Zwei neue Aspekte sind in den Internationalismusdiskussionen der letzten Jahre in den Vordergrund gerückt: Zum einen sind die Riots, die sich häufig an den IWF-Diktaten entzündet haben, zum Bezugspunkt geworden. Zum anderen bestand ein vor allem theoretisches Bedürfnis nach neuen Ansätzen, die die Klassenkämpfe in den drei Kontinenten außerhalb der Entwicklungslogiken des Kapitals interpretieren könnten. Vor allem der Widerstand gegen die Lohnarbeit, der sich aus den alten und meist bereits vernichteten Subsistenzverhältnissen nährte, hat durch die Ausarbeitungen der Autonomie eine Neubewertung erfahren.
Beide Aspekte bekommen ihre Brisanz aber nur dann, wenn man sie nicht als ausschließliche Erklärungsmomente für das nimmt, was in den drei Kontinenten abgeht. Gerade im Zusammengehen von subsistenzbegründeten Erfahrungen, von Landvertriebenen und Fabrikarbeitern, von Arbeitslosen und im sogenannten informellen Sektor Arbeitenden, von Landbesetzern und großstädtischen Riots liegt sowohl die soziale Basis für die spektakulären Ausbrüche von Randale wie für eine umfassendere revolutionäre Perspektive dieser Länder.
Der vorliegende Artikel über Automobilarbeiter in Südamerika will nicht die Fabrikarbeiterkämpfe in den drei Kontinenten überbewerten, sondern deutlich machen, daß selbst ein relativ geschlossener gesellschaftlicher Sektor wie die Fabrik nicht zu trennen ist von allen, buchstäblich allen anderen Orten, wo sich in den drei Kontinenten Klassenkampf entwickelt hat. Nicht nur lebensgeschichtlich, sondern auch im Zustandekommen langandauernder revolutionärer Zusammenhänge verbindet sich das Wissen, das der Praxis in der Subsistenz wie in der Fabrik, im großstädtischen Slum wie in den Landbesetzungen entstammt.
Dieser Bogen, der die verschiedenen Orte des Klassenkampfs am Beispiel der Fabrikarbeiterkämpfe im Automobilsektor zu dokumentieren versucht, bereitet Schwierigkeiten bei der Darstellung. Daher springen wir im folgenden von Erfahrungsbericht zu Analyse, von historischem Rückblick zur schlichten Zusammenstellung von nützlicher Information, von der Schilderung sozialer Zusammensetzungen zur politischen Synthese.
Zwischen 1870 und 1910 haben (nicht nur) die südamerikanischen Länder ihre höchsten Einwandererquoten aus Europa. Ohne die Auswanderung aus Europa hier als Ausweitung des Kapitalismus näher untersuchen zu können, kann als Ausgangspunkt konstatiert werden, daß damit in den ehemaligen Kolonialländern so-wohl strategische Stützen für die zukünftige imperialistische Entwicklung geschaffen werden, aber auch eine technisch wie politisch neue Klassenzusammensetzung zu-stande kommt: Aus Landarbeitern aus Andalusien, Kleinbauern aus dem Mezzogiorno und aus Galicien, Facharbeitern aus deutschen, italienischen und englischen Industriezentren formt sich eine Arbeiterklasse mit stark anarchosyndikalistischem und internationalistischem Bewußtsein.1917-20 fanden eine Reihe zeitweise erfolgreicher Aufstände (zur Schaffung von freien Arbeiterrepubliken) statt. In den 20er Jahren werden die Strukturen polizeilich und militärisch, ab 1930 ökonomisch (mit dem Mittel der Weltwirtschaftskrise) zerschlagen. Allein von den Einwanderern nach Argentinien der Zeit 1870-1910 kehren 60 Prozent dieser »metropolitan« gewordenen Klasse nach Europa zurück, im Unterschied zur Einwanderung etwa in die USA. Für viele Regionen Europas war diese Aus- und Rückwanderung bis in die 30er Jahre nicht nur das beabsichtigte Ventil zur Entschärfung oder Unterbindung von Klassenkampf, sondern revolutionäres Ferment.
Wenn man sich auf die südamerikanischen Metropolen in diesem Zeitraum beschränken könnte, fiele die Herausarbeitung der neuen Merkmale der Klasse nicht schwer. Kompliziert und widersprüchlich wird das Bild, wenn man die kontinentalen Ausmaße der kapitalistischen Entwicklung hinzuzieht. In Europa zielte der Kapitalismus in immer neuen Schüben auf Liquidierung früherer oder anderer Produktionsverhältnisse, auf die Enteignung des Wissens und Reichtums der Menschen, die noch nicht in den aktuellen Verwertungszyklus integriert waren, im Sinne der Beschleunigung des Akkumulationsprozesses und der Neuzusammensetzung der Klasse, die zwar nicht als ganze, aber doch überwiegend in das Kapitalverhältnis integriert wurde.
In Südamerika oder überhaupt in den drei Kontinenten war das Ziel des Kapitals bis weit in die 5Oer Jahre hinein eher – schlagwortartig gesagt – die Errichtung von Montagehallen für importierte Industrieteile, und ansonsten Unterwerfung, Ausgrenzung, Vernichtung oder ein äußerliches Funktionabelmachen von andersartigen Kulturen und ländlichen Klassen. Ein Interesse an einer Neuzusammensetzung dieser Kulturen und Klassen bestand nur partiell.
Die Spaltung der südamerikanischen Klasse – Metropolenproletariat/Gauchos/Indios – wurde nie durch ein keynesianisches Konzept einer great society ernsthaft angegangen, auch wenn es in den 30er und 40er Jahren zahlreiche derartige »populistische« Versprechungen gegeben hat, und Verbindungslinien der Kämpfe hat es bis Ende der 40er Jahre immer nur als synchrone Kampfkonjunkturen, aber kaum auf organisatorisch-handelndem Gebiet gegeben. Erst nach dem 2. Weltkrieg kommt es mit dem weltweiten revolutionären Aufschwung zu konkreten Perspektiven des Zusammenschmelzens der Klasse über ihre traditionellen Einteilungen hinweg ; die entstehenden »jungen Nationalstaaten« sind ein Ausdruck des von unten zusammenwachsenden neuen Klassenbewußtseins, allerdings ein gebremster und bereits erstarrter Ausdruck. Kuba ist das große Beispiel für die revolutionäre Eroberung der Macht in Mittel- und Südamerika.
Genau in dem Moment wird die Automobilindustrie als »leading sector in development strategies« als strategische Vorwegnahme von Seiten des Kapitals in Brasilien, Mexiko und Argentinien eingesetzt. Vorwegnahme insofern, als die Arbeiterklasse durch diesen Sektor über frühere Spaltungen hinweg ausgedehnt und relativ egalitär homogenisiert wird. Unter »development strategy« ist die Verwertung des kulturen- und klassenspezifischen Wissens um eigene produktive und reproduktive Zusammenhänge zu verstehen.
Im Rückblick war die Weltwirtschaftskrise die letzte Karte, mit der das Kapital die Ausdehnung seiner Verwertungszyklen angesichts der Resistenz der ländlichen Massen und der traditionellen Arbeiterzentren durchzusetzen versuchte. Was folgte, war der Aufbau der Schwerindustrie und einer ganzen Palette anderer Industriezweige auf dem Rücken oder im Angriff auf die ländlichen Massen in den Ländern der drei Kontinente. Cirka 15 Jahre hat es gedauert, bis die Resistenz auf dem Land in Aufstände und sozialrevolutionäre Bewegungen (im Nordwesten Brasiliens) umgeschlagen ist. Es ist dieselbe Zeit, in der die gespaltene Basis dieser Industrialisierung in ein revolutionäres organisiertes Zusammengehen der Migranten aus verschiedenen Landesteilen und Kulturen in den neuen Suburbs (Sao Paulo und Buenos Aires) mit den Kernen der traditionellen Arbeiterklasse (erste Regierungszeit Perons) mündet.
Seit Jahrhunderten lebten in der armen Bevölkerung des brasilianischen Sertao (der riesigen Steppe) millenaristische Mythen und Legenden freier Republiken. Die Gauchos Argentiniens haben sich als die Schicht, aus der die Sozialrebellen kommen, nur mühsam einen halbwegs anerkannten Platz in der Gesellschaft erobern können. Verarmung und Migration trieb diese Mythen in die Vorstädte, oder in die entstehenden aufständischen Bauernligen, und verband dieses Bewußtsein mit dem Arbeiterwiderstand. Nicht ohne Widersprüche: Das Verhalten und die Entscheidungen der argentinischen KP, die für die Koalition mit der Bourgeoisie plädierte und sich gegen die politischen Bewegungen aus den Vororten stemmte, ist weltweit ein Beispiel für die Angst vor sozialrevolutionären Bewegungen, für die massenfeindliche Parteinahme zugunsten des Kapitals.
Der Aufschwung, den die Arbeiterklasse organisatorisch und in der Eroberung wichtiger Stellungen in der Gesellschaft nimmt, wird schlicht an der Statistik deutlich: 1941 sind in Argentinien 500.000 Personen gewerkschaftlich organisiert, 1951 über drei Millionen (d. h. die Mehrheit der Lohnabhängigen ), der Lohnanteil am BIP steigt von 38,7 Prozent (1946) auf 46,9 Prozent (1952), die Arbeiterklasse benutzt das peronistische Entwicklungsmodell zur Aneignung von Lohn und gesellschaftlicher Macht.
1957 öffnet Brasilien, 1959 Argentinien die Tore für das transnationale Kapital. Zunächst dringen im Automobilsektor nicht die drei großen US-Multis, sondern die schwächeren und kleineren sowie die europäischen Automobilfirmen ein. Statt Montagehallen werden seit der Öffnung der Grenzen und der Beschränkung der Importe von Industriegütern komplette Industrien im Automobilsektor hochgezogen, und die Zuliefererindustrie (Komponenten dürfen ebenfalls nicht mehr importiert werden) wird mit transnationalem Kapital aufgebaut oder an den bereits bestehenden Zyklus angeschlossen. Die Wachstumsraten sind enorm: In Argentinien hängt 1966 bereits einer von 19 Jobs mit der Automobilindustrie zusammen (in den 70er Jahren ist es einer von sieben). Bereits Anfang der 60er Jahre ist der Sektor in beiden Ländern der dynamischste und mächtigste.
Dennoch stürzt die »neue Arbeiterklasse« bereits wenige Jahre nach Beginn des Auto-Booms das Kapital in die Krise. Weiter unten sollen diese Fabrikkämpfe im einzelnen dargestellt werden. Das Verständnis dieser Fabrikkämpfe ist unerläßlich, um die heutige Realität dieser Länder zu begreifen. Sie markieren den Wendepunkt, das Scheitern der kapitalistischen Entwicklungsmodelle in der Peripherie, und stehen an der Basis der sogenannten Schuldenkrise, der militärischen Reaktionen und der aktuellen Verarmungs- und Hungerstrategien. Sie beziehen sich in Ursache und Wirkung nicht allein auf den Automobilsektor, sondern umfassen die proletarische Konstitution in diesen Ländern. Daher folgt im nächsten Abschnitt eine Schilderung von Landarbeiterkämpfen, die deren unmitelbare Nähe zu dem Proletariat der Großstädte belegt.
Es gilt festzuhalten, daß die Unterschiede in der Industrialisierung, in den Arbeitsverhältnissen und den Fabrikarbeiterkämpfen zwischen Zentrum und Peripherie erheblich sind. Ende der 20er Jahre hatte Argentinien aufgrund der starken Mittel- und Facharbeiterschicht mit Europa vergleichbare Lohn- und Lebensstandardverhältnisse. Arbeiter konnten einmal im Jahr mit dem Schiff nach Europa fahren, dazu langte der Industrielohn. Argentinien wird zu der Zeit in verschiedenen Wirtschaftsdaten häufig mit Australien verglichen. Heute brauchen die Unterschiede zwischen Australien (US-Standard) und Argentinien als peripherem Land gar nicht erst benannt zu werden. Ein Arbeiter der Automobilindustrie in einem peripheren Land hat sich nie ein Auto kaufen können, er ist tendenziell vom Hunger oder von lebenslanger Armut bedroht.
Während in den 60er Jahren die Automobilindustrie in den weitindustrialisierten Ländern stabile, große Kernbelegschaften als Zentren reformistischer Arbeiterbewegungen anstrebte, haben dieselben Transnationalen zur Kontrolle der Klasse in Mexiko, Brasilien und Argentinien (den drei »entwickeltsten« Ländern Mittel- und Südamerikas) eine Strategie des Hire and fire, der zwangsweisen Rotation gefahren, wie sie nur aus den USA vor dem New Deal bekannt ist.
Tatsächlich steht diesen Arbeitern das Kapital als eine sehr viel äußerlichere, feindliche Instanz gegenüber. Die Massenarbeiter in den Industriegürteln von Sao Paulo und Buenos Aires produzieren Gebrauchsgüter für die Mittelschicht, die ihnen damit im wahrsten Sinne des Wortes das alltägliche Leben auch außerhalb der Fabriken zerstört. Und der Lohn langt häufig kaum für das öffentliche Transportmittel. Ihre antikapitalistische Kraft liegt bisher eindeutig in den Montagezentren beziehungsweise in den Klitschen der Zuliefererindustrie.
Es fällt auf, daß eine andere verwundbare Angriffsfläche des Automobilzyklus, die Spritproduktion, bisher in keiner Weise direkt in diese Kämpfe einbezogen wurde. Wenn die Zuckerrohrarbeiter, die den Alkohol, den Sprit brasilianischer Autos zu Hungerlöhnen und in Knochenarbeit produzieren, ihren Lohnkampf einbinden würden in einen umfassenden Angriff auf die Akkumulationsstrategie des Kapitals mittels der Autoindustrie, würden sie in Kürze den gesamten Autozyklus destabilisieren. Ebenfalls sind die Riots bisher nicht gegen die kapitalistischen Produktionszentren vorgegangen. Aber es scheint, daß sich das Kapital vorbereitet auf mögliche Angriffe an diesen ebenfalls verwundbaren Seitenflächen: das scheint ein Kernpunkt der derzeitigen Internationalisierungsstrategie zu sein.
Bevor die Fabrikkämpfe in der Autoindustrie in ihrer Zusammensetzung und ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang (in den Ländern Argentinien und Brasilien) deutlicher herausgearbeitet werden, soll zunächst an den Landbesetzungen und Landarbeiteraufständen in Brasilien der enge Zusammenhang der Klasse über die traditionelle Trennung Land – Stadt hinweg dokumentiert werden. Gerade in den am weitesten industrialisierten Landesteilen hat es die heftigsten Landarbeiterkämpfe gegeben, getragen von einem Proletariat, das inzwischen auch Fabrikerfahrung hat und in der Mehrheit in den Slums der Klein- und Großstädte lebt. Durch diesen Sprung von der Geschichte der Industrialisierung zur Beschreibung von Landarbeiterkämpfen wird die Umgebung, in der sich die Automobilarbeiter heute bewegen, deutlich.
Wir treffen Palmira in einem Tal, das seit 1977 von Landarbeitern besetzt gehalten wird. Das Tal war Anfang der 70er Jahre eines der berühmt gewordenen Guerillagebiete, in denen mehrmals das Heer zurückgeschlagen worden war, bevor der Widerstand militärisch liquidiert wurde.
Die Fahrt geht von Sao Paulo aus nur wenige Stunden südwärts, meist durch Waldgebiet, bis wir den Ort erreichen. 200 oder 300 Kilometer – das ist keine Entfernung in Brasilien, und für die Guerilla hatten solche Gebiete vor allem in ihrer Entstehungszeit exemplarische Bedeutung. Hierhin konnte sie ausweichen, hier konnte sie im relativ überschaubaren Rahmen das Konzept der befreiten »Gebiete« angehen, ohne dadurch die Unterschiede der Guerilla-Ansätze völlig abzustreifen (Bewaffnung der Arbeiterkämpfe, oder der antiimperialistischen Stadtguerilla, oder der Einkreisungskonzepte der Städte durch das Land). Je mehr die Guerilla in den Städten Brasiliens zurückgeschlagen wurde, desto mehr wandelten sich die Zentren des Landarbeiterwiderstands von logistischer Unterstützung zu strategischen Zielen, bis auch sie fielen.
Die Bevölkerung des Tals setzt sich heute aus folgenden Teilen zusammen:
Palmira erzählt von den Stationen ihres Lebens: Sie ist ungefähr 40 Jahre alt. Vor 20 Jahren mußte ihre Familie das Häuschen in dem Bundesstaat Minas Gerais verlassen, in dem sie vorher ruhig hatten wohnen können. Sie hatten bis dahin im dortigen Kaffeeanbaugebiet als Saisonarbeiter gearbeitet und sich nebenbei selbst etwas anbauen können.
Die Vertreibung (im Rahmen der »Grünen Revolution«, der Rationalisierung und Kapitalisierung der Landwirtschaft, als Angriff auch auf die organisierten Arbeiter vor Ort, die an die Stadtränder, in die Slums mobilisiert werden) führt Palmira nach Sao Paulo, dort macht sie ein paar Jahre Fließbandarbeit, bis sie nicht mehr kann. Anschließend arbeiten sie und ihr Mann dicht vor Sao Paulo bei einem Bananenanbau und -vertrieb, einem industriell organisierten Unternehmen, in dem die Arbeiter ebenfalls aufs härteste ausgebeutet werden.
In den Jahren – es muß Anfang der 70er Jahre gewesen sein – entstehen in dem Unternehmen, wo Palmira arbeitet, neue politische Strukturen, Zusammenhänge, die sie, ihren Mann, später auch ihren Schwager und andere Familienangehörige und Bekannte von ihr in dieses Tal bringen. Sie verstehen aufgrund ihrer Lebensgeschichte noch etwas von der Landwirtschaft, siedeln sich in dem Tal an und beginnen erneut mit einer Art Subsistenzwirtschaft. Ihr Ziel ist aber, mehr zu produzieren, für den Verkauf und um eine Ernährungsstruktur aufzubauen, die der armen Bevölkerung in den Slums zugute kommt. Dabei hatten sie mit zwei Hauptschwierigkeiten zu kämpfen: erstens versuchen sie, neue gemeinschaftliche Formen zu entwickeln, ein kollektives Zentrum zu bauen, eine gemeinsam verwaltete Infrastruktur zu schaffen – d. h. über das Verstreute der früheren ländlichen Lebensformen hinauszukommen, und zweitens müssen sie dabei den Angriffen von außen standhalten, den vom Großgrundbesitzer angeheuerten Mörderbanden, den staatlichen Eingriffen. Immer wieder stehen sie wieder vor den Zerstörungen dessen, was sie aufgebaut haben, werden selbst mit Waffen angegriffen, können nur in Gruppen zu zwanzig Leuten gemeinsam aufs Feld hinausgehen und schaffen es bisher nicht, über die karge Subsistenz hinauszukommen. Neue Kräfte aus Sao Paulo – dort gibt es viele, die sofort kommen würden – wählen sie nach politischen und persönlichen Kriterien aus.
»Wir halten hier aus, auch wenn wir massakriert werden: Viele haben schon resigniert. Aber wir werden weitermachen. Das ist es schon, das ist meine Geschichte«, endet Palmira.
Nach Angaben der organisierten Bewegung der Landlosen gibt es zur Zeit 42 Gebiete, wo besetzt wird, mit insgesamt 11.655 Familien, das sind mehr als 58.200 Personen.
Viele Landbesetzungen sind natürlich statistisch nicht erfaßt. Die Konzentration im industrialisierten Süden Brasiliens fällt auf, das heißt in den Gebieten, in denen die Landbevölkerung vor allem durch den Sojaanbau arbeitslos und dem Hunger ausgeliefert wurde. Im Nordosten sind zum einen die Gewaltverhältnisse noch sehr viel grausamer, und außerdem fällt der gesamte Bereich im Amazonasgebiet hier raus, wo es sich um Landnahme und Urbarmachung handelt.
Sommer 84: Als die Landbesitzer nicht auf die Forderungen der Landarbeiter eingehen, bricht in der Stadt für ein paar Stunden der Aufstand los: »Die Nacht in Guariba, 300 km von Sao Paulo entfernt, war hell vom Widerschein des Feuers. Für die Städter, die das Feuer von den Fenstern der höher gelegenen Häuser genossen, war es nur ein Brand einer Zuckerplantage, wie er in dieser Jahreszeit schon mal vorkommt. Aber für die Angestellten der landwirtschaftlichen Betriebe, die ihn löschen sollten, und für die Grundbesitzer, die sich im nächstgelegenen Betrieb versammelt hatten, hießen diese Flammen etwas anderes. Sie waren es gewohnt, die Botschaften in der Sprache der Boias Frias zu entschlüsseln. Wer immer das Feuer gelegt hatte, es war die Arbeit eines Experten, der Wind und den Schnitt der Straßen so kalkuliert hatte, daß es auf drei talhoes beschränkt blieb, ungefähr fünf Hektar. Übersetzt hieß dies, daß man ebenso leicht einen neuen Brand an alle Plantagen von Ribeirao Preto legen konnte, ohne die geringste Möglichkeit, es zu löschen: Zucker brennt schnell ab, mit einer gigantischen Flamme. Die Botschaft war so klar, daß schon wenige Stunden danach Lohnerhöhungen zwischen den Boias Frias und den Latifundisten vereinbart wurden. MIt dem Erlöschen des Feuers war auch der Zorn der 150.000 Boias Frias von Ribeirao Preto abgeklungen...
An der Spitze der Rebellen standen keine Gewerkschaftsführer, auch keine Politiker, nicht einmal ein linker Priester. Die Boias Frias hatten die Aktion von sich aus und spontan begonnen. Im Morgengrauen hatten sie alle Straßen um Guariba und Babedouro blockiert und waren dann, bewaffnet mit ihren angespitzten facios, auf die Straße marschiert. Als das Militär mittags eingriff, war es zu spät. Geschäfte und ein großes Magazin waren geplündert worden, die Geschäftsräume der Wasserversorgung waren zerstört und abgebrannt (die Erhöhung der Wassergebühren war ein zusätzlicher Grund der Revolte)«(L'Espresso vom 1.7.84, zit. nach Autonomie 14)
Wie weit geht der Kampf der Landarbeiter? Was fordern sie in ihren konkreten Kämpfen, wie übersetzen sie ihre Feindseligkeit als Klasse dem Kapital gegenüber in Schritte oder Etappen? Mit welchen Zugeständnissen geben sie sich vorerst zufrieden, warum müssen sie sich zurückziehen, und wo sieht das Kapital Ansatzpunkte zur Zersetzung und Neuzusammensetzung der Klasse?
Die Autonomie analysiert diesen Aufstand von Ribeirao Preto als exemplarischen Beleg dafür, daß das Kapital angesichts der »Subjektivität und Gesellschaftlichkeit der Armut« zu keiner Enteignung dieser Gesellschaftlichkeit, und nicht mehr zu ihrer erneuten Vergegenständlichung in neuen Arbeitsverhältnissen in der Lage ist.
Die Kämpfe der Zuckerrohrarbeiter Süd- und Mittelamerikas gehören mit Sicherheit zu den blutigsten und härtesten Kämpfen seit Jahrhunderten auf dem ganzen Kontinent. Aus ihnen sind unzählige revolutionäre Formationen hervorgegangen. Ähnlich wie die Minenarbeiter Boliviens und Chiles ist ihre Arbeit eingegliedert in internationale Verwertungs- und Akkumulationszyklen, ist von daher stets konstituierender Bestandteil bei der Herausbildung des Weltproletariats gewesen.
Seit Jahrhunderten sind diese Teile des Proletariats der absoluten Mehrwertauspressung ausgesetzt, der brutalen Vernutzung ihrer Arbeitskraft, immer wieder mündend in Vernichtung durch Arbeit. Wenn wir also die aktuellen Zuckerrohrarbeiterkämpfe verstehen wollen, müssen wir folgende Gesichtspunkte berücksichtigen:
Die unmittelbaren Forderungen der Zuckerrohrarbeiter (wie auch anderer, vor allem im exportorientierten Agrobusiness Beschäftigter) gehen in die Richtung, daß zumindest die Tarifabkommen eingehalten werden, und daß die Mindestlöhne angehoben werden. (Zur ersten Forderung gehört die Anwendung korrekter und einheitlicher Meßinstrumente für die nach Stücklohn bezahlte eingebrachte Ernte, die Bezahlung nach dem erkämpften Tariflohn ohne Betrug und willkürliche Neufestsetzung durch Großgrundbesitzer; zur zweiten Forderung ist anzumerken, daß die gesetzlich garantierten Mindestlöhne auf dem Land bei weitem unterschritten, in vielen Abteilungen der Großindustrie bei weitem überschritten werden.)
Landbesetzungen von Zuckerrohrfeldern mit dem Ziel des Anbaus von Nahrungsmitteln für den eigenen Bedarf hat es bisher nicht in größerem Ausmaß gegeben. Um die Perspektiven, die in den laufenden Kämpfen angelegt sind, besser herauszuarbeiten, sollten wir uns vor Augen halten, daß es sich nicht nicht um einen homogenen Block handelt, der allen Kapitalstrategien entschieden entgegentritt, sondern daß die Landarbeiter unterschiedliche Verhaltensweisen, Vorstellungen und Praxisbezüge haben. Am Verhältnis zur Arbeit lassen sich drei Generationen von Landarbeitern ausmachen: 1. Die Alten. Zyklische Jahreseinteilung, sie kennen genau die Pflanzen und den Boden, es gilt bei ihnen »Liebe« zur natürlichen Umgebung. Ihre Kampftraditionen sind Landarbeiterligen, Demonstrationen durch die Felder, Dörfer, in die Städte, unter hohen Opfern, weil die Polizei dabei meist ein Gemetzel unter den Demonstranten veranstaltet. 2. Die Mittleren. Sie kennen Land- wie Industriearbeit; diese Generation hat die Aufstände Ende der 60er, Anfang der 70er getragen. Sie haben das Boia-Fria-System, die Vertreibung durch die »Grüne Revolution« an die Stadtränder, nie akzeptiert (Boias-frias heißt »Kaltesser«, so werden die Landarbeiter genannt, die an den Stadträndern wohnen und zur Arbeit auf die Felder gekarrt werden, um dort den ganzen Tag ohne warme Mahlzeit zu verbringen). 3. Die Jungen. Für sie ist die Arbeit auf dem Feld genauso entfremdet wie die Arbeit in der Fabrik. Sie haben keinen Bezug mehr zum selbständigen Pflanzen, zum Wissen das dazu nötig ist. Sie sind zahlenmäßig die größte Gruppe, sie richten ihre Forderungen am ehesten nach klasseneinheitlichen Gesichtspunkten aus und bilden den heute stärksten antagonistischen Zug. (Zur Spaltung durch unterschiedlich gestaffelte Löhne siehe weiter unten.) Sie akzeptieren durch die parallele Slum- und Großstadterfahrung am wenigsten die alten patriarchalischen Verhältnisse auf dem Land, und den hierarchischen Parteitypus. Diese Generation ist Träger der »authentischen« Gewerkschaftsbewegungen, der Arbeiterpartei PT, sie ist Protagonist der Kampfzyklen Ende der 70er, Anfang der 80er (die allerdings nicht denkbar sind ohne das Mittun der Mittleren und Älteren, zum Teil kam es aber auch zu schärfsten Auseinandersetzungen mit den alten Organisationsformen). Direktes, basisbezogenes Politikverständnis und entsprechende Aktionsformen überwiegen bei ihnen.
Die Dynamik, die das Kapital gegen die Landarbeiterkämpfe entfaltet, richtet sich zum Teil frontal gegen die sich Organisierenden und Aufständischen, zum Teil versucht sie aber auch, Landarbeiter einzubinden in neue Arbeitsrhythmen und Anstellungsverhältnisse. Am häufigsten ist aber sicher die flexible Reaktion der Großgrundbesitzer: Nachgeben, um nachher genauso weiter zu machen wie vorher. Am Beispiel Guariba: Nach der polizeilich-militärischen Einnahme der Stadt, nach Annahme der wesentlichen Forderungen der Landarbeiter (Einhaltung des Mindestlohns, Anwendung genormter Meßinstrumente und Abschaffung der Willkür bei der Bezahlung) ändert sich in den darauffolgenden Wochen und Monaten nichts wesentliches, d. h. es fehlt an der Durchsetzungskraft der ausgehandelten Zugeständnisse auf dem Land. Es kommt in der Folge zu weiteren kleinen Aufständen, insgesamt verbleibt dieser Kampfzyklus in dem allgemeinen Rahmen des punktuellen, zeitlich begrenzten Erfolgs und des flächenmäßigen und saisonalen Mißerfolgs.
Um weitere Aufstände und Organisationsansätze zu umgehen, verlagern die Investoren ihre Kulturen in andere, neue Gebiete, oder karren andere Arbeitskräfte aus weiter entfernten Gebieten auf die Felder. Und eine neue Spielart entsteht, genau am Brennpunkt Guariba im Sommer 84: die Großunternehmen bieten einem Teil der Arbeitskräfte an, sie zu mehreren Saisons im Jahr, d. h. zu verschiedenen Ernten (Getreide, Soja, Kaffee usw.) einzusetzen und ihnen durch Festbeschäftigung mehr Lohn zu garantieren. Besser genährte, rotierende Festeingestellte, vor allem Jugendliche, abgespalten von dem Heer unterernährter Boias-Frias. So soll die Gesellschaftlichkeit zersetzt und in neue Verwertungszusammenhänge integriert werden, wie sie nur die größten Agrobusinesskonzerne aufbauen können.
Auch gegen die Landarbeiter, die sich in der Bewegung der Landlosen organisiert haben, laufen vergleichbare Spaltungsversuche: Seit '86, also seit dem Jahr, wo die immer wieder versprochene, aber nie durchgeführte Agrarreform beginnen sollte, entstehen kapitalgelenkte Experimente einer reduzierten Agrarreform, wo die neue Abhängigkeit der dann entstehenden Produzenten (viele kleine Kapitalisten) durch Kredit-, Saat- und Verkaufsvorgaben auf Spaltung der Klasse hinausläuft. Die Klassenbewegung, die sich auf die Aufteilung des Landes hin organisiert, zielt gegen die modernisierte Landwirtschaft des Agrobusiness – und nicht auf die subsistenzartige Urbarmachung oder auf die von der Modernisierung bisher nicht erfaßten Ländereien. Ihr Ziel ist weder das »Aufholen« scheinbar zurückgebliebener Landstriche noch das Abtauchen in die Subsistenz, sondern der Angriff auf das Kapital.
Die Zusammensetzung der Automobilarbeiter weist bereits auf Schwächen und Stärken ihrer Kämpfe hin: Zur Zusammensetzung der Belegschaften ein Beispiel: ein großer Autokomponentenbetrieb in Sao Paulo, der auf Montage, Stanzerei, Lackierung u.a. spezialisiert ist. Zur Frage, wie weit die Arbeitskraft aus dem Landesinneren rekrutiert oder kulturell noch mit Europa verbunden ist, folgende Statistik:
ungelernt | halbqualifiziert | Facharbeiter | |
---|---|---|---|
mit Ausländer verheiratet | – | 5 Prozent | 21 Prozent |
Vater Ausländer | – | 9 Prrozent | 28 Prozent |
Mutter Ausländerin | – | 7 Prozent | 24 Prozent |
Über 75% dieser Arbeiter leben schon seit über 20 Jahren in Sao Paulo, dennoch ist der Großteil von ihnen noch auf dem Land geboren:
Herkunft | ungelernt | halbqualifiziert | Facharbeiter |
---|---|---|---|
Sao Paulo | 38 prozent | 44 Prozent | 29 Prozent |
Interior | 9 Prozent | 12 Prozent | 36 Prozent |
Subtotal | 37 Prozent | 56 Prozent | 65 Prozent |
Nordosten | 55 Prozent | 32 Prozent | 13 Prozent |
Das heißt, gerade die weniger Qualifizierten sind Kinder von Migranten aus dem Landesinnern und werden als Subjekt neuer Kämp-fe die zentrale Rolle selbst übernehmen.
Eine Untersuchung über die Schulbildung der argentinischen Autoindustrie-Arbeiter zeigt, daß sie sich in wesentlichen Punkten von den Belegschaften anderer Betriebe unterscheiden: 90 Prozent hatten den Grundschulabschluß (allgemein in der argentinischen Industriearbeiterklasse: 40 Prozent), und 42 Prozent hatten die Sekundarstufe einer technischen Fachschule (allg.: 8 Prozent) angefangen, wenn auch nur 8 Prozent sie bis zum Abschluß absolviert haben. Mit anderen Worten handelt es sich um Arbeiter, deren Eltern in dem revolutionären Umbruch ab 1945 die Schulbildung für ihre Kinder durchgesetzt hatten; insbesondere in den technischen Fachschulen gelang es den Gewerkschaften und Peronisten, sich den maßgeblichen Einfluß auf Curricula, soziale Zusammensetzung der Schüler usw. zu sichern (wie sie es langfristig nutzten, schließlich sogar im Sinne eines vom Kapital zurückgewonnen Verwertungsanspruchs, ist eine andere Frage).
Lohnpyramide: Arbeiter in der Automobilbranche verdienen wesentlich mehr als in anderen Berufszweigen. Das gilt vor allem für Ungelernte oder gering Qualifizierte, die das Maximum an Lohn nur in der Autoindustrie rausholen können. Löhne in Sao Paulo in den 70ern:
Lohneinheit | Ford, VW | Lohneinheit | Zulieferbetrieb |
---|---|---|---|
– | – | 1 – 2 | 15 Prozent |
1 – 2 | 69 Prozent | 2 – 4 | 64 Prozent |
4,5 – 11 | 26 Prozent | 4 – 7 | 21 Prozent |
(Ich habe die Löhne auf überschaubare Lohneinheiten zurückgeführt, d.h. 1 = z.B. 100,- DM, 25 sind dann 2.500,- DM.)
Der Durchschnittslohn eines Industriearbeiters liegt über dem der unteren Angestelltenkategorien. Der Facharbeiterlohn liegt sogar über dem von Supervisoren, Kostenanalsyse Experten usw. 1974 lag der Durchschnittslohn in der Autoindustrie in Sao Paulo um 40 Prozent über dem übrigen Durchschnittsindustrielohn, und sogar doppelt so hoch wie im Textilbereich. In den Großbetrieben ist der Lohn extrem gestaffelt und differenziert. Jedes Jahr Betriebszugehörigkeit bedeutet wesentlich mehr Lohn.
Rotation: Seit den Kämpfen 1962/63 (in denen noch die traditionelle Arbeiterklasse die Führung innehatte: Eisenbahner, Hafenarbeiter, alte Großbetriebe) beginnt in Argentinien wie in Brasilien die erhöhte Rotation. In den folgenden Jahren kommt es zu erhöhter Konfliktualität in praktisch allen Bereichen und Terrains des Arbeiterkampfs. Die Reaktion des Kapitals, die Installation von Militärregimes, hat in Brasilien relativen »Erfolg«, in Argentinien weniger, die Machthaber lösen sich öfter nach ihrem Scheitern ab. Auf politischer Ebene werden die Arbeiterstrukturen immer wieder zerschlagen, auf Betriebsebene soll das Mittel der Rotation die Kontrolle wahren: Die Beschäftigungslage wird an die Produktivität angebunden, damit werden erhebliche Schwankungen erzeugt, womit ein kontinuierliches Auswechseln der Belegschaften möglich wird: vor allem wer länger als drei oder vier Jahre im Betrieb gearbeitet hat, wird aufgrund seiner Kampf- und Organisationserfahrungen als latent gefährlich angesehen und steht auf der Abschußliste. Das Prinzip gehört auch zu den Mechanismen der Lohnpyramide, denn durch die Entlassung der »Alten« und ihrer Ersetzung durch »Neue« wird der Lohn niedrig gehalten.
Beispiele:
In einem Autogroßbetrieb in Sao Paulo wächst die Beschäftigung 1974 in einem Monat um 60 Prozent; als der Verkauf steil abfällt, werden 40 Prozent Ungelernte und 25 Prozent halbqualifizierte Arbeiter entlassen.
Ford Sao Paulo 1977: von 500 entlassenen Arbeitern haben nach Umfrage 50 Prozent mehr als vier Jahre in derselben Fabrik gearbeitet. Nur 50 Prozent von ihnen finden neue Arbeit.
Aus einer Untersuchung in Argentinien, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre: drei von vier Entlassenen aus der Automobilindustrie waren unter 30 Jahre alt, Ungelernte durchschnittlich 26, halbqualifizierte Arbeiter durchschnittlich 27 Jahre alt. 55 Prozent waren über drei Jahre im Betrieb, 6 Prozent weniger als ein Jahr.
Getroffen werden vor allem die Halbqualifizierten mit Schulbildung (siehe Schaubild). Die Arbeitslosigkeit ist zwar statistisch nicht sehr hoch, aber die meisten finden nicht wieder einen so relativ hoch bezahlten Job. Entlassungen vergrößern die Zersplitterung unter den Arbeitern. Sie gehen in den Dienstleistungsbereich, in andere Industriebetriebe, machen sich »selbständig«, eröffnen kleinste Klitschen oder beginnen zu »handeln«, werden arbeitslos und besorgen ihr Einkommen illegal.
Mit einer Ausnahme: Die Militanten in Buenos Aires und Cordoba (Argentinien) schaffen es in den 60ern und 70ern immer wieder, mit den anschließenden Einstellungswellen in die Autobetriebe zu kommen. Bis sie 1973-76 die Kämpfe der Arbeiterklasse sogar erfolgreich auf das Ziel der Durchbrechung dieser Zwangsmobilisierung und auf den Aufbau revolutionärer Arbeitermacht orientieren können. Das ist eine Kernerfahrung, die die gleichzeitig laufenden Kämpfe in den Jahren 1973-76 zusammenführt und in eine konkrete revolutionäre Perspektive bringt.
Der Cordobazo (Argentinien). Cordoba ist das zweitgrößte Industriezentrum Argentiniens mit etwa einer Million Einwohner. FIAT und IKA-Renault sind die Kernbetriebe, um die sich die Industrie der ganzen Stadt gruppiert. Auslöser des Cordoba-Aufstands vom Mai 69 war die Ankündigung, daß die Regierung den »englischen Samstag« (der ganze Samstag wird bezahlt, aber nur zur Hälfte gearbeitet) abschaffen wollte. Nach einer Reihe von Kapitaloffensiven war es den Betrieben nicht gelungen, die Konfliktualität und den Absentismus herunterzuschrauben, daher dieser Angriff von Staatsseite aus.
Ende Mai 69 ging der Aufstand in den Betrieben los und die ganze Stadt schloß sich an. Die langjährige Zusammenarbeit von Arbeitern und Studenten, von Automobil- und Zuliefererarbeitern zahlte sich in den wenigen Stunden aus: Als Polizei und Militär anrückte, organisierten die Arbeiter die bewaffnete Verteidigung der Stadt. Noch heute wird in ganz Südamerika in Arbeiterdiskussionen immer wieder auf die Erfahrungen des Cordobazo zurückgegriffen. Trotz der vielen Toten und der blutigen Repression berufen sich inzwischen sogar die etablierten reformistischen Parteien und die Gewerkschaften auf diesen Aufstand.
Der Cordobazo signalisierte den Beginn einer heißen Phase, die durch lange Betriebskämpfe vorbereitet worden war. In den folgenden Jahren kommt es unter der Militärdiktatur zu zahlreichen Generalstreiks, Betriebsbesetzungen und einer argentinischen Strömung des Operaismus (um die Zeitschrift Clasismo). Die späteren Auseinandersetzungen im Anschluß an Betriebsbesetzungen (1971-72), der zweite Cordobazo (Viborazo) gegen FIAT im März 1971 übertreffen alle bisher gekannte Militanz, die Automobilarbeiter sind unangefochten vorne im Klassenkampf. Bei FIAT werden die Entlassungen gestoppt, die Kontrolle liegt seit '71 praktisch bei den Arbeitern, in den Fabriken soll »das repressive Klima abgeschafft« werden.
In den Jahren 71-75 verschmelzen die aktivsten Arbeiterkerne mit den revolutionären Bewegungen, die den bewaffneten Kampf aufgenommen haben. Zahlreiche Betriebsinterventionen erfolgen bewaffnet, die Gewerkschaftsführer werden von der Basis gezwungen, Manager zu verhaften und als Geiseln zu nehmen.
1973 beginnt das letzte, schmutzige Geschäft des Peronismus, ein letztes Mal an die Regierung zurückgekehrt: Sozialpakte werden abgeschlossen, und mit blutiger Gewalt versucht die Regierung, eine zentralisierte Kontrolle über die Gewerkschaften wiederzugewinnen. Die Basis hat sich längst von den Gewerkschaften gelöst, hat entweder eigenständige Organe geschaffen, oder benutzt ab und zu regionale, umgekippte Gewerkschaftsstrukturen.
Die Regierung stoppt unter diesem Druck 1973 tatsächlich Entlassungen bei GM, die Arbeiter müssen wieder eingestellt werden. Aber an einer anderen Front geht sie bereits zum Gegenangriff über: die Inflation wird zur Hyperinflation, Austeritätsprogramme werden verkündet. Juli 1975: Automobilarbeiter verlassen spontan aus Protest gegen die inflationsbedingten Lohnkürzungen und gegen das Austeritätsprogramm die Fabriken. Sie bleiben einfach massenhaft weg. Das Beispiel macht Schule, ganz Argentinien ist in einem spontanen, von keiner Gewerkschaftszentrale organisierten Generalstreik, eine Woche lang. Die Regierung nimmt das Austeritätsprogramm zurück.
Da die Arbeiter die offizielle Gewerkschaftsführung häufig nicht mehr anerkennen, beginnen die Fabriken, mit ihren Belegschaften direkt zu verhandeln.
Oktober 75: FIAT zieht sich zurück, schließt den Materfer-Betrieb, solange, »bis die Voraussetzungen einer zivilisierten Koexistenz gesichert sind«. Die Manager waren von den Arbeitern festgenommen worden. Das Langsamarbeiten habe die Produktion auf ein Drittel fallen lassen. »Es ist unmöglich gewesen, (in den letzten Monaten) Ordnung, Autorität, Sicherheit und Produktionsrhythmen wiederherzustellen«.
Ab Sommer 75 bilden sich Koordinationskomitees in den Stadtteilen, getragen von den Streikbewegungen der Großbetriebe. In diesen Komitees entwickelt sich die Zusammenarbeit zwischen Arbeitern, Militanten und Organisierten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auch außerhalb der Fabrik. Für die Arbeiterklasse sind diese Komitees wichtig für die entstehenden Strategiedebatten und die Festigung informeller Strukturen, angesichts der Desintegration der CGT-Gewerkschaft. Vor allem im Norden und Westen von Buenos Aires und in Cordoba entstehen aus den Komitees wichtige parallele Strukturen.
Es ist die Zeit, in der fast jeder Arbeitskonflikt in bewaffnete Aktionen mündet. Die politischen Organisationen bereiten sich auf einen «langanhaltenden Volkskrieg» vor. Es wird offen darüber diskutiert, daß die Aktualität der US-Strategie – der Installierung von Militärdiktaturen in ganz Südamerika – in Argentinien nur noch eine Frage von Monaten ist.
Schon 1975 war in den nordwestlichen Provinzen der Notstand ausgerufen und das Militär gegen Guerilla und die Kämpfe der Zuckerrohrarbeiter eingesetzt worden. Schon 1975 installierte die Regierung Isabel Peron / Lopez Rega die Todesschwadrone als verdeckten bewaffneten Arm der Konterrevolution. 1975-77 schließen sich die Mörderbanden im Dienst des Kapitals zusammen, d. h. gehen über zur planvollen Ermordung von über 30.000 Menschen. Die Daten liefern Werkschutz, rechtsperonistische Gewerkschafter, Polizei, Geheimdienste. Die schwarzen Listen, d. h. die Ankündigung der gezielten Massenmorde, werden den Opfern vorweg zugestellt. Die kämpfenden Organisationen ziehen sich teilweise vom Land zurück, wo sie dem Militär nicht standhalten können, und begeben sich in den Schutz der Arbeiter der Großbetriebe.
Trotz Einsatz des Militärs in den Fabriken gelingt es der Militärdiktatur in den ersten zwei Jahren nicht, die Arbeitermacht dort völlig zu brechen. 1976 ist der drastische Produktionsabfall in der Automobilindustrie noch ganz auf Langsamarbeiten und Sabotage zurückzuführen: 1976 werden in Argentinien weniger Fahrzeuge produziert als 1966! Im Herbst 1976 findet ein großer Streik in der Automobilindustrie statt, aber nur vereinzelt können die Arbeiter an den terroristischen Lohnverfügungen der Diktatur vorbei Lohnerhöhungen durchsetzen, die der allgemeinen Lohnabwertung um 40-50 Prozent seit 1976 wirkungsvoll entgegensteuern (so 1978 die MercedesBenz-Arbeiter). Angesichts der massiven Unbeugsamkeit und dem relativen Mangel an gut ausgebildeten Arbeitern wagt das Militär nicht, in der Öffentlichkeit zu chilenischen Verhältnissen überzugehen. Die tatsächliche Repression in den Arbeitervierteln – abseits der Öffentlichkeit – ist zielsicherer und fast mörderischer als in Chile.
Die letzte Antwort, als Versuch, die Massenarbeiter-Festungen zu schleifen, erteilt das transnationale Kapital weltweit ab 1978/79 mit einem weiteren Schub an internationaler Flexibilisierung der Produktion, mit dem Mittel der »Schuldenkrise«. Dieser Schub beendet das Entwicklungsmodell, das je nach Produktionssektor 1930-1945 (Automobilindustrie: 1958/59) in den drei Kontinenten verankert worden war. Mit transnationalem Kapital war eine Produktionsstruktur errichtet worden, die jetzt innerhalb weniger Jahre liquidiert oder zutiefst umgestaltet wird. Ähnlich wie mit dem Beginn des New Deal in den USA war der direkte Anlaß für diesen Umbruch, für das Installieren neuer Arbeits- und Gesellschaftskontrollinstanzen, der erreichte Grad von Organisation und Widerstand der Arbeiter. Bevor weiter unten die neuen Charakteristika benannt werden, zunächst ein paar Zahlen zur Kenntlichmachung des Einbruchs, den die Arbeiter Argentiniens 1975-76 in die Autoproduktion schaffen, und zur dann einsetzenden Umkehrentwicklung:
(1970=100)
Jahr | Produktionsvolumen | Beschäftigung | Produktivität |
---|---|---|---|
1970 | 100,0 | 100,0 | 100.0 |
1971 | 106,9 | 103,0 | 103,8 |
1972 | 112,8 | 105,3 | 107,1 |
1973 | 116,8 | 108,6 | 107,5 |
1974 | 122,7 | 114,8 | 106,9 |
1975 | 118,4 | 119,2 | 99,3 |
1976 | 114,9 | 115,3 | 99,6 |
1977 | 121,4 | 108,2 | 112,2 |
1978 | 108,1 | 97,7 | 110,6 |
1979 | 125,1 | 95,6 | 130,9 |
1980 | 122,3 | 88,2 | 138,7 |
1981 | 102,8 | 77,1 | 133,3 |
Quelle: Ausarbeitung nach Daten der INDEC
Im Mai 78 setzen 280 000 Arbeiter von 250 Unternehmen im Industriegürtel durch Streik Verbesserungen für eine Million Arbeiter der Region durch. Der Kampf hatte sich auf alle Ebenen, von der Abteilung bis in die Wohnbezirke, ausgedehnt und dauerte sechs Monate lang. Vorreiter waren die Automobilarbeiter, die bisher nur einmal (1973-74) einen Steppenbrand in Brasilien ausgelöst hatten. Im März 1979 beginnt die zweite Runde dieses Zyklus, er versetzt auf die Jahre gesehen der Militärdiktatur als nicht mehr greifendem Machtmittel den Todesstoß und mündet seit der Produktionsumstellung und den weltweiten Lohnsenkungen (in Brasilien wie in Argentinien um 40-50 Prozent) 78/79 in die Plünderungsaufstände von 80-82.
Im Unterschied zur argentinischen Arbeiterklasse hatte das brasilianische Entwicklungsmodell seit 1964 ein Erstarken der Kämpfe nicht nur militärisch-polizeilich, sondern auch durch immer neue Migrationen zu verhindern versucht, durch die kontinentalen Vertreibungen und durch den Einsatz von Hunger als Waffe gegen die aufständischen halb land-, halb slumgeprägten Zusammenhänge.
Gerade das brasilianische Entwicklungsmodell weist als Teilstück transnationaler Ausbeutung stark nazistische Züge auf. Bis 78/79 gelingt es weder Arbeitern noch Migranten oder Bauernligen, das Modell an wesentlichen Punkten umzudrehen und als Klasse zu benutzen. Nazistisch insofern, als die "Eroberung" engstens gekoppelt war und ist mit Kapitalimport und die »Eroberten« in paternalistisch geführte Arbeitsverhältnisse oder in die schleichende Vernichtung getrieben werden.
Dieses Modell, das wie auch in Argentinien über die politischen Umbrüche 1930-1945-1957/64 eingesetzt und gefestigt wurde, kippt 1978/79. Es ist das Heer der nach Sao Paulo migrierten Armen, die in den Zentren der Industrialisierung die brasilianischen Arbeitsverhältnisse in den Kämpfen von Grund auf erschüttern und die wesentlichen Pfeiler dieses Systems einknicken. »Politischer« Ausdruck ist das Entstehen der »authentischen« Gewerkschaften und der Arbeiterpartei (PT), die in den folgenden Jahren aber zugleich zum Dreh- und Angelpunkt neuer Instanzen politischer Abgehobenheit gegenüber der Klasse geworden ist.
Ab 1979/80 folgt eine Entlassungswelle auf die andere, die alten Produktionsverhältnisse werden umgekrempelt und mit den weltweit gleichen Instrumentarien – technologischer Angriff, Auswechseln der Belegschaft, Flexibilisierung – liquidiert bzw. kapitalintensiv neu ausgerichtet. (Die VW-Käfer-Produktion ist im Herbst '86 eingestellt worden, neue Produktionslinien werden im internationalen Verbund jetzt hochgezogen.)
Zwei große Fragen müssen gestellt werden, wenn wir die benannten Kämpfe auf die weltweite Dimension des Klassenkampfs beziehen.
a) Warum ist das Entwicklungsmodell der Transnationalen erst so spät gescheitert (und nicht 1967/68 oder 1973-76), warum haben die revolutionären Bewegungen 1973-76 nur an wenigen Punkten (Vietnam, Angola, Zimbabwe) den Umsturz geschafft, warum sind sie aber in den meisten Ländern in blutigste Stellungskriege – Krise des Kapitals/Erdölkrise als Waffe und bewaffneter Kampf/Vernichtungsdiktaturen – verwickelt worden?
b) Was bedeutet das Scheitern des Entwicklungsmodells für den weltweiten Klassenkampf, wie weit drückt sie eine allgemeine historische Krise des Kapitals aus?
Zu a.: David Campora (MLN Uruguay) hat kürzlich von den Diskussionsprozessen, in denen sich die Tupamaros zur Zeit befinden, hier in der BRD berichtet und die Niederlage der Tupamaros an folgenden Punkten festgemacht, die sich unter Vorbehalten auch auf andere Länder übertragen lassen: Zum einen sei die Machtfrage nicht wirklich gestellt worden, zum anderen sei der Gegner (USA und Militär) nach einer jahrelangen Kette ausschließlicher Erfolge unterschätzt worden.
Für Argentinien gilt, daß der Militärputsch dort nicht überraschend kam. Die kämpfenden Organisationen hatten sich seit Jahren auf Widersprüche im Lager der Bourgeoisie eingestellt, die im Augenblick der Zuspitzung der Kämpfe manifest werden würden, und hatten nicht alle Kräfte auf die Machtfrage selbst, auf den Sturm auf die Zentren des Kapitals und der Gesellschaft konzentriert. Die Diktatur, selbst die Wiederherstellung kapitalistischer Ordnung mit offen faschistischen Mitteln, verlief als Schulterschluß zwischen allen Kapitalfraktionen. Kommando und Arbeitshierarchie waren an allen Punkten so weit geschwächt, daß der Bourgeoisie alle Mittel recht waren. In der gleichen Zeit ideologisierten die kämpfenden Organisationen noch über »nationales Kapital« und die Widersprüche im Lager der Bourgeoisie, die sich durch eine Militärdiktatur nur verschärfen und der Guerilla die Arbeit nur erleichtern würden. Die politische Perspektive machten diese Organisationen nach wie vor an Entwicklungsmodellen »nationaler Art« fest, die mit den politischen Erfordernissen der Praxis, der Entfachung des Klassenkampfes, mehr und mehr in Widerspruch gerieten.
Zwar richteten sich die Austeritätsprogramme ab 1973/74 auch und besonders fühlbar gegen die Mittelschichten, die die anstehenden Umbrüche aber nicht als Proletarisierung, sondern als notwendige Umstellung des Kapitals auf die internationalen Märkte hinnahmen.
Schließlich müssen wir auch die Konsequenzen aus der furchtbaren Erfahrung thematisieren, daß gerade die Organisationsansätze, die vom Land ausgingen (d. h. von den potentiell dem Hungertod Ausgelieferten, ohne daß das so begriffen und thematisiert wurde), militärisch am leichtesten liquidiert werden konnten, und sich ihrem theoretischen Programm widersprechend in den Schutz der Großfabriken oder sogar der Kirche (in Brasilien) zurückziehen mußten. Die Großfabriken hielten in Argentinien am längsten der Diktatur als nicht kontrollierter Raum stand, und die Arbeiter nahmen vorübergehend viele Militante in die Fabriken und Stadtteile auf.Die Organisationsfrage und die Kampfbedingungen erinnern in den Vernichtungs- und Produktivitätsperspektiven an den Kampf gegen den Nazifaschismus: einerseits das aufständische Land als Ghetto, andererseits der langanhaltende Volkskrieg in den Fabriken, gegen die Zentren gerichtet, als Partisanenkampf.
Ist die Lage heute und in Zukunft anders oder ähnelt sie im Grunde den Ausgangssituationen der 60er Jahre? Zumindest kann man feststellen, daß das, was damals begrenzte Gebiete waren, heute Regionen kontinentalen Ausmaßes sind. Das Proletariat Zentralamerikas ist heute aufständisch, während sich das Proletariat Südamerikas auf einen kontinentalen, langanhaltenden Kampf gegen und in den Zentren des transnationalen Kapitals einstellt.
Lokale Bekämpfung der Aufstände und der proletarischen Zusammenhänge durch Militärdiktaturen greift nicht mehr, stattdessen richten sich die weltweiten militärisch-polizeilichen Bestrebungen auf die Abschottung zwischen den kontinentalen Regionen, zwischen Zentren und Migrantenherkunft, zwischen »Krisengebieten« und Produktionszonen. Die massenhafte Durchbrechung dieser Abschottungen, die Ausweitung des Klassenkampfs über diese Grenzen hinweg bekommt strategischen Charakter.
Zu b.: Zwei falsche Lesarten der Krise spuken in der linken Szene herum: Da ist einmal die nicht ausgesprochene These von der Allmacht des Kapitals, das aus jeder Krise fast noch gestärkt hervorgehe, und dann die folkloristische Auffassung der ewigen Ablösungen von Militär und »Demokratie« in den drei Kontinenten. Das Ende des gegenwärtigen Entwicklungsmodells kann man heute allerorten konstatieren, ohne daß dies der Behauptung gleichkommt, daß das weiter in die Krise geratene Kapital nicht mehr in der Lage wäre, neue Ausbeutungszyklen und Produktionsverhältnisse zu etablieren. Jede Krise des Kapitals ist in Konsequenz nicht nur Angriff auf die Arbeiterklasse, sondern zwingt das Kapital strategisch gesehen mehr und mehr zum Rückzug: 1973/74 war nicht nur die Zeit der Erdölwaffe für das Kapital, sondern es begrenzte in der Folge die Entwicklung nur noch auf einen mittleren Restbestand der sogenannten »Schwellenländer«. 1978/79: Von den »Restländern« bleibt nur noch Brasilien und Südkorea übrig. Länder wie Argentinien, ab 1984/85 auch Mexiko, fallen raus. Weltweit konzentriert sich das transnationale Kapital mehr und mehr auf abgeschottete Zonen. »Entwicklung« obliegt nicht mehr dem im Land gebundenen transnationalen Kapital, sondern den »Strukturprogrammen« des IWF, der EG usw. Das transnationale Kapital investiert ab 1982-83 in Vorhaben, die Produktionsumstellungen und -verlagerungen fast von einem Tag auf den anderen möglich machen. Furore machte vor Jahren das Projekt »Weltauto«, das als Modell sicher nicht die ausschließliche Zukunft der Automobilindustrie benennt, aber in der Tendenz den wachsenden Verbund der Automobilindustrie über die Firmengrenzen hinweg kennzeichnet: gemeinsame Forschung, Produktionen von »Bausteinen«, mit denen sich verschiedene, firmenspezifische Automodelle zusammensetzen lassen, sind schon heute Realität. Zur Zeit spielt sich im Rahmen dieser Umstellung eine riesige Welle der Liquidierung der »alten« Arbeiterzusammenhänge und ihres Wissens, und der neuen Vergegenständlichung dieser Erfahrung in Technolgie und Produktionsstrukturen ab.
Im Unterschied zu früheren Ablösungen von Militärdiktaturen durch »Demokratien« ist dieses Mal der Wechsel nicht von keynesianistischen Ansätzen begleitet, sondern geht mit der Fortführung des transnationalen Programms einher, mit dem Programm der Austerität, der internationalen Flexibilisierung und des technologischen Angriffs. Und: im Unterschied zu früheren Restrukturierungen, die mit groß angelegten Investitionsangriffen auf die gesamte Klasse geführt wurden, erfolgt jetzt punktuelle Investition und Nettokapitaltransfer zurück ins Zentrum der Krise, in die USA.