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29.06.2021

aus: Wildcat 108, Sommer 2021

Editorial

Lange Wege

Kurz bevor wir mit der Wildcat 107 in Druck gingen, stellte sich im Suezkanal die Ever Given quer. Sie hatte 18 000 Container mit Fracht im Wert von 3,5 Mrd. Dollar an Bord und blockierte mehr als 300 weitere Schiffe. Mitte Juni, als wir mit der 108 in Druck gehen, ist die Lage wesentlich dramatischer: »Ein Megastau lähmt den Welthandel«.

Vor acht Jahren hatten wir in der Wildcat 94 versucht, den historischen Zusammenhang von Kapitalismus und Verkehr herauszuarbeiten; den ersten globalen Stau sahen wir als Marker für das Ende eines Gesellschaftssystems:

»Die immer weitere Ausdehnung der globalen Transportketten stößt … an geographische Grenzen … Neue Strecken sind oft flächenmäßig nicht mehr machbar. Ein noch größeres Problem ist aber die abnehmende Effizienz und Anfälligkeit der bereits vorhandenen Verkehrsinfrastruktur (zunehmende Naturkatastrophen, steigende Energiepreise, veraltete Infrastruktur, Unwucht im Welthandel…) … hinter der abnehmenden Effizienz der Transportsysteme (steckt) eine Arbeiterwidersetzlichkeit. Der dagegen laufende technologische Angriff geht teilweise ins Leere, was zu einer wachsenden Überakkumulation in der Transportbranche führt.« (Wildcat 94, Frühj. 2013)

Die Überakkumulation ging ungebremst weiter. 2015 und 2016 wurden der Suez- und der Panama­kanal ausgebaut, Häfen wurden erweitert, immer größere Schiffe gebaut. Die Zahl der jährlich bewegten Container hat sich in den letzten 20 Jahren auf gut 700 Millionen verdreifacht. Mit den steigenden Volumina stieg auch die Furcht in der Branche. Und so ziemlich alles, was schiefgehen konnte, ist schiefgegangen: Brände, abstürzende Flugzeuge (Boeing 737), Unwetterkatastrophen…

»Zu viele Befehle«

Als die Ever Given Ende März wieder frei war, rückte ein anderes Problem im Welthandel in den Blick. Seit Monaten hatten sich vor der Westküste der USA Schiffe gestaut. Bereits Mitte März hatte Nike zehn Prozent Umsatzrückgang in den USA gemeldet wegen »Containermangel, Transportverzögerungen und Hafenstaus«.

Ab Mitte April kamen die Containerschiffe, die von der Ever Given blockiert worden waren, geballt in den westeuropäischen Häfen an, und die LokführerInnen im Hinterland bekamen das Zeug nicht schnell genug weggeschafft. Oder die Hafenarbeiter wollten nicht. Ende Mai leiteten große Reedereien Schiffe von Hamburg auf andere Häfen um und nannten als Gründe: »Ladungsstau, Langsamarbeit und Proteste von Hafenarbeitern«. Diese würden wegen anhaltender Tarifstreits absichtlich weniger arbeiten; sogar von »Sabotage« war die Rede. Ver.di betonte dagegen, ihre Tarifkommission habe lediglich dazu aufgerufen, freiwillige Mehrarbeit abzulehnen, und dem seien »die Kollegen massenhaft nachgekommen«. Das kann recht effektiv sein, wenn der Kranfahrer, der ein Containerschiff mit sagen wir 18 000 Containern ablädt, pünktlich in Feierabend geht, während noch 20 Container auf dem Schiff sind!

Anfang Mai wurden erste Rohstoffe knapp: Pappe, Metall und Kunststoff. In der EU fehlt bis zum Ende des Jahres mindestens ein Fünftel des benötigten Kunststoffs; die EU produziert nicht einmal ein Sechstel ihres Bedarfs selber. Kunststoffgranulat ist ein wichtiges Vorprodukt – von der Verpackungsindustrie bis zu den Autozulieferern.

Ende Mai bedrohte eine neue Coronawelle die Lieferketten in Asien: In indischen Häfen kam es zu Unterbrechungen, in Vietnam war die Handy-Produktion gefährdet, in Taiwan die Halbleiterfertigung; das verschärfte u.a. die »Chipkrise« der weltweiten Autoindustrie (siehe dazu das Interview S. 26). An mehr als 50 Stellen in der globalen Lieferkette für die Chips hat eine einzelne Region einen Marktanteil von mehr als 65 Prozent. Solche »Flaschenhälse« sind das Ergebnis der Zergliederung der Fabriken durch Verlagerung und Sub-Unternehmertum. In der Elektronikindustrie selber war die Fertigungstiefe aus gutem Grund lange Zeit hoch (»Integrated Device Manufacturer«, IDM), bis man auch dort zum heutigen, sehr störanfälligen, »Foundry«-Modell überging.

Inzwischen ist auch bekannt, warum sich die Ever Given querstellte. Der Kapitän »gab zu viele Befehle in sehr kurzer Zeit, etwa acht Befehle in zwölf Minuten«, was dem Schiff nicht genug Zeit zur Ausführung lässt. »Das Schiff ist sehr groß und es reagiert langsam«, sagte der Chef-Ermittler der Suez-Kanalbehörde. Die meisten Probleme in der überakkumulierten Logistikbranche hängen damit zusammen, dass in immer enger getakteten Anlieferungszeiten immer mehr und immer größere Teile bewegt werden müssen.

Mitte Juni nun also China, die Fabrik der Welt. Die strikten Corona-Maßnahmen von Ende Mai haben den Verkehr im Containerhafen Yantian, der die Industriemetropole Shenzhen mit dem Rest der Welt verbindet, zur Hälfte lahmgelegt. Aktuell kommt es zu Wartezeiten von bis zu 16 Tagen. Das schlägt auf das ganze Netzwerk durch, die Lieferengpässe rund um die Erde verschärfen sich weiter – und wirken sich diesmal in der BRD vor allem auf die Industrieproduktion aus. Wie die »Chipkrise« gezeigt hat, gibt es in der Industrie keine vorratsorientierte Warenlagerung mehr; alles passiert »just in time« – oder eben nicht!

Zudem fehlen Container – derzeit gibt es etwa 44 Millionen. Nur zwei chinesische Firmen stellen welche her und zwar 4,4 Millionen jährlich, aber 2,2 Millionen werden zugleich verschrottet. Um den aktuellen Bedarf zu decken, müssten sie ihre Produktion verdoppeln! Auch weil Container fehlen, explodieren die Frachtpreise; der Transport eines Großcontainers von Asien nach Europa kostete vor Corona rund 1000 Dollar – aktuell 12 000.

Verschärft wird das durch die bereits 2013 erwähnte »Unwucht im Welthandel«: Die Container fahren voll in den Westen und müssen leer nach China zurückgebracht werden. Und im Hafen von Yantian stehen nun zusätzlich 300 000 ungenutzt herum.

Auch die damals erwähnte »Arbeiterwidersetz­lichkeit hinter der abnehmenden Effizienz der Transportsysteme« hat sich in den acht Jahren konkretisiert: In der Logistik haben sich interessante Mobilisierungen entwickelt… und die Löhne steigen.

Diamantenfieber

Mitte Juni bieten Gastronomen in Berlin 500 Euro, wenn man Personal für sie findet. Der Businessinsider meldet aus den USA, die »Einstel­lungs­orgie von Amazon« und die dort bezahlten höheren Löhne fischen den Gastrobetrieben ihre Arbeitskräfte weg. Jobs zum Mindestlohn nimmt fast niemand mehr an. Auch hier bieten Restaurants Prämien für neue Leute – aber Amazon toppt sie erneut und startet am 10. Juni eine Kampagne, dass sie 75 000 neue ArbeiterInnen für durchschnittlich 17 Dollar Stundenlohn einstellen wollen. Oben drauf packen sie bis zu 1000 Dollar Prämie bei Arbeitsaufnahme; und wer geimpft ist, kriegt nochmal 100 Dollar mehr. (Unser Block zu Amazon und Lagerarbeit beginnt auf S. 31)

In Italien, Österreich, Polen, der BRD, in den USA…. haben während der coronabedingten Schließung in der Gastronomie viele einen neuen Job bei Lidl, Aldi, bei Amazon im Lager, oder in der Pflege gefunden. Sie weigern sich nun, in die stressigen und schlecht bezahlten Jobs zurückzugehen. Weil sie es dort, wo Gewerkschaften immer behaupten, die Arbeitsbedingungen seien am schlimmsten, offensichtlich besser finden.

Ökonomen diskutieren intensiv über die Entwicklung: Ist die Personalknappheit teilweise »selbst verursacht«? Wer nur auf Tarifflucht, Minijobs und prekäre Beschäftigung setzt, dem laufen die ArbeiterInnen weg – müssten also »lediglich die Löhne steigen«, ganz einfache Marktmechanismen?

Andere weisen daraufhin, dass sich während Corona viele ausruhen konnten. In den USA hatten zum Beispiel viele mit den Ausgleichszahlungen ein höheres Arbeitslosengeld, als sie vorher im Job verdienten. In deutschen Großstädten gab es Jobs, die wesentlich weniger anstrengend und gar nicht so schlecht bezahlt waren, zum Beispiel als Aufpasser oder in Impfzentren. Diese Zeit müsse aber nun zu Ende gehen, die Leute müssten wieder in ihre alten Jobs gedrängt werden.

Eine Minderheit der Ökonomen sieht eine historische Trendwende; Charles Goodhart sagt: Das globale Arbeitskräftereservoir ist aufgebraucht.

Strategisch denkende VWLer betonen immer wieder, das Problem könne nur durch weitere Zuwanderung angegangen werden. Aber in China ist Zuwanderung nach wie vor ein No-go; Russland erlässt Gesetze gegen MigrantInnen, die sie doch so dringend brauchen (acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts wird von ArbeitsmigrantInnen aus Tadschikistan, Kirgisien, Usbekistan, Aserbaid­schan und Armenien erwirtschaftet); und in den USA tourt Kamala Harris durch die Länder im Süden, um den Leuten zu sagen: »Kommt nicht!«

Im geopolitischen Kampf mit China allerdings rühmen sich die USA ihrer wachsenden Bevöl­ke­­­rung – die wächst aber nur noch durch Zuwanderung. Alles nicht so einfach!

Wir haben nochmal den ganzen Bogen zu zeichnen versucht (siehe »Diamantenmangel« S.12). Dabei werden auch einige Punkte aus dem langen China-Artikel im letzten Heft berührt, den wir deshalb kurz upgedatet haben. Ab 2022 oder 2023 wird die Bevölkerungszahl in China zurückgehen; die aktive Erwerbsbevölkerung schrumpft bereits seit zehn Jahren. Und nach »Neijuan« (Involution) hat sich ein neuer Trend des Langsamarbeitens herausgebildet (»Tang Ping«), in dem einige die Reaktion auf »Involution« sehen. (S. 8)

Leben und sterben lassen

Während der ersten Corona-Welle träumten manche von einem Ende des »Neoliberalismus« und/oder einem New Deal. Dabei hatte Michał Kalecki doch schon 1943 erklärt, warum der »Keynesianismus« in einer Klassengesellschaft nicht funktioniert: Auf dem Tiefpunkt der Krise fordern die Machthaber die Keynesianer auf, »das Notwendige zu tun«. Aber sobald das Schlimmste überstanden ist, wird dieselbe Politik als »vertrauensschädigend« verteufelt. Denn was »vernünftig« ist, bestimmen die Profite der Reichsten, und die fordern »fiskalpolitische Zurückhaltung«, wenn auf einem sich belebenden Arbeitsmarkt die Löhne steigen.

Nouriel Roubini, der schon 2004 vor dem Platzen der Immobilienblase gewarnt hatte, beschrieb in einem Gastbeitrag in der Wirtschaftswoche Ende April den »Weg in die Stagflation«. (WiWo, 21.4.21) Die fiskalische Reaktion der USA auf die Coronakrise übertreffe die Maßnahmen gegen die globale Finanzkrise des Jahres 2008 um das Zehnfache. Aber bereits jetzt sei die weltweite Verschuldung so hoch (sie belaufe sich auf 356 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts), dass die Notenbanken die Zinsen nicht erhöhen können. Das »fiskalpolitische Abbremsen« sei somit gar nicht möglich. Deshalb sei, neben anderen Ursachen, die »demografische Zeitenwende« ein riesiges Problem, denn »sobald sich der Arbeitsmarkt stabilisiert«, könnten die Arbeiter das ausnutzen und höhere Löhne fordern.

Und gerade sieht es so aus, als erfülle sich in drei Monaten, was bei seiner letzten »Prophezeiung« drei Jahre dauerte: Im Juni streiken Paketboten, LagerarbeiterInnen und Rider in Frankreich, Italien (S. 50), Südkorea (4000 Paketboten demonstrieren in Seoul), China und Berlin. Seit dem 1. Juni laufen in ganz Brasilien und einem Teil Lateinamerikas Demos; am 14. Juni wurde in Rio de Janeiro gestreikt.

Hoffentlich hilft unser Schwerpunkt Euch ein bisschen dabei, diese Kämpfe einzuordnen und sie praktisch zu unterstützen! Schickt uns bitte Berichte aus Lagern, von Aktionen und Streiks!

Weniger Zeit verschwenden solltet Ihr hingegen auf die aktuelle Schwemme von Büchern zum Thema »Klassismus«! Wir haben uns arbeitsteilig einige davon vorgenommen und fassen unsere Lesefrüchte ab S. 59 zusammen. Fazit und Empfehlung: auf überhaupt gar keinen Fall kaufen, bitte.

Stuttgart, Juneteenth 2021

 
 
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