinesischen Community selbst aufgebaut worden war.

Die dritte Welle gleicht eher denen anderer EinwanderInnen aus allen Teilen der Welt

Im Gegensatz zu den beiden ersten chinesischen Einwanderungswellen war die dritte anfangs nicht sozial strukturiert. Vielmehr war sie heterogener, und diese EinwanderInnen mussten oft sehen, wie sie sich in die schon existierenden Communities einfügen und wurden dabei diskriminiert. Ein Großteil der dritten Einwanderung kam aus anderen geographischen Gegenden und einem anderen sozialen Hintergrund. Im Grunde kamen sie nicht, um ihr Glück zu suchen, oder aus politischen Gründen, sondern weil sie durch ihre prekäre Lage dazu gedrängt wurden, eine Folge der drastischen Umstrukturierungen und Privatisierungen der staatlichen Industriesektoren. Die meisten kamen aus dem Norden Chinas – daher ihre Bezeichung als dongbei (Nordosten auf Chinesisch, umfasst Provinzen wie Liaoning und Jilin, also Teile der alten Mandschurei und alte Industriezonen der Schwerindustrie). Sie waren gebildeter als die Bauern-Handwerker aus Zhejiang und hatten in den abgewickelten Sektoren oft verantwortungsvolle Posten inne (TechnikerInnen, Angestellte, VorarbeiterInnen...).

Wie erwähnt nahm die Zahl der EinwanderInnen aus anderen Teilen Chinas aus den gleichen Gründen weiter zu, wodurch sich die chinesischen Immigration weiter diversifizierte, mit einer Dominanz der wenzhou.

Räumlich gesehen kann man die dritte Einwanderungswelle in Paris in allen vorher von ChinesInnen bewohnten Gegenden gleichermaßen finden. Aber ein großer Teil hat sich schließlich um Belleville oder in den nördlichen Vororten von Paris eingefunden, wo sie im Wettbewerb mit den wenzhou stehen.

Diese in Frankreich ankommenden EinwanderInnen müssen, selbst wenn sie finanzielle Mittel mitbringen konnten, zum eigenen Überleben Arbeiten abseits ihrer vorherigen Qualifikationen übernehmen (einige Frauen sehen sich sogar gezwungen, in die Prostitution zu gehen). Vielleicht weil sie nicht wie die anderen ChinesInnen Familien- oder Klanstrukturen haben, sind sie leichte Beute für die Ausbeuter in den Werkstätten der anderen chinesischen Communities.

Seit Anfang der achtziger Jahre sind immer mehr gekommen, aber ihre Zahl (die schwer zu bestimmen ist) hat in der letzten Zeit deutlich zugenommen. Da sie nicht von ihrer eigenen Community »geschützt« werden, geht die Polizei bei der Suche nach illegalen EinwanderInnen härter gegen sie vor. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die polizeilichen Eingriffe kaum im Choisy-Dreieck stattfinden. Der Belleville-Distrikt dagegen erlebt eine ständige »Jagd auf ChinesInnen«.

Mehr als die vorherigen chinesischen EinwanderInnen sind die neuen somit gezwungen, ArbeiterInnen bei denen zu werden, die es irgendwie verstanden hatten, sich in der französischen Wirtschaft einen Platz als Unternehmer zu ergattern. Diese schafften es, ihre Geschäftsverbindungen einzusetzen, die sie in Frankreich aufgebaut oder in China oder Südostasien erhalten hatten. Der Aufschwung der traditionellen Unternehmungen und das Wachstum der Communities, Familien und Klans hatten zur Folge, dass die Handelsaktivitäten jene Bereiche verlassen haben, auf die sie sich bis dahin beschränkt hatten. Das konnte man in jüngster Zeit beobachten. Sie setzten sich insbesondere in Sektoren fest, die harte und stete Arbeit, fast ohne Beschränkung der Arbeitszeit, erforderlich machen und wegen ihrer geringen Rentabilität von den FranzösInnen verlassen wurden: Café-Tabak-Läden, Restaurants, Import und Export von Textilien in Verbindung mit den sweatshops, die gezwungen waren, sich der Konkurrenz aus China selbst zu stellen.

Diese Ausdehnung konnte geschehen, weil chinesische Interessenten über chinesische Finanzierungssysteme7 Kredite bekommen können, und weil sie unter den neuen EinwanderInnen welche finden (Zeichen des Funktionierens der illegalen Routen), die gezwungen sind, hart und unter jeglichen Bedingungen zu arbeiten – zum Überleben unter äußerst prekären Bedingungen und um die Schulden zurückzuzahlen, deren Gefangene sie für Jahre bleiben. Das garantiert die Rentabilität ihrer Unternehmungen. Da diese Expansion außerhalb der traditionellen Bereiche passierte, finden die Zunahme der Einwanderung und der Unternehmensgründungen in den Vororten des Nordens und Nordostens von Paris (Aubervilliers, La Courneuve) statt, also außerhalb von Paris, wo die Mieten niedriger sind und wo die Aufstände im November 2005 und die ständige Unsicherheit einen Teil der Geschäfte und BewohnerInnen zur Flucht veranlasst hat. Wieder einmal füllen die ChinesInnen die Leere dort, wo die Lebensbedingungen am härtesten sind, aber es ist schwer zu sagen, wie die Neuankömmlinge in diesen Türmen von Babel aufgenommen wurden. Es ist eine räumlich begrenzte aber konstante Region wo diese Ausdehnung auf allen Feldern sichtbar ist, auch anhand der chinesischen Restaurants, die man dort sogar in den Kleinstädten finden kann und die einen Teil der neuen EinwanderInnen beschäftigen können.

Eine Untersuchung wollte herausfinden, was die ChinesInnen in der letzten Zeit zur Einwanderung veranlasst hat, und dabei ergaben sich drei Kategorien:

tao zhai: den Schulden entkommen

tao hun: nach einer Scheidung ausgewandert

tao jin: Gold schürfen, also woanders sein Glück suchen

Wie überall auf der Welt umfasst die »Rekrutierung« von KandidatInnen für die Einwanderung eine ganze Reihe von Möglichkeiten, abgesehen von den »freiwilligen EinwanderInnen« (tatsächlich werden sie von persönlichen oder sozialen Problemen dazu gedrängt). Manche werden von den Trugbildern angelockt, die sich aus den Rückmeldungen von EinwanderInnen ergeben, die schon in Frankreich sind (eine bekannte Haltung persönlichen Stolzes), andere durch die honigsüßen Visionen der Anwerbeagenten der sehr einträglichen Einwanderungsnetzwerke (das läuft über persönliche Kontakte oder Annoncen in Lokalzeitungen). Die Täuschung für solche Sirenen empfänglicher Leute ist aber nicht der einzige Weg: es gibt auch Drohungen, Erpressungen und Entführungen. In dieser Beziehung steht China den auf den weltweiten illegalen Routen tätigen internationalen Schleuserringen für Sklaven für die »fortschrittlichen Länder« in nichts nach.

Was auch immer ihre Hoffnungen und Zwänge sind, die Wege ins gelobte Land sind mehr oder weniger dieselben. Die Glücklichsten kommen direkt mit dem Flugzeug, weil sie ein Touristen-Visum für Frankreich oder ein angrenzendes Land haben (oder kaufen konnten) und eventuell noch gespartes Geld, um die unvermeidbaren Schwierigkeiten der »Ansiedlung« abfedern zu können. Die Mehrheit muss auf die Wege illegaler Immigration zurückgreifen, auf die wir hier eingehen. Im Norden von China sind es eher Reisebüros und Netzwerke, deren Routen sich mit den entlang der Route auftauchenden Problemen ändern. Sie sorgen gegen Geld oder Schulden, die in China oder Frankreich zurückgezahlt werden müssen, für alles Notwendige, Papiere, Transportmittel, Menschenschmuggler. (Die französische Polizei hat 1998 achtzehn dieser Netzwerke für die Einschleusung illegaler ChinesInnen aufgedeckt.) Die aus Zentralchina sammeln sich eher um die Familien und Klans. Für alle ist die Reise nach Frankreich eine wirkliche Prüfung mit Gefahren und Unsicherheiten. Niemand weiß vorher, durch welche Länder die Reise geht (momentan sieht es so aus, als führe die Strecke durch Afrika), wie viel Zeit sie in Anspruch nehmen wird (möglicherweise mehrere Monate) oder ob das Ziel jemals erreicht werden wird. Sie können auf dem Weg unter schlimmsten Bedingungen eingesperrt werden, erpresst,8 geschlagen, ausgehungert oder vergewaltigt werden... Die sans papiers (EinwanderInnen ohne Papiere), die nur zu ihren LeidensgenossInnen Kontakt haben, die Sprache der durchfahrenen Länder nicht kennen und sich denen beugen müssen, die das Sagen haben, sind die ganze Zeit in einer äußerst verwundbaren Position.

Die Arbeit in den illegalen Werkstätten

Wie andere EinwanderInnen auch müssen die ChinesInnen drei Wege beschreiten, um ans Ziel zu kommen. Man kann sie gemäß ihrer Gefährlichkeit einteilen:

— Der direkte Weg, mit einem Touristenvisa oder einem Geschäftsvisa (echt oder gefälscht), der einfachste Weg, aber auch der kostspieligste.

— Der »Fallschirm«-Weg, bei dem man mit einem echten oder falschen Pass und einem Visum mit falschem Ziel in irgendein Schengen-Land kommt und von da ins Zielland weiterfährt.

— Der »pa shan«-Weg (Bergsteigen), über Land mit allen denkbaren Transportmitteln und den Schleusern ausgeliefert, welche die Route bestimmen.

Die Mehrheit dieser EinwanderInnen erreicht Frankreich mit einer schweren finanziellen Bürde. Wenn sie Geld geliehen oder nur einen Teil der »Reise« bezahlt haben, müssen sie, oft bedroht mit physischen Sanktionen gegen sie oder ihre in China gebliebenen Familien, mit ihrer Arbeit die Schulden zurückzahlen. Ihnen wird nur manchmal Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung gestellt (oft nicht mal auf Mindestniveau). Es wurden zahlreiche Fälle aufgedeckt, oft eher aus Zufall, denn bei Beschwerden und Flucht sind sie anderen Gewalttätigkeiten und Abschiebung ausgesetzt. Dabei wurden chinesische EinwanderInnen in illegalen Werkstätten als Schuldner-Gefangene gehalten (manchmal in Ketten), wo sie jahrelang arbeiten mussten und ihren »Arbeitgebern« auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Schweigen ist Gesetz und wer dagegen verstößt, wird brutal bestraft.

Die Reise endet also oft mit mehr oder weniger lange andauernder Zwangsarbeit. Aber sie müssen nicht nur die Schulden zurückzahlen. Auch wenn sie von dieser Sklaverei befreit sind, müssen sie um die Mauern ziehen, um nicht von der Polizei aufgegriffen zu werden, denn sie sind sans papiers und die Umstände ihrer Ankunft ermöglichen ihnen in keiner Weise, einen regulären Status zu erreichen. Hier sind nur zwei Beispiele unter vielen, denn die Opfer berichten nur selten:

— »... im April 1999 fand ein Team der GIR9 in einem baufälligen Gebäudekomplex in Seine-Saint-Denis sieben illegale Werkstätten. Tagsüber beschäftigten diese »reguläre« ArbeiterInnen, die vorschriftsmäßig gemeldet waren. Nachts liefen die Maschinen mit illegalen EinwanderInnen weiter, von denen einige gezwungen wurden, 105 Stunden pro Woche zu arbeiten...«10

— »... Seit seiner Ankunft in Paris suchte Herr Go Arbeit. Eine Textilwerkstatt stellte ihn ein. Weil er nichts von der Arbeit verstand, bekam er an Ort und Stelle eine einmonatige »Einweisung«, für die er keinen Lohn erhielt. Im zweiten Monat betrug sein Lohn 460 Euro, und er musste manchmal von acht Uhr morgens bis drei Uhr in der folgenden Nacht arbeiten. Drei Leute waren sie, die unter diesen Bedingungen arbeiteten, und es war ihnen verboten rauszugehen. Jedes Mal wenn der Chef abwesend war, wurden sie eingesperrt. Oft hatte Herr Go Nasenbluten. In dreiundzwanzig Tagen war es ihm nur einmal erlaubt, seine Familie anzurufen. Angewidert von dieser Situation, hat er die Arbeit gekündigt. Es gelang ihm, einen anderen Arbeitgeber zu finden, der ihn nur für sechs Monate einstellen und seinen Pass einziehen wollte. Er lehnte ab und fand einen andere Anstellung in einem Restaurant, wo er den Abwasch machte. Er arbeitete sechs Tage die Woche für 300 Euro im Monat und konnte im Restaurant essen und schlafen. Seine Hände sind vollkommen ruiniert und er hat noch 9.000 Euro Schulden für seine ›Überfahrt‹ ...«.11

Man kann unmöglich alle Arbeitsbedingungen dieser von anderen ChinesInnen (oft ist es eine Frage der Sprache) ausgebeuteten EinwanderInnen beschreiben. Sie haben lange Arbeitszeiten, manchmal sieben Tage die Woche, leben unter extrem prekären Bedingungen in schmutzigen Behausungen, verdienen nicht genug für sich und ihre Familie und um sich satt zu essen, und sie sind gezwungen, häufig die Arbeitsstelle und von einer dreckigen Unterkunft in die nächste zu wechseln. Sie müssen nicht nur oft in den illegalen Werkstätten arbeiten, sondern auch noch Heimarbeit annehmen.12

In letzter Zeit sahen sich die chinesischen Textilunternehmer in Frankreich der Konkurrenz aus China selbst gegenüber. Da eine wichtige Basis des chinesischen Textilhandels der Import-Export über Familienbande, Klan- und Geschäftsbeziehungen ist, mussten sich viele illegale Werkstätten wandeln, um nicht bloße Anhängseln des globalen Handels zu sein. Das brauchte auch eine weitere Verschärfung (wenn sie möglich war) der existierenden Arbeitsbedingungen mit sich (vor allem lange Arbeitszeiten in den kurzen Perioden der Geschäftigkeit: die Bestellungen müssen schnell erledigt werden, um keine Unterbrechungen des Handelszyklus zuzulassen), sowie die Ausdehnung der Stückarbeit zu Hause. Dies zeigt das Ausmaß nicht nur der Beschwernis der Arbeit, sondern auch seiner Prekarität. Natürlich brachten diese abstoßenden Bedingungen den schwächsten EinwanderInnen alle möglichen Krankheiten, von den zahlreichen Unfällen gar nicht zu reden. Wenn sie bei den schlimmsten Krankheiten ins Krankenhaus gehen sollten, müssen sie eine Notlösung finden, sonst werden sie meistens unverzüglich gefeuert.

Die ChinesInnen finden nur in den Sektoren Arbeit, in denen chinesische Unternehmer aktiv sind. Diese Situation zwingt die ChinesInnen, in den räumlich begrenzten Bereichen zu wohnen, wie Gefangene in der Stadt oder nahen Vororten, zumal jeder Ausbruch aus dem Lebens- und Arbeitsbereich das enorme Risiko einer Polizeikontrolle mit sich bringt. Diese Sektoren wirtschaftlicher Aktivität sind die Bekleidungsindustrie, Restaurants und Fast-Food-Sektor, die Hausangestelltenarbeit und der Bau.

Historisch stand diese Konzentration auf einige wirtschaftliche Bereiche bei allen EinwanderInnen in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt, der sozialen Spaltung und bürokratischen Barrieren. Für die legalen und illegalen EinwanderInnen, wo auch immer sie herkamen, war diese Auswahl eng von den ökonomischen Möglichkeiten und dem Verbot, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, bestimmt – offiziell oder als Ergebnis rassistischer Diskriminierung. In der Konsequenz konnten die chinesischen EinwanderInnen, wie die anderen auch, selbst wenn sie im Heimatland richtige Qualifikationen erworben hatten, diese nicht nutzen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Mit der Zunahme polizeilicher Kontrollen und der Jagd auf illegale EinwanderInnen konnte einerseits die Zahl der EinwanderInnen gesenkt werden, andererseits hat es den chinesischen Unternehmern erlaubt, daraus Profit zu schlagen und noch härtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne durchzusetzen. Die »Ausgebeuteten« finden sich in einer noch schwächeren Position wieder.

Dieses Problem wird durch die Frage der Sprache noch weiter verschärft. Die EinwanderInnen aus Zhejiang sprechen kaum etwas anderes als ihren lokalen Dialekt. Diejenigen, die aus Südostasien kommen, sprechen in der Regel Kantonesisch und die aus dem Norden Chinas sprechen Mandarin-Chinesisch. Manchmal kann man sogar kleine Sprachcommunities finden, wie die Geschäftsinhaber aus der Provinz Fujian, aus der Nähe der Stadt Xiamen in Südchina, die den lokalen Dialekt sprechen: das Chaozhou.

Das soziale Leben und der Widerstand gegen Diskriminierung und Ausbeutung

Diese Frage der Sprache bestimmt auch das ganze soziale Leben der EinwanderInnen, das durch die Arbeits- und Lebensbedingungen und den Geldmangel eingeschränkt wird. Die erste und zweite Welle der Einwanderung haben natürlich seit langem starke Strukturen, die sich um die traditionellen Organisationen entwickelten: Vereinigungen, Kirchen, Rituale, Feiern, Schulen... Dieses soziale Leben erlaubte das Spannen solidarischer Kontakte und Verbindungen, aber es ist schwierig, ihre Funktionsweise, Dimension und die Folgen für den Widerstand gegen die Ausbeutung in der Arbeit und gegen die allgegenwärtige Repression des »Aufnahmelandes« abzuschätzen.

Wichtiger ist die Bildung von Kollektiven chinesischer EinwanderInnen ohne Papiere, welche die am meisten Ausgebeuteten zusammenbrachten, damit sie der Irregularität entkommen, die sie in einer Situation der ökonomischen Unterwerfung hält. Gegründet für dieses eine Ziel konnten sich diese Kollektive zu solidarischen Gruppen erweitern, die zum Beispiel Französisch-Unterricht organisieren. Diese Aktionen markieren erste und wichtige Schritte, um »ArbeiterInnen wie die anderen« zu werden und der totalen Unterwerfung zu entkommen, die ihre Ausbeutungssituation bestimmt. In diesem Sinne erscheint das als Beginn des Klassenkampfs

Sie mischen sich aber nicht mit EinwanderInnen anderer Herkunft. Sogar während der Demonstrationen zur Unterstützung der sans papiers blieben sie unter sich. Ihre Isolation im Vergleich zu anderen EinwanderInnen und ArbeiterInnen im Allgemeinen markiert die Grenzen dieser Form der Klassensolidarität. Sie bleiben verbunden mit ihrem besonderen Milieu, das ihnen alle Mittel liefert, um in Frankreich zu überleben.

Die zweite Generation sieht sich eingezwängt zwischen den Bräuchen des Aufnahmelandes und dem kulturellen Erbe ihrer Eltern, was durch den Zusammenhalt der verschiedenen chinesischen Communities noch verstärkt wird. Der Druck des eingeforderten Zöglingsgehorsam im Rahmen des Familienklans wird durch die Notwendigkeiten des Überlebenskampfes, die finanziellen Hilfestellungen und die Ausbeutung in der Arbeit noch verstärkt. Die Migration erscheint als familiäres und finanzielles Unternehmen, in dem jeder und jede mitziehen muss.

In diesem Rahmen wird der Besuch der öffentlichen Schulen weniger als Mittel zur Integration in die französische Gesellschaft gesehen, sondern vielmehr als Mittel zur Unterstützung der Familie bei ihrer Ansiedlung und ihren beruflichen Aktivitäten. Die Kinder müssen sich am Ende der Schulpflicht, was für einen Erfolg sie auch immer in der Schule haben, in die familiären Unternehmen einordnen.

In letzter Zeit gab es trotz allem in bestimmten Situationen Formen der Solidarität von FranzösInnen, die spontan eingriffen, um Aktionen der Behörden bei der Anwendung der Gesetze gegen illegale Einwanderung zu verhindern. Kinder illegaler EinwanderInnen dürfen in Frankreich zur Schule gehen und können, solange sie SchülerInnen sind und anders als ihre Eltern, nicht abgeschoben werden. Spontan wurde von französischen Eltern um Schulen herum ein Netzwerk Bildung ohne Grenzen (Réseau éducation sans frontières, RESF) gegründet, das sich gegen die Verhaftungen von Eltern wandte, die ihre Kinder von der Schule abholten. Das Netzwerk tritt für die Einbürgerung der SchülerInnen ein und wendet sich gegen die Polizeiaktionen. Dabei gab es auch gewaltsame Zusammenstöße. Die Jagd der Polizei trifft aber meistens die chinesischen EinwanderInnen, und sie sind es, die am meisten Widerstand leisten. Es gab aber auch andere Fälle, in denen sich die Bevölkerung einer ganzen Gemeinde gegen die Ausweisung illegaler EinwanderInnen wehrte, die seit Jahren in Frankreich lebten und arbeiteten.

Auch wenn dies sich schnell in ganz Frankreich ausbreitete, bei all dem können wir nicht von Klassensolidarität sprechen, weil es sich eher um humanitäre Aktionen handelt, die alle sozialen Schichten angehen. Dabei betrifft dies nicht nur die chinesischen sans papiers, sondern alle EinwanderInnen. Diese aktive Öffnung eines Teils der Bevölkerung kann sie nur in ihrem eigenen Kampf als ausgebeutete ArbeiterInnen bestärken.

 

Fußnoten:

[1] Anders als manche meinen ist schon seit 1830 versucht worden, das Ausmaß der Einwanderung durch Erhebungen zu erfassen. Eine davon stellte für 1843 offiziell fest, dass von 380.000 EinwanderInnen 180.000 Deutsche waren, und 1851 gab es 380.000 EinwanderInnen und 250.000 Grenzüberschreitungen. Im Jahr 1901 führte die Anwesenheit von 400.000 ItalienerInnen vor allem im Süden Frankreichs bei jeder ökonomischen Krise zu manchmal gewalttätigen Konflikten mit den Einheimischen. Im Jahr 1911 wurden 1.232.000 EinwanderInnen gezählt.

[2] Mit einem Gesetz vom 8. August 1893 wurde die »Registrierung wandernder Berufe« eingeführt mit der Verpflichtung, sich während der Durchreise in einer Gemeinde anzumelden. In Anwendung dieses Gesetzes wurden bei einem Zensus von 1895 400.000 »Vagabunden« und 250.000 »in Banden Umherziehende« gezählt. Ein Gesetz schrieb am 16. Juli 1912 einen erkennungsdienstlichen Ausweis (carnet anthropométrique) für »Normaden, Vagabunden und Fremden« vor, die als »möglicherweise gefährliches Volk« bezeichnet wurden. Diese Gesetz ist nur einmal im Jahr 1969 geändert worden.

[3] Im Jahr 1880 wurden protektionistische Dekrete erlassen, die eine Abbremsung der Landflucht zum Ziel hatten, um so die Basis der bürgerlichen Herrschaft zu festigen und die Einführung einer kontrollierten Einwanderung sicherzustellen.

[4] Einige dieser »studentischen ArbeiterInnen« sind später zu Berühmtheit gelangt. In Montargis finden sich heute noch Spuren des jahrelangen Aufenthalts von Zhou Enlai, Li Fuchun, Chen Yi, Ba Jin, Deng Xiaoping, Cai Hesen und Xiang Jinyu, die dort mit Ho Chi Minh und Pol Pot zusammentreffen konnten. Die kleine Stadt ist eine Pilgerstätte für chinesische TouristInnen in Frankreich geworden.

[5] Es wurde festgelegt, dass es sich um »Personen aus dem Norden handeln muss, die weder unter der Kälte in Frankreich noch extremer Hitze leiden«. Aber eine Gegen-Propaganda (manche sagen, sie sei von der deutschen Konzession ausgegangen) sorgte dafür, dass die vorgesehene Quote bei weitem nicht erreicht wurde. Die Anwerbung wurde dann auf ganz China ausgeweitet, darunter auf Wenzhou, wo schon Verbindungen existierten.

[6] Viele dieser »Freiwilligen« wurden auf einem Sonderfriedhof in der kleinen Stadt Noyelles-sur-Mer (an der Mündung der Somme) begraben, heute eine Ziel chinesischer TouristInnen. Ein in China ausgebildeter Missionar wurde als Übersetzer im Lager der »chinesischen ArbeiterInnen« beschäftigt. Er hat erzählt, dass die Lager so nah an der Front lagen, dass die Bomben regelmäßig dort einschlugen, was zu Toten und Verletzten führte (zitiert in »Chinois de France«, Hommes et Migrations n° 1254, März-April, S. 10).

[7] Die Finanzierung aller Arten von Unternehmungen werden den chinesischen EinwanderInnen von einem chinesischen System zur Verfügung gestellt, dass sich tontine (Bürgschaftskasse) nennt, eine Form Versicherungsverein, der inoffiziell und außerhalb des Banksystems läuft und auf der Zirkulation von Bargeld, Darlehen und Geldversprechen basiert, die nicht schriftlich festgehalten werden und letztendlich den Einsatz von Gewalt notwendig machen, wenn den Verpflichtungen nicht nachgekommen wird.

[8] Die EinwanderInnen können bis zu 12.000 Euro zahlen, und mehr noch, wenn die »Reise« lange dauert oder auf dem Weg Probleme auftauchen. Für eine ganze Familie kann die Summe 60.000 Euro erreichen. Es gibt alle möglichen Formen der Bezahlung. Oft wird vor der Reise die Hälfte bezahlt, der Rest bei der Ankunft von der Familie in China oder durch die Arbeit in Frankreich. Komplizierter wird es wenn ein Darlehen aufgenommen wird, um die Reise zu finanzieren, oder wenn die Zahlung der Restschuld ausbleibt. Oft führt das zu jahrelanger Zwangsarbeit.

[9] GIR, Groupe d'intervention régional (Regionale Eingreifgruppe), ein Spezialteam von Polizisten, Steuerfahndern, Zöllnern und Arbeitsschutz-Inspekteuren, alle in der Lage, in ihrem Bereich administrativer Gewalt mögliche Verstöße aufzudecken.

[10] Business Week, 27. November 2000, http://www.businessweek.com/2000/00_48/b3709036.htm.

[11] Le trafic et l'exploitation des immigrants chinois en France, Gao Yun et Véronique Poisson, BIT 2005.

[12] Die genaue Lohnhöhe der eingewanderten ArbeiterInnen ist schwerlich festzustellen, ebenso die Stücklohnrate bei der Heimarbeit, denn ihre prekäre Lage zwingt sie, die Bedingungen ihres Chefs zu »akzeptieren«. Der Lohn kann zwischen monatlich 300 und 600 Euro für einen zwölfstündigen Arbeitstag und eine Sechstagewoche variieren (dabei handelt es sich sicher um einen Nettolohn, da diese Schwarzarbeit weder Sozial- noch Krankenversicherung beinhaltet). Bei der Stückarbeit kann es sich um Textilarbeiten aber auch die Zubereitung von Produkten für Restaurants handeln (zum Beispiel Ravioli). Um ein minimales Einkommen wie bei einer »festen« Anstellung in einer Werkstatt zu erreichen, müssen die EinwanderInnen mit »Stückarbeit« oft jeden Tag von früh morgens bis Mitternacht arbeiten.

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