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21.06.2015

aus Wildcat 41, Frühjahr 1987

Eine neue internationale (Studenten-?) Bewegung

»Paris, Madrid - FFM zieht mit« skandierten vor ein paar Tagen Demonstranten in Frankfurt und bezogen sich damit auf eine internationale Entwicklung, die sich bereits seit etwa einem Jahr abzeichnete. Die französischen Unruhen Ende November, Anfang Dezember 86 und die Proteste der chinesischen Studenten kurz darauf haben nur pressewirksam diesen neuen Kampfzyklus an die internationale Öffentlichkeit gebracht; bereits zuvor hatten die Studenten in Südkorea sich äußerst militant zu Wort gemeldet.

Auf den ersten Blick scheinen die Anlässe und Ziele der Studenten in Ländern wie Frankreich, Spanien, Mexiko auf der einen und China, Südkorea auf der anderen Seite ganz verschieden zu sein. Richten sich die Kämpfe der ersten gegen eine kapitalistische Hochschulreform, so beziehen sich die Kämpfe in Ostasien gegen staatliche Diktatur und Unterdrückung. Aber in beiden Fällen geht es gegen die »Modernisierung »der gesamten Gesellschaft des Kapitals, die sich nur in verschiedenen politischen Hüllen vollzieht. Über die Kämpfe der Studenten in Kasachstan gegen eine von Moskau installierte Regionalregierung wie auch die Studentenproteste in Pakistan wissen wir sehr wenig. Die Unruhen in Algerien waren eine gegen die Regierung gerichtete Mischung von Studentenunruhe und Lebensmittelrevolte. Die islamische Mobilisierung an den türkischen Unis drückt einerseits die Existenz einer neuen Bewegung nach dem Militärputsch aus, enthält aber andererseits wohl auch die Ambitionen des reaktionären Klerus auf eine diktatorische Lösung nach iranischem Vorbild. Die im Anschluß an die französischen Unruhen einsetzenden Proteste in Belgien waren gegen die gleichen Modernisierungspläne gerichtet. In allen Fällen geht es um Zulassungsbeschränkungen, Studiengebühren und die Leistungsorientierung des Studiums.

Die Krise 80/82 war zunächst der kapitalistische Hebel, um die Fabriken umzustrukturieren und die Sozialleistungen zu kürzen. Danach setzt der Umstrukturierungsdruck im öffentlichen Sektor ein (Post, Bahn, Verwaltung) und erreicht nun auch die Ausbildung. Hier geht es um zwei Sachen: die Rationalisierung der »Ausbildungs«arbeit (siehe die aktuellen Tarifauseinandersetzungen der Lehrer in Italien) und um das »Produkt«, die »Auszubildenden«. Die Ausbildung als vorfabrikliche Vergesellschaftung der Arbeit wird in einer neuen Rationalisierungswelle an die Profitinteressen angebunden. Dies erfordert überall den unmittelbaren staatlichen Eingriff: er erläßt Rahmengesetze, innerhalb derer sich dann die »Privatisierung der Ausbildung »vollziehen soll. Soweit wir es beobachten können, richten sich die Kämpfe damit in zweierlei Hinsicht auch gegen das Arbeitsdiktat. Zum einen gegen die ausschließlich produktive Orientierung der Ausbildung selbst, zum anderen gegen die mit dem staatlichen oder finanziellen Ausschluß von der »höheren Bildung »durchgesetzte Prekarisierung während und/oder nach der Ausbildung. Soviel zur objektiven Seite.

Auch subjektiv haben die »Studentenunruhen« eine ganze Menge mit einer neuen internationalen Klassenstärke zu tun. In Griechenland, Spanien, Italien, Frankreich, Nordamerika hat sich im letzten Halbjahr ein neues Spannungsfeld zwischen »Abwehrkämpfen« der alten Klassenbastionen (Stahlarbeiter, Hafenarbeiter, Bergarbeiter) und einem Arbeiterkampf aus neuen, »diffusen« Sektoren (GesundheitsarbeiterInnen, TelefonarbeiterInnen, LehrerInnen, Unentlohnte) aufgebaut. Und vor diesem Hintergrund erhalten die Studentenkämpfe Gewicht, hier finden sie KampfgenossInnen (siehe Frankreich, oder auch China: unter den in der Presse erwähnten Festgenommenen befanden sich hier nur Arbeiter). Die studentischen Kämpfe drücken das neue Niveau des Klassenkampfs nur öffentlicher und gleichzeitiger aus. Sie genießen schon von ihrer gesellschaftlichen Funktion her eine größere öffentliche Beachtung - während Streiks und Arbeiterkämpfe gezielt totgeschwiegen werden, was ihre Zirkulation durch den medialen copycat erschwert. Aber für die vielen Studenten der ersten Generation ist die Ausbildung kein isolierter Ort: seien es die Arbeiter- und Bauernkinder in Südkorea oder die »Beurs«in Frankreich; für sie ist der Verwertungsprozeß schon familiär allgegenwärtig. Und nur die Erfahrung einer neuen Angriffskraft der ArbeiterInnen kann erklären, warum die korporativen Tendenzen dieser Studentenkämpfe nicht durchschlagen, sondern sich im Gegenteil sehr intensive gesamtgesellschaftliche politische Lernprozesse abspielen, warum überall die kollektive Aktion auf der Straße gegen eine individuelle, durch Verhandlungen abgesicherte Karriereperspektive gesetzt wird.

Da die einzelnen Ereignisse vom Dezember 86 einigermaßen bekannt sein dürften, bringen wir hier keine chronologische Aufarbeitung, sondern vor allem weitergehende Überlegungen, die die Studentenrevolte in einen größeren Zusammenhang stellen. Aus der Fülle von gesammeltem Material bringen wir eine zusammenfassende Übersetzung von einem Artikel, den ein in Paris lebender italienischer Genosse für »Wobbly/Collegamenti« geschrieben hat.

Chronik der Ereignisse

Am 12. November nimmt der Senat das Universitätsreformprojekt des Ministers Devaquet an. In der Parlamentsdebatte hatte sich der Minister mehr mit seinen liberalen Freunden als mit der Opposition herumzuschlagen gehabt, die sein Projekt als zu zögerlich kritisierten und es in Richtung eines größeren »Liberalismus« verändern wollten. Daß es keinerlei reformistische Vermittlungsstrukturen mit den Studenten gibt, scheint die Regierung nicht zu beunruhigen, im Gegenteil! Jede Gelegenheit wird benutzt, um für den »Liberalismus« zu trommeln, um die Selektion und die soziale Ungleichheit zu erhöhen; erst vor kurzem wurde die Steuer auf große Erbschaften abgeschafft, man spricht davon, die Lohnstrukturen zu verändern, um Verdienste besser zu entlohnen; in den mittleren und großen Unternehmen ist die präventive Zustimmung der Behörde vor Entlassungen abgeschafft worden, den Unternehmern soll freie Hand bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit gegeben werden, den Emigranten wird das Leben noch schwerer gemacht, indem Aus- und Einbürgerung restriktiver gehandhabt werden sollen, die »Versehen« der Bullen und die Arroganz der Kontrollen vervielfachen sich, wofür die terroristische Attentatswelle vom September eine Massenlegitimation verschafft haben.

Das Gesetzesinitiative von Devaquet besteht aus folgenden wesentlichen Punkten:

  1. die Universitätsdiplome sollen nicht mehr national gleich sein, sondern jede Fakultät nach amerikanischem Vorbild ihr eigenes Diplom ausstellen, so daß eine Hierarchie zwischen den verschiedenen Unis entsteht;
  2. die Selektion soll verschärft werden; nach zwei Jahren an der Uni muß eine Zwischenprüfung abgelegt werden; einzelne Unis sollen Aufnahmeprüfungen machen können;
  3. die Studiengebühren sollen erhöht und je nach Numerus Clausus stärker differenziert werden;
  4. in den Verwaltungsgremien sollen die alten Barone wieder das Entscheidungsmonopol bekommen.

In dieser Situation bewegt sich die traditionelle Linke sehr defensiv und bürokratisch: auf der einen Seite beruft die UNEF-ID (größte Studentengewerkschaft, von Sozialisten und Trotzkisten kontrolliert) ihre »Generalstände« an der Sorbonne für den 22. November ein, auf der anderen Seite ruft die FEN (Nationale Gewerkschaft des Erziehungswesens) für eine nationale Demonstration gegen die Erziehungspolitik der Regierung auf.

Am 17. November beginnt der Streik an der Uni von Villetaneuse – einem Kaff irgendwo im Nebel nördlich von Paris –, ohne daß dem irgendjemand besondere Bedeutung beigemessen hätte; denn alle denken, daß die UNEF-ID bei der Eröffnung ihrer Generalstände einige Unis im Streik vorweisen können will, damit sie mit dem Minister verhandeln können.

In Nanterre scheinen die erst vor kurzem in die Sozialistische Partei übergewechselten Ex-Trotzkisten der UNEF-ID noch am 20., kurz bevor auch diese Uni in den Streik tritt, äußerst vorsichtig und besorgt zu sein: wir müssen aufpassen, ein Streik in dieser Situation kann gefährlich sein, vor allem an einem symbolischen Ort wie Nanterre, wir müssen uns das nochmal gut überlegen.

Wie gewöhnlich haben sie nichts kapiert.

So werden die »Avantgarden« also vom Lauf der Dinge überrollt. Die Vollversammlung von Nanterre beschließt noch am selben Nachmittag den Streik. Die Fakultäten beteiligen sich unterschiedlich: Sprachen und Gesellschaftswissenschaften fast vollständig, in Wirtschaft und Jura fast niemand, dort gehen sogar einige Seminare in aller Ruhe weiter, gleichzeitig zur Entwicklung der Bewegung.

Beim Zusammentreten der Generalstände am 22. sind bereits 8 Unis im Streik. Le Monde beginnt, Besorgnis über eine Bewegung auszudrücken, die sich wie ein Ölfleck ausweitet, und den institutionellen Rahmen zu verlassen droht. Die Generalstände der UNEF-ID werden zu einem unerwarteten Erfolg und fallen praktisch mit der Bildung einer ersten nationalen Koordination der streikenden Unis zusammen. Ein allgemeiner Streik wird proklamiert und für eine Demo am 27. aufgerufen.

Die von der UNEF veranstaltete Demo am 23. wird zur ersten offiziellen Gelegenheit für die Studenten, aus den Unis raus auf die Straße zu gehen. Es sind viele: insgesamt vielleicht 100 000.

Am 25. November sind 50 von 78 Unis im Streik. Mehrere tausend Gymnasiasten gehen spontan auf die Straße und fallen ins Quartier Latin ein: seit dem 25. vergeht kein Tag mehr, an dem nicht einige tausend Schüler und Studenten zwischen der Sorbonne, dem Boulevard St. Michel und dem Boulevard St. Germain demonstrieren - ohne offiziellen Aufruf, aus Freude, mit Verabredungen für den nächsten Tag, so daß sich die Zahl der Eingeladenen ständig erhöht.

Zwei verschiedene Bewegungen verflechten und vermischen sich auf der Straße:

An den Unis sind die Studentengewerkschaften in gewissem Maß präsent, die Mechanismen der »Beteiligung« lösen kein besonderes Interesse aus, funktionieren aber; insgesamt sind die Studenten politisch vorsichtiger und überlegter. Ein Teil dieser Generation ist stark von »liberalen« Werten beeinflußt; Individualismus und Sozialdarwinismus haben zum Teil Breschen geschlagen in einer Umgebung, die bereits aus dem Umstand, an der Uni zu sein, in einem gewissen Maß mit Selektion hat umgehen müssen. Sie kämpfen gegen einen Minister, den viele von ihnen als unfähig, als »Techniker« darstellen, der aus der Forschung komme und auf politischer Ebene ein Dilettant sei.

Die Schüler sind sehr viel spontaner, sowohl auf den Demos als auch in ihrer Art, die Dinge wahrzunehmen; unter ihnen gibt es keine gewerkschaftlichen Strukturen, dafür haben die antirassistischen Mobilisierungen viel Einfluß gehabt. Das Gefühl für die Gemeinschaft ist stärker; die Generation ist insgesamt nicht sehr erfaßt worden von den Mythen des individuellen Fortkommens; im Gegenteil scheint sich ein Kollektivgeist abzuzeichnen, wie man ihn schon lange nicht mehr gesehen hat. Der Altersunterschied zu den Studenten wird durch den sozialen Unterschied verschärft: die massive Präsenz von Jugendlichen nicht privilegierter Herkunft ist möglicherweise die bessere Schaltstelle mit weiten Sektoren der Lohnarbeit. Die Anwesenheit der LEP (technische Berufsschulen) wird, auch wenn sie zahlenmäßige bescheiden war, auf politischer Ebene bemerkt werden.

Alle sind sich einig in der Ablehnung der Gewalt, und auch im Falle von faschistischen Provokationen sieht man darin etwas, das zur Niederlage der Bewegung beiträgt, wie ein fremdes Land, von dem man sich nicht verführen lassen darf. Diese Geisteshaltung macht es möglich, daß sie der Polizei gegenüber nicht feindlich auftreten, es kommt sogar zu einigen spontanen Annäherungsversuchen. Mit der Ablehnung der Gewalt einher geht die Ablehnung der Politik und ihrer Spielchen, was es sowohl der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, wie auch den trotzkistischen Grüppchen und allgemeinen der extremen Linken unmöglich macht, die Bewegung zu beeinflussen.

Auf der Demo sind die Schüler in der Mehrheit; es sind dermaßen viele, daß die Polizeiketten auf dem Weg zum Parlamentsgebäude überrannt werden und sich zurückziehen müssen. Danach geschieht etwas, das seit dem 6. Februar 1934 nicht mehr vorgekommen war und das eine gewisse psychologische Einwirkung auf das Land hat: die Demonstranten ziehen vor die Nationalversammlung und umzingeln das Gebäude. Sie verlangen, den Minister zu treffen. Le Pen kommt gerade rechtzeitig heraus, um ausgepfiffen und ein bißchen verspottet zu werden.

Vor allem unter den Schülern, aber auch unter den Studenten ist der Anteil der Frauen sehr hoch (etwas weniger in den Koordinationsorganismen), aber bemerkenswert ist auch die Teilnahme der nordafrikanischen Jugendlichen der zweiten Generation: diese Demos signalisieren wahrscheinlich auf sichtbare Art und Weise das Herauskommen aus einem Zustand der ethnischen Absonderung. Und schließlich muß auch erwähnt werden, daß sich die Bewegung über ganz Frankreich ausgedehnt hat, die Demos liefen in fast jeder Stadt, in der Provinz genauso wie in den »überseeischen Territorien«.

Am 28. wird die Gesetzesvorlage in den Ausschuß zur Diskussion über drei Punkte zurückverwiesen, die parlamentarische Diskussion wird verschoben. Gleichzeitig demonstrieren etwa 20 000 Schüler in der Nähe der Nationalversammlung. Die Strategie der Regierung wird an diesem Punkt klarer: am 30. erklärt Chirac im Fernsehen, die Bewegung sei das Produkt eines »Mißverständnisses", was mit der ungenauen Kenntnis des Reformtextes zusammenhänge; er spricht »mit dem Herzen in der Hand« und schlägt vor, die am meisten umstrittenen Punkte zu ändern, um so das Wesentliche zu retten.

Die Studenten nehmen die Rede von Chirac als Beleidigung auf und reagieren durch den Versuch, die Bewegung auszuweiten; von den Streiks geht man zu Besetzungen verschiedener Fakultäten über; gleichzeitig gehen weitere Unis in den Streik - darunter die erst neulich gegründete von Reunion in der Karibik. Die Debatte in der Bewegung wird dichter, es kommt zu ersten Spannungen mit Nicht-Streikenden und an der Sorbonne mit dem Wachpersonal. Die Bewegung verlangt un ohne jeden Abstrich, daß die Gesetzesvorlage zurückgezogen wird. Zu diesem Zweck wird eine Delegation nominiert, die den Minister am Ende der Demo treffen soll. Ihr Auftrag ist präzise: die Vorlage soll ohne Verhandlungen zurückgezogen werden.

Am Donnerstag, dem 4. Dezember überflutet eine Demonstration von 8 Kilometern Länge, mehr als 500 000 Menschen, die Straßen von Paris; gleichzeitig laufen -zig andere Demos in ganz Frankreich. Der Enthusiasmus ist auf seinem Gipfel, der Minister wird sich nicht weigern können, angesichts dieser Zahlen die Vorlage zurückzuziehen. Aber je größer die Erwartungen sind, um so härter die Wut über einen Gegner, der die Demo verniedlicht und von einigen Zehntausend Personen spricht. Die Studenten hatten sich gesehen, hatten sich gezählt, aber sie hatten den Zynismus der Politiker nicht mitgezählt. Die Reaktion wird hart.

Gegen 19.30 Uhr kommt die Delegation von ihrem Treffen mit dem Minister zurück, der gerade die Forderungen zurückgewiesen hat. Mehrere Hunderttausend Menschen warten auf dem Invalidenplatz. Im selben Moment fangen die Bullen zu schießen an. Die Zusammenstöße weiten sich schnell aus. Zu Beginn versucht der Ordnerdienst, sich zwischen die verzweifelten Demonstranten und die Bullen zu werfen, verdrückt sich dann aber. Viele von ihnen streifen sich die Armbinde ab und beteiligen sich an den Kämpfen. Die Studenten sind technisch nicht vorbereitet, aber der Wind weht gegen die Bullen und bläst das Tränengas auf sie zurück.

Erst spät in der Nacht, nach 23.30 Uhr, wird der Platz geräumt. Es bilden sich Kleingruppen, die Richtung Quartier Latin ziehen. Die Kämpfe gehen bis ein Uhr weiter, als in der Nähe der Sorbonne die letzten Schüsse der Polizei die letzten Demonstranten überzeugen, sich aufzulösen. Die Motorrad-Kommandos der Bullen fangen nun an, die Viertel zu durchkämmen und machen Jagd auf Passanten und auf einige Studenten von außerhalb. Einigen Hundert Demonstranten gelingt es, ins Jussieu (Uni in Paris) reinzukommen, nachdem sie mit dem Rektor verhandelt haben, um vor den Bullen Zuflucht zu suchen. Drinnen halten sie eine Versammlung bis zum Morgen ab.

Der 4. Dezember wird entscheidend für die Bewegung. Eine dumpfe Wut gegen die Regierung tritt an die Stelle der apolitischen Haltung. Man sucht nicht mehr den Dialog mit der Polizei, sondern sieht sie als das, was sie von Natur her ist: als Feind. Alle verstehen jetzt, daß es nicht reicht, viele zu sein, zu singen und zu demonstrieren ... es ist keinerlei Zusammenkunft nötig, um die Demo vom 5. Dezember gegen die Polizeigewalt zu verabreden. Diese Demo besteht in ihrer Mehrheit aus Studenten, sie ist entschlossen und läßt sich nicht von der Lust auf Fights hinreißen.

In der darauffolgenden Nacht fegen die Motorrad-Kommandos durch die Straßen um die Sorbonne und erschlagen Malik Oussekine, einen braven Jungen ohne Flausen im Kopf, algerischer Herkunft. In jeder Hinsicht die falsche Person. Der Mord an ihm wird zum Symbol für die Verbissenheit der Regierung gegenüber den Studenten, die Emigranten der zweiten Generation, die Ungeschütztesten in gesellschaftlicher und menschlicher Hinsicht; zum Exempel, zu was der »Liberalismus« an der Macht führen kann.

Am 6. findet eine Demo vor der Sorbonne statt, auch diesmal war kein Aufruf dazu nötig. Die Gesichter sind hart. Die Spannung läßt sich mit Händen greifen. Die Zusammensetzung hat sich verändert. Relativ weniger Schüler und Studenten, viele ältere Gesichter. Es sind viele, die 68 nicht vergessen haben.

Der Zug beginnt schweigend; dann beginnen die Slogans, die diesmal direkt gegen die Regierung gehen. Auf der Place d'Italie muß der Ordnerdienst eine Gruppe von Bullen bitten, sie sollen sich aus der Sichtweite der Demonstranten entfernen. Die nationale Koordination überwindet die Schranken des studentischen Korporativismus und gibt einen Appell an die Bevölkerung heraus – der vielleicht naiv ist, aber eine große Wirkung auf die gesellschaftliche Vorstellungskraft hat – , sie solle eingreifen und ihre Ablehnung der Polizeigewalt zeigen. Effektiver Adressat dieser Botschaft sind die Gewerkschaften, die nicht mehr ausweichen können und einen einstündigen Streik für Montag, den 8. ausrufen. Die Gewerkschaften hatten vorher dem Reformpaket zugestimmt, ihr Streikaufruf hat nun einen solchen Erfolg, daß die Führung erschrickt. Um 13 Uhr gibt Chirac bekannt, daß die Gesetzesvorlage zurückgezogen wird. Am Tag darauf verkündet er eine »Pause« in den Arbeiten des Parlaments und verschiebt die Reformen der Aus/Einbürgerung, das Vorhaben, private Knäste einzurichten und die Abschaffung der Kostenübernahme bei Abtreibung auf bessere Zeiten. Die Bombe, die im Zusammenkommen der Studentenbewegung mit der Frauenbewegung mit den jugendlichen Immigranten der zweiten Generation und den keimenden Spannungen in der Arbeiterklasse bestanden hätte, ist entschärft.

Auf der Demo am 10. sind mehr als 200.000 Menschen jeden Alters und Herkunft: Schüler, Studenten, Rentner, Lehrer, Arbeiter, Gewerkschaftsbürokraten, Gruppen von Jugendlichen aus der Umgebung von Paris usw. Im Lauf von zwanzig Tagen hat sich die Stimmung total verändert: die Bewegung, die weder Slogans, Schriften, Flugblätter noch Plakate hatte, läßt keinen Meter Raum entlang des Umzugs weiß, überall werden Flugblätter verteilt, innerhalb und außerhalb der Demo, -zig Flugis von kleinen Gruppen, die sich in diesen zwanzig Tagen gebildet oder wiederzusammengefunden haben gehen von Hand zu Hand und werden aufmerksam gelesen.

Am Tag danach das letzte Beispiel der Tugenden der direkten Demokratie: die nationale Koordination der Studenten proklamiert die Selbstauflösung und schließt ihre Sitzung mit dem Singen der Internationale. Der Kampf hat sich gelohnt, die ursprünglichen Ziele der Bewegung sind erreicht worden, es ist also unnütz, eine Struktur aufrechtzuerhalten, die zu einer Bürokratie außerhalb des Kampfes würde, der sie hervorgebracht hat. Natürlich stehen hinter dieser Selbstauflösung auch die Ängste der verschiedenen Studentengrüppchen, Konkurrenten beim Versuch zu haben, die Früchte des Kampfs einzuheimsen, aber das Beispiel wird einige Tage danach von den Eisenbahnern aufgegriffen.

Wie und warum

Aber welches sind die Charaktere, die Motive, die Stärken und die Schwächen dieser Bewegung? Ein Blick auf das Gesamte muß sich auf einige Schematisierungen beschränken.

1) In Frankreich gibt es aktuell ungefähr 1.200.000 Studenten und 1.700.000 Oberschüler (von denen 817.000 auf Gymnasien gehen und 888.000 auf Berufsfachschulen). Jetzt geht ein Drittel von ihnen auf die Straße. Der Massencharakter der Bewegung ist von Anfang an das Merkmal, das am stärksten einschlägt. Sie besteht aus drei Generationen: die Jungen von den Gymnasien, die immer die zahlreichsten und spontansten sind; die Studenten, deren Beteiligung auf der Straße unterschiedlich ist und von der Situation abhängt; nach dem Mord an Malik Oussekine gab es eine dritte Komponente, bestehend aus Freunden, Eltern, Lehrern und - ganz einfach - »Alten« von '68. Die Kommunikation zwischen diesen drei Komponenten ist nicht einfach, bei den Unterschieden an Erfahrung, Sprache und Vorstellungswelt. Sie beginnt besser zu funktionieren nach der Demonstration vom 4., als die Erfahrung der Repression einige Barrikaden einreißt und ein neues »Gemeinschaftsgefühl« sich breitmacht, das sich im Kampf entwickelt.

2) Im Unterschied zu '68 fehlt ganz ein Generationenbruch zu den Eltern und Lehrern. Sie werden nicht wegen ihre Rolle und ihrer Werte angefochten. Man kann sogar sagen, daß die Bewegung die allgemeine Sympathie von Lehrern und Eltern genießt, und in einigen Fällen auch eine aktive Solidarität. Das erklärt, wie die Bewegung die ganze französische Gesellschaft und vor allem die Lohnabhängigen berührt, die zahlenmäßig die Mehrheit sind. Es handelt sich offensichtlich um einen sozialen Sektor, der keine »direkte« Verhandlungsmacht besitzt, in dem Sinn, daß, wenn er in Streik tritt, er keinen Mechanismus der Produktion oder Distribution blockiert. Seine Kraft ist direkt proportional zu seiner Wirkung auf die öffentliche Meinung im allgemeinen und im besonderen auf die Arbeiter. Der entscheidende Grund für seinen Sieg ist in der Tat die Furcht, die Agitation könne sich auf andere wichtige Sektoren der Gesellschaft ausweiten, die in diesem Augenblick schwer kontrollierbar sind. Die zeitliche Nähe des Sozialabbaus zu dem neuen Klima, zu dessen Schaffung die Studenten beitragen, ist ein wertvolles Indiz, um zu verstehen, welche und wie viele Spannungen sich im Lauf der letzten Jahre in der französischen Gesellschaft akkumulieren: Eisenbahner, Hafenarbeiter, Arbeiter des städtischen Transports, Elektriker, Postarbeiter und Lehrer haben sich in diesen letzten beiden Monaten gerührt, möglicherweise wegen dem nicht ungünstigen Kräfteverhältnis, in dem sie sich befanden. Im Privatsektor und allgemein in der Industrie liegen die Dinge schwieriger, aber die Spannungen sind gleichermaßen wahrnehmbar. Und es ist nicht gesagt, daß das schon das Ende war.

Aber wenn man sich fragt, warum sich gerade die Studenten gerührt haben gefolgt von den Eisenbahnern, Transportarbeitern im Personenverkehr, Lehrern etc. und nicht andere, und warum gerade jetzt und nicht vorher oder nachher, liegt die Antwort womöglich in der Tatsache, daß in diesem Moment all diesen Sektoren, die in der Lage waren sich zu rühren (und wo die Schwäche der Gewerkschaft nicht die Mobilisierung verhindert), klar wird, daß der Regierungsangriff nicht nur das Einkommen betrifft, sondern ein Ensemble von Garantien, die bestimmte Lebensbedingungen charakterisieren. Für die Studenten mag es die relative Sicherheit sein, am Ende des Studiums einen Arbeitsplatz zu finden, die in Frage gestellt wird; für die Eisenbahner ist es die Einführung des Leistungslohns, die den einzelnen Arbeiter der Willkür der Vorgesetzten aussetzt, für die Lehrer ist es der Verlust der Autonomie im Lehramt, die die Grundlage ihres Status ist etc. Es handelt sich also um ein Moment und um Sektoren, die mehrheitlich einem Angriff ausgesetzt sind, der Reduktion der öffentlichen Ausgaben, Verschlechterung der Lebens und Arbeitsbedingungen, Verschärfung der Selektion und der Hierarchie, und die erhöhte Unsicherheit gegenüber der eigenen Zukunft. Und all dies im Austausch mit nichts: es wird nur durch Zwang und Macht durchgesetzt.

3) Die von den Medien verschleierte Bedeutung der Existenz und des Anwachsens einer Bewegung, die keine eigene Ideologie und Identität entwickelt, mit der sie sich präzise gegen die sie umgebende Gesellschaft abgrenzt. Die Medien spekulieren damit, daß die Bewegung kein Gedächtnis hat und größtenteils unerfahren ist... Die rechte und regierungstreue Presse hat die Bewegung insgesamt angegriffen, während die linke Presse, vor allem die der Sozialistischen Partei, der Bewegung mehr von der Seite kommt, ihr schmeichelt, Widersprüche zwischen der Mehrheit und den radikaleren Teilen aufzureißen versucht, vor allem nach den Straßenkämpfen vom 4. Dezember.

Die Vorstellungswelt und die Werte der Bewegung sind ausreichend beschrieben worden, an dieser Stelle will ich nochmal hervorheben, daß es sich um eine ganze Generation handelt, die auf europäischer Ebene wenige wirkliche Unterschiede hat, dieselbe Musik hört, dieselben Probleme hat, dieselben Sachen studiert, sich auf dieselbe Art langweilt, dieselbe Unsicherheit gegenüber der Zukunft hat und dieselbe Lust zusammen zu sein, in Mailand, Berlin, London, Barcelona, Brüssel. Es geht dabei aber nicht nur um metropolitane Probleme: die Bewegung hat sich auf eine bis dahin unbekannte Art kapillar bis ins letzte Provinznest ausgedehnt, und das sagt viel über die Wurzeln der Probleme.

4) Die Begrenztheit der Ziele zeigt sowohl die Stärke als auch die Schranken der Bewegung, wie auch ihre »gewerkschaftliche« Form und das Fehlen einer allgemeinen Reflektion über die Gesellschaft. Der studentische Korporativismus, der einerseits der Bewegung ihren inneren Zusammenhalt gibt, schließt sie andererseits nach außen ab. Wie sonst soll man die Selektion durch Ordner am Eingang der besetzten Fakultäten interpretieren, die nach dem Studentenausweis fragen und Nicht-Studenten den Zutritt verwehrt haben? Wie sonst das Bündnis, das sich in einigen Situationen gebildet hat zwischen Universitätsbürokratie und der neuentstandenen Bürokratie der Ordnerdienste, »um die Ordnung aufrechtzuerhalten"?

Schließlich läßt sich leicht der Zusammenhang sehen zwischen dem Korporativismus und der Begrenztheit auf spezifisch studentische Themen einerseits und dem Fehlen politischer Slogans auf den ersten Demos andererseits. Wie stark ist dann der Kontrast mit den letzten Tagen, in denen Flugblätter, Lieder, Reden aller Art entstehen, Zeichen einer intellektuellen Neugierde und einer politischen Empfänglichkeit, die sehr weit führen können. 5) Die Organisationsformen. Es gab keine eigentliche »Versammlungs«-Ideologie; aber gerade die Beschränktheit der Ziele hat die Entwicklung von Strukturen direkter Demokratie begünstigt, wo die Delegation von Macht - und die Notwendigkeit, diese zu delegieren um verhandeln zu können - sehr begrenzt war. Die Organisation des Kampfs war kapillar: jedes Gymnasium oder jede Fakultät hatten ihr eigenes Streikkomitee, das den Vollversammlungen Rede und Antwort stand, die Delegierten waren jederzeit abberufbar. Eine Organisationsform, die in sich eine umstürzlerische Ladung gegenüber der parlamentarischen Demokratie trägt, deren Bedeutung niemand unterbewerten konnte; aber es ist eine Organisationsform, die in dieser Gesellschaft außerhalb des Kampfes keinen Sinn hat, und dies wurde von der Selbstauflösung der Koordination sofort nach dem Sieg wirkungsvoll unterstrichen. Etwas, das die Vorstellungskraft der Arbeiter stark berührt hat und wenn möglich der Glaubwürdigkeit der unvergänglichen Gewerkschaften einen weiteren Schlag versetzt hat.

Aber sich über die direkte Demokratie zu freuen, soll nicht heißen, die Augen vor ihren Begrenztheiten zu verschließen; das waren insbesondere zwei:

a) die Kraft der Bewegung manifestiert sich auf der Straße, und da gibt es auch die größten Möglichkeiten, politisch zu lernen, während an den Orten von Studium und Leben (Gymnasium und Uni) die größten Schwächen auftreten. Die Besetzungen sind schwach, schlecht durchgeführt, oft nur symbolisch und gewöhnlich auf sich selbst eingegrenzt.

b) trotz des Scheiterns der verschiedenen Gruppen und Parteien kommt es zu einer schnellen Bürokratisierung. Die neue Bürokratie konstituiert sich um einige notwendige Funktionen herum, wie zum Beispiel das Aufstellen von Ordnerdiensten in den Fakultäten und auf den Demos. Oder zum Beispiel, wie sich die nationale Koordination von öffentlichen Tagungen zu immer geheimeren Treffen entwickelt hat.

Die Manipulierungsversuche durch die Gruppen und Parteien hat es gegeben, sie haben aber nur wenig bewirkt. Beispiele sind die verschiedenen Abrechnungen zwischen trotzkistischen, kommunistischen und sozialistischen Gruppen, die aber wenig mit der Entwicklung und den Ereignissen zu tun haben.

6) Die Frage der Gewalt und all ihre Implikationen. An erster Stelle – und zum ersten Mal in Europa – ist zu sagen, daß die Attentatsserie vom September in Paris in keiner Weise die Entwicklung der Bewegung oder die Sympathie der Gesellschaft behindert hat. Die Attentate sind augenscheinlich das Produkt einer anderen Logik und von anderen Kräften, die nichts mit den gesellschaftlichen Bewegungen zu tun haben. Das ist so offensichtlich, daß die Regierung nicht einmal versucht, sie gegen die Bewegung zu benutzen. In gewisser Weise funktionieren sie als Impfstoff für die Studenten, die während ihres ganzen Kampfes die Gewalt als etwas fremdes wahrnehmen, eine Falle, in die man besser nicht fällt, oder ein Instrument der Regierung zur Unterdrückung und Kriminalisierung.

Aber die Verweigerung der Gewalt schließt die Radikalisierung nicht aus, im Gegenteil! Es sieht fast so aus, als sei das Feld von einem falschen Problem geräumt, und nun werden die Aktionen an ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Wirkung gemessen und nicht an der Dosis von Gewalt, die sie enthalten.

Und gerade gegenüber etwas Fremdem wie der Polizeigewalt radikalisiert die Bewegung nach dem 4. Dezember ihre Positionen und weitet ihre Kampfinteressen gegen Devaquet auf andere Probleme wie den Rassismus, die Aus-/Einbürgerung usw. aus.

Die Rolle der Ordnerdienste ist die ganze Zeit über eher eine Art »Indikator« der einzuschlagenden Richtungen, der einzulegenden Pausen. Und manchmal sind sie dazu da, die Wut der Demonstranten einzudämmen, mehr auf jeden Fall, als daß sie eine »Miliz« gewesen wären, die die Bewegung verteidigt. Sicherlich eine bizarre Rolle für jemand, der an den Demos der 70er Jahre teilgenommen hat, aber sie erklärt sich aus den spezifischen Charakteristiken dieser Bewegung. An diesem Punkt ist es interessant, die Funktion von Quartiersbanden, von autonomen oder libertären Gruppen zu erwähnen, die mangels stabiler Organisationsstrukturen der verschiedenen Fakultäten oder Gymnasien eine wichtige Rolle im Knochenbau dieser Ordnerdienste spielten. Ihre Anwesenheit erklärt unter anderem, daß es nicht zu Zusammenstößen zwischen entschlosseneren Demonstranten und dem Ordnerdienst gekommen ist: das waren Leute, die sich gekannt haben, oft alte Freunde.

7) Die tieferen Motive für den Ursprung der Bewegung, die über die auslösenden Gründe hinausgehen.

Es sind die Dinge, über die wir seit einigen Jahren am Diskutieren sind, und die wir bis zum Überdruß kennen, dennoch müssen wir kurz auf sie zurückzukommen: die tödliche Langweile des Alltags, in der die Studenten zu leben gezwungen sind, und die genauso tödliche dessen, was sie studieren müssen. Die Unsicherheit gegenüber der eigenen Zukunft, die ständig steigt, während die Selektion zunimmt. Der tägliche Zwang zur Gemeinschaft, das gemeinsame Teilen desselben Schicksals - das formt eine Art kollektiver »Identität": eine Identität, die die Existenz einer wirklichen Gemeinschaft verlangt, die den Übergang zu einer »konfliktualen« Gemeinschaft fördert, die sich verdichtet und konsolidiert, indem sie sich erkennt und auf ihre Weise als Katalysator und Bezugspunkt funktioniert für die anderen Gruppen von Jugendlichen, die nicht notwendigerweise Gymnasiasten sind oder Studenten. Eine Veränderung im täglichen Leben, das dazu anregt, sich weiter zu öffnen. In Italien insbesondere haben wir eine Dynamik dieser Art 1977 kennengelernt.

Und noch etwas: die Explosion des Wunsches nach Gleichheit, der Kampf gegen die Selektion, der Wille zur Vergesellschaftung, die Entdeckung einer anderen Art und Weise zusammen zu sein (als die »Normalität"), die Möglichkeit, eine wahre Identität im sozialen Konflikt zu finden. Gegenüber diesen Elementen werden die auslösenden Motive relativ unbedeutend: wichtig ist die Dauer und Tiefe des Kampfes, die Möglichkeit, sich selbst zu entdecken und sich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verbinden. Genau hier finden wir einen Erklärungsschlüssel, den man auf die ganze Welle von Jugend- und Studentenkämpfen anwenden kann, die zum Teil recht unterschiedliche politische und gesellschaftliche Systeme erschüttert haben und erschüttern. Es gibt in der Tat fast überall zwei gemeinsame Elemente:

  • die Unfähigkeit der Regierungen, zu begreifen, zu kontrollieren und zu antizipieren;
  • die Bedürfnisse und Forderungen, die die Studenten bewegen.

Eine internationale Frage

Um die internationale Dimension der Sache zu verstehen, müssen wir ein paar Jahre zurückgehen: 1983 veröffentlichte die OECD die Bilanz eines zwischenstaatlichen Treffens ihrer Mitgliedsländer, bei dem die Delegationen auf höchster Ebene zusammengesetzt waren, oft direkt die betreffenden Minister. In diesem Text werden die Tendenzen der 80er Jahre und die größten Probleme analysiert, außerdem werden einige mögliche Lösungen ausgemacht. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in den letzten Jahren verschiedene Regierungen auch von Ländern, die nicht Mitglied der OECD sind, dem Rechnung getragen und im großen und ganzen eine ähnliche Bildungspolitik verabschiedet haben. Folgende Tendenzen und Lösungsmöglichkeiten wurden gesehen:

  1. Angesichts der Zunahme der Personen mit höherer Schulbildung wird es in den nächsten zehn Jahren zu einem Ansteigen der intellektuellen Arbeitslosigkeit und zu einer Dequalifizierung der Anstellung im Verhältnis zur Schulbildung kommen;
  2. die bestehenden Beziehungen zwischen der Universität und den Unternehmen müssen verstärkt werden, das Studium muß stärker auf die Bedürfnisse der Unternehmen ausgerichtet werden; der staatliche Anteil an der Finanzierung des Studiums muß verringert, die private Unterstützung erhöht werden;
  3. in Mitteleuropa ist eine Tendenz zur Restriktion des Zugangs zur Universität festzustellen; die Zulassungspolitik und die diesbezüglichen Unterschiede in den jeweiligen Ländern bzw. im Land selbst werden analysiert; die auf die Zulassung folgende Selektion nimmt tendenziell zu;
  4. der Zusammenhang zwischen den Finanzierungsmodalitäten und der Zulassungspolitik und offensichtlich der Art und der Ebene von Selektion wird unterstrichen. Als Stimulus zum Engagement der Jugendlichen wird eine Beteiligung an den Kosten erwogen, also eine Erhöhung der Studiengebühren, was zum Teil konterkariert wird von Stipendien, die neuen Schichten von Kunden (Kader permanenter Ausbildung usw.) den Zugang zur höheren Bildung erlaubt. Unnötig zu sagen, daß die soziale und ideologische Selektion dadurch verstärkt wird.

Wenn wir nun einen – auch nur flüchtigen – Blick auf die Bewegungen der letzten Monate werfen, finden wir fast immer im Zentrum den Kampf gegen die Selektion und die Erhöhung der Studiengebühren, sowie die Forderung nach freierem Zugang zum Studium, das als eine Möglichkeit zur Flucht vor der immer massenhafteren Arbeitslosigkeit vor allem der Jugendlichen gesehen wird (die Arbeitslosigkeit steigt tatsächlich sehr stark prozentual zur höheren Schulbildung). Der prinzipielle Punkt sind dabei die öffentlichen Ausgaben und die Frage, ob der Bildungsetat zugunsten anderer Ausgaben gesenkt wird.

Wenn wir eine schematische Unterteilung in große Gruppen vornehmen, können wir verschiedene ähnliche Merkmale ausmachen:

1) die Bewegungen in Westeuropa und allgemeiner in der OECD: Italien, Spanien, Belgien, Kanada, Griechenland.

a) in Italien hatte die Bewegung 1985 kein präzises Ziel (wie die Reform Devaquet in Frankreich), sondern sie hat sich sehr klar gegen die Dequalifizierung der Studienabschlüsse und gegen den Zustand des »Parkens", in dem sich die Studenten befinden, ausgesprochen. Die immer geringere Bindung des Studienabschlusses an die Möglichkeit, Arbeit zu finden, macht sehr direkt die soziale und Arbeitsmarkt-Selektion zum Thema und nicht nur die in der Schule oder der Universität. Verschiedene gescheite Köpfe haben dieses Unbehagen und seine Ursachen analysiert und sind dabei zu Formulierungen gelangt, bei denen sich Marx im Grabe umdreht. Aber abgesehen vom literarischen Esprit von Professor Asor Rosa und Genossen, ist eine gewisse Fähigkeit interessant, die Spannungen vorherzusehen und ihren Ausbruch zu antizipieren. Anders läßt sich auch die Bereitschaft der Gewerkschaft nicht erklären, von Beginn der Bewegung an Strukturen zur Verfügung zu stellen und Konsens zu organisieren. Ein Versuch der politischen Bevormundung, der sich nicht mehr in den traditionellen Formen abspielen kann angesichts des Mißtrauens der Studenten und Schüler gegenüber den Parteien und Gewerkschaften, hat den Minister der Opposition dazu gebracht, die eigene Jugendorganisation in eine Bande von farbigen bösen Buben zu verwandeln und die Überbleibsel der sozialen Bewegungen in die eigene Partei aufzunehmen - natürlich nach ihrem politischen Tod und nachdem er sich ihnen energisch widersetzt hatte, solange sie lebendig gewesen waren. Aber die Anstrengung hat sich gelohnt und in den letzten Monaten sind die Themen, die die Bewegung Ende 85 mobilisiert hatten, von den Solidaritätsveranstaltungen der jugendlichen Parteibürokratien mit den französischen Genossen und dem Geschiebe um den Religionsunterricht in der Schule verdunkelt worden.

b) In Spanien hat die Bewegung eine Massenhaftigkeit und Radikalität angenommen, die in anderen Ländern unbekannt geblieben sind. Von 1.500.000 in den öffentlichen Schulen eingeschriebenen Schülern und Studenten (wenn wir die der privaten Institute dazuzählen, insgesamt zwei Millionen) sind mehr als eine Million auf die Straße gegangen. Die auslösenden Gründe sind: die Erhöhung der Studiengebühren, das selektive Eingangsexamen, der Wegfall der September-Examen ("zweite Möglichkeit"), was unmittelbar den Grad der Selektion erhöht, der Numerus Clausus. Die Forderungen: Abschaffung des selektiven Eingangsexamens, Einfrieren der Studiengebühren und deren progressive Reduzierung bis zur Kostenfreiheit, Abschaffung des Numerus Clausus, Erhöhung des Bildungsetats und Senkung der Militärausgaben. In einer zweiten Phase kam die Forderung nach einem allgemeinen »Ausbildungslohn« hinzu (besser gesagt einem regelrechten Arbeitslosengeld) für alle Schüler und Studenten, deren Familie ein Einkommen unter 100/150.000 Pesos im Monat haben.

Die Bewegung ist vor allem aus Gymnasiasten zusammengesetzt und hat die weniger begünstigten Schichten der Gesellschaft erreicht. Dies erklärt die große Sympathie, die lange Zeit die Bewegung begleitet hat und die Unterstützung, die sie bei allen Gewerkschaften gefunden hat. Natürlich fehlen auch hier nicht die Versuche von Manipulation, vor allem von Seiten der Comisiones Obreras und der UGT, welche die Sindicato de Estudiantes de Ensenanza Media (das heißt, die gemäßigste Fraktion der Bewegung) gesponsort haben, und die Gruppen der extremen Linken haben die Coordinadora unterstützt, einen plenaren Organismus in den Gymnasien. Die organisatorischen Formen sind größtenteils denen der französischen Bewegung ähnlich, aber die stärkere Politisierung führt schnell zu weniger Einigkeit und zu einer Reihe von Polemiken zwischen den zwei größten Organismen. Die Radikalisierung fällt also auf weniger günstigen Boden.

Die Regierung versuchte, die Spaltung der Bewegung zu forcieren - zum Teil gelang ihr dies - und die Auseinandersetzung dadurch zu beenden, daß sie auf die Ermüdung der Schüler und Studenten und auf einen massiven Polizeieinsatz setzte. Zudem hoffte sie, daß sich die öffentliche Meinung im Lauf der Zeit weniger um die Sache kümmern würde. Trotzdem hat die Bewegung einige Erfolge: Ausdehnung der kostenlosen Schulbildung bis zum 17. Lebensjahr und auf die Universität für Familien mit einem Einkommen bis zu 141.000 Pesos (das betrifft zumindest nach Angaben des zuständigen Ministers ungefähr 80 Prozent der Studenten); eine Erhöhung der Stipendien um 25 Prozent in 1987 und um 40 Prozent im kommenden Jahr. Insgesamt eine Erhöhung der Bildungsausgaben um 40 Milliarden Pesos.

c) In Kanada entwickelt sich die Bewegung in den zehn Tagen nach dem 22. Oktober 86; sie erreicht 28 Universitäten im ganzen Land unter der Führung einer studentischen Vereinigung gewerkschaftlichen Typs. Auch hier sind die auslösenden Motive: der Angriff auf die Kostenfreiheit des Studiums, die Begrenzung des Zugangs zur Universität, die Erhöhung der Einschreibgebühren, die Reduzierung der Stipendien. Das Ganze endet mit einem Sieg der Bewegung: die Gebühren werden nicht erhöht, es werden keine Zugangsbeschränkungen eingeführt; bei den Stipendien begnügen sie sich mit einem Versprechen der Regierung.

d) In Griechenland hat es in den letzten Jahren kontinuierlich Bewegungen an den Unis gegeben und es verwundert nicht, daß es massenhafte Mobilisierung gegen ein Reformprojekt gibt, das in vielen Punkten dem von Devaquet ähnelt. Was aber interessant ist, sind die gesellschaftlichen Rückkopplungen und das Klima, in das sich die Bewegung einfügt. Im Verlauf einiger Monate sah sich die sozialistische Regierung einem Generalstreik und einer Mobilisierung von einer Breite gegenüber, wie man sie seit dem Sturz der Militärjunta nicht gesehen hatte.

e) In Belgien breitete sich die französische Seuche ziemlich schnell und praktisch zu den gleichen Fragen aus: im Mai war die Reduzierung der staatlichen Ausgaben für die Universitäten beschlossen worden. Diese Reduzierung sollte auf die nächsten zehn Jahre verteilt und von einer Erhöhung und Differenzierung der Studiengebühren begleitet werden, einer Reduzierung der staatlichen Forschungsförderung und einer Kürzung der sozialen Leistungen für die Studenten (Unterkunft, Mensa usw.). Die Bewegung war gekennzeichnet von einer starken Unsicherheit gegenüber der Zukunft und sehr studentisch geprägt; sie organisierte sich in lokalen Universitätskomitees und in einer nationalen Koordination... auf den Demos in Löwen und Brüssel waren ungefähr 12 000 Menschen; fast 170 wurden nach Zusammenstößen mit der Polizei festgenommen.

2) Eine zweite Ländergruppe, in der es in den letzten Monaten eine Studentenbewegung gegeben hat, sind afrikanische Länder, insbesondere Marokko, Madagaskar, Sierra Leone, Senegal. Die Informationen über die Entwicklung, die soziale Zusammensetzung, die Organisationsformen dieser Bewegungen sind aber ziemlich rar, und die Studenten haben in diesen Ländern von ihrer Zahl her nicht das Gewicht und die gesellschaftliche Bedeutung wie die 1.200.000 Studenten in Frankreich (in Senegal gibt es zum Beispiel 115.000 Studenten). Dennoch geht von diesen Bewegungen ein interessantes Signal aus: auch in diesen Ländern ging es um die Erhöhung der Studiengebühren, die Verschärfung der Selektion, die Verschlechterung der Lebensbedingungen (die bereits jetzt nicht sonderlich sind). Wir müssen aber bedenken, daß es in diesen Ländern bereits ein gesellschaftliches Privileg ist, an der Uni zu sein, und daß diese sich herausbildende neue Technokratie insgesamt sich in einem Kampf für die Anerkennung als Elite über dem Rest der Bevölkerung befindet. Schließlich dürfen wir auch das Gewicht des Kampfes gegen die Korruption und für die Rationalisierung der gesellschaftlichen Systeme nicht vergessen, bei dem »Kapitalismus« und »Sozialismus« nur zwei Gesichter einer militärischen oder neokolonialen Bürokratie sind.

3) Zwei Länder, die sich von den anderen in der Dritten Welt, Westeuropa und Nordamerika unterscheiden:

a) In Mexiko waren etwa 500.000 Studenten auf den Straßen gegen die Erhöhung der Studiengebühren und die Verschärfung der Selektion; ihre Forderungen sind denen ihrer französischen und spanischen Kollegen sehr ähnlich. Aber genauso verschieden ist die allgemeine Situation: eine der höchsten Auslandsverschuldungen der Welt, eine Korruption, die alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens betrifft, die politische Macht in den »demokratischen« Händen einer Einheitspartei, die mit ihrem mafiahaften Klientelsystem jede auch nur kleine Veränderung verhindert, Niedriglöhne, die kaum das Überleben ermöglichen, eine Universität mit 350 000 Studenten in einer der größten und chaotischsten Metropolen des Planeten, und schließlich das Gewicht der 300 Toten in den Studentenbewegungen 1968, die niemand vergessen hat und die noch immer der Regierung Angst machen.

b) In Algerien hatte die Polizei zwischen dem 9. und dem 11. November an der Universität von Constantine besonders hart eingegriffen. Daraufhin waren die Studenten und die ganze Stadt auf die Straße gegangen und haben alles, was irgendwie etwas mit der Regierung zu tun hat, angegriffen und geplündert (öffentliche Gebäude usw.). Die Repression war sehr hart, gleichzeitig aber nahm die Regierung die vorgesehene obligatorische Einführung politischer und religiöser Erziehung an den Schulen zurück. Es gelang der Regierung, die Bewegung zu zerschlagen , indem sie eine Übereinkunft mit den Studenten erreichte und die Eingeknasteten freiließ. Im Gegenzug hatte sie freie Hand mit den anderen Jugendlichen, die sich an den Unruhen beteiligt hatten.

Die Regierung wollte hinter der Revolte von Constantine die Hand islamischer Fundamentalisten, marxistischer Extremisten, der Opposition und - selbstverständlich - ausländischer Agitatoren sehen. Aber viel banaler: man braucht nur die Lebensbedingungen zu betrachten, das Fehlen von Perspektiven für die jungen Studenten und Arbeitslosen, die Zersetzung des gesellschaftlichen Lebens, in dem das einzige neue Element das Wachsen des religiösen Fundamentalismus darstellt. Das politische System bietet weder Alternativen noch Auswege an: die einzige Art, sich kollektiv auszudrücken, ist die Revolte. So war es auch in Tizi-Ouzu 1983 gewesen.

Schließlich gibt es eine Reihe von Ländern, in denen die Studentenbewegungen sich mit politischen Bewegungen zusammengeschlossen haben, die eher traditioneller Art waren, so daß es nicht richtig wäre, auch die zu dieser Kampfwelle zu zählen. Das ist zum Beispiel der Fall in Salvador, wo die Bewegungen auf spezifische Art an den Staatsstreich des Militärs gebunden war. Es ist genauso der Fall in Korea, wo die Studenten seit mehreren Jahren die Speerspitze einer Bewegung gegen die Diktatur, für die Vereinigung von Nord und Süd und gegen die amerikanische Einmischung sind; hier wäre es schwierig, zwischen ihren spezifischen Forderungen und den allgemeinen Demonstrationen unterscheiden zu wollen.

Und das ist auch der Fall in Peru, wo die Repression der Regierung auf die Studenten losgegangen ist im Rahmen des Antiguerilla-Kampfes des Sozialisten Garcia.

4) Schwieriger zu beurteilen ist die Revolte in Alma Ata. Die Informationen kommen hier nur von einer Seite, deshalb müssen wir zwischen den Zeilen lesen und mehr auf das achten, was sie nicht sagen oder wo sie sich widersprechen. Ganz weglassen können wir die Hetze und die Desinformation des KGB gegen die Studenten: sie seien eine Bande Besoffener gewesen, alles Mafiosi aus dem Umkreis des abgesetzten Sekretärs Kunaev, aufgewiegelt von den islamischen Fundamentalisten usw.

Natürlich gibt es solche Machtkämpfe und ebenso ein Wiedererwachen des islamischen Fundamentalismus, aber das scheinen nicht die Motive der Revolte gewesen zu sein. Die Tatsachen sind viel einfacher und verweisen auf viel tiefere Wurzeln: die übliche Verschwörungstheorie trägt zu ihrer Erklärung nicht bei.

Einige tausend Studenten gingen mit Plakaten und Transparenten auf die Straße. Sie protestierten eher gegen den neuen von oben eingesetzten Sekretär, als daß sie den alten unterstützten: es handelte sich um die x-te Amtsverletzung der Zentralregierung. Einige Lehrer begleiteten sie (und haben sich damit jahrelange Gefängnisstrafen eingehandelt). Die Zusammenstöße dauerten zwei Tage; da die Studenten nicht bewaffnet waren, läßt sich das vernünftigerweise nur damit erklären, daß die Polizei den Protest nicht vorausgesehen hatte. Denn normalerweise kommt man in der Sowjetunion nicht mal dazu, auf die Straße zu gehen. Es gab wahrscheinlich etwa 30 Tote. Und wahrscheinlich hat sich ein Gutteil der Stadt mit den Demonstranten solidarisiert.

Die Motive unter anderem: Nationalitätenprobleme in Kasachstan, wo die Kasachen in ihrem Mutterland in der Minderheit sind und die Russen knapp die Mehrheit bilden; materielle Probleme wie Nahrungsmittelversorgung, Knappheit an Konsumgütern, hohe Preise; vor allem aber die Probleme der Jugendlichen: soziale Aufsplitterung, Frustration, Mangel an Perspektiven - wie in jeder anderen sowjetischen oder westlichen Metropole.

Die Situation in der UdSSR ist natürlich wesentlich komplexer, als daß wir sie auf die Fragen der Revolte von Alma Ata reduzieren könnten; aber die Tatsache, daß diese ausgebrochen ist und daß sie einiges andere an den Tag gebracht hat, ist wichtig für das Verständnis, daß auch in diesem Staat nicht alles durch die Repression gelöst oder auf die Rückständigkeit zurückgeführt werden kann. Und im übrigen läßt sich das auch am Spektakel ablesen, das der Kreis um Gorbatschow veranstaltet.

5) »La Cina è vicina« (China ist nahe) hatte Bellocchio provokativ vor 20 Jahren gesagt. Heute, nachdem die ideologischen Rauchwolken sich verzogen haben, merken wir, daß dieser Satz wahr zu werden beginnt. Die Bewegung dehnt sich in wenigen Tagen von Schanghai nach Peking, Kanton, Nanking und in die anderen großen Städte aus. Von den ersten Tagen an überrascht, wie sehr politische Überbestimmungen fehlen, wie spontan sich die Bewegung entwickelt und wie sehr die Herrschenden überrascht werden. In einem Staat, in dem die Studenten extrem konzentriert sind und wo in jeder Gruppe, Kameradschaft oder Abteilung einige Parteijugendliche sind, entschlüpfen nur wenige Dinge der Überwachung und wenn, dann müssen sie sehr tiefe Wurzeln haben. Und in diesem Fall haben sie das auch: die Lebensbedingungen der chinesischen Studenten sind mit die schlechtesten der ganzen Bevölkerung. In China haben alle ein eher niedriges Einkommen, aber die anderen können das durch eine Zweitarbeit aufbessern, das können die Studenten nicht aufgrund der verrückten Rhythmen des Studiums - also haben sie keinen Ausweg. Die Unterkünfte sind kollektiv und im allgemeinen ohne Heizung; das Essen reicht nicht aus und ist minderwertig; die Selektion nach Leistung, politischer Zuverlässigkeit und – nach dem neuen Kurs von Deng – auch sozialer Zugehörigkeit ist sehr stark. Vielleicht erinnert sich noch jemand an rassistische Angriffe vor einiger Zeit auf afrikanische Studenten in China, die höhere Stipendien und bessere Bedingungen haben.

Die Bewegung forderte mehr Demokratie und Meinungsfreiheit; wobei es bei der ersten darum geht, die Delegierten direkt zu wählen, die bisher von oben eingesetzt worden waren.

Ich möchte jetzt nicht zu lange auf die Ereignisse eingehen, darüber haben ja die Medien ausführlich berichtet, ich möchte nur hervorheben, daß die Funktionalisierung durch die verschiedenen Fraktionen der KPCh erst in einer zweiten Phase einsetzten; die Antwort war wie überall: Verleumdungen und Repression. Es gibt aber einige interessante Neuheiten auch in Bezug auf die 78/79er Bewegung: diesmal bilden sich keine Führer heraus, die von der Macht als Prügelknaben benutzt werden können; die schriftliche Produktion bleibt auf ein Minimum beschränkt, um keine Spuren zu hinterlassen. Die Studenten machen sich keine Illusionen, aber die Informationen zirkulieren – beinahe zu gut – ,da sich in den Industriestädten viele junge Arbeiter den Demos anschließen. Und genau an diesem Punkt beschließt die Partei, kurzen Prozeß zu machen.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich überall die Studenten zusammengefunden haben als Angehörige derselben sozialen Schicht mit ähnlichen Problemen, ähnlicher Kultur, ähnlichen Vorstellungen; sie haben ihre eigene Identität erfahren – insbesondere im Kampf und durch den Kampf – und das hat es in einigen Ländern ermöglicht, daß Jugendliche aus anderen gesellschaftlichen Schichten dazugestoßen sind. Der Einfluß der französischen Bewegung, den die Medien verbreitet haben, hat die Studenten in vielen anderen Ländern angeregt. In einigen Fällen war das ziemlich offensichtlich, wie Spanien, Belgien, China, Mexiko. Die Welle hat sowohl »demokratische« und »sozialistische« wie auch monarchistische und republikanische Staaten im Westen und im Osten erreicht: das beweist die Breite der auf der Tagesordnung stehenden Probleme und daß sie unter verschiedenen Flaggen und Regimes existieren. Die gesellschaftlichen und nationalen Unterschiede, die 1968 noch beträchtlich waren, sind heutzutage nicht viel mehr als Archaismen und regionale Besonderheiten auf einem Weltmarkt, der immer stärker integriert wird und einem Arbeitsmarkt, der ihm auf dem Fuß folgt; eine Welt, in der die kapitalistische Produktionsweise überall vorherrscht. Wir leben in einer Welt, die immer kleiner wird und immer mehr zusammenhängt: die Studenten sind hier, um uns daran zu erinnern.

 
 
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