Wildcat Nr. 68, Januar 2004, S. 53-54 [w68prein.htm]


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #68 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]

»Im Kapitalismus ist jede Arbeit prekär...«

Manche ist prekärer.

Prekäre Arbeitsverhältnisse und die vielfältigen Kämpfe in und gegen diese Verhältnisse sind ein zentrales Thema von Wildcat seit 1979. Wir haben befristete, nicht abgesicherte oder Teilzeit-Arbeit immer in ihrer Widersprüchlichkeit betrachtet: als Versuch des Kapitals, die Starrheit der Löhne nach unten und der Beschäftigungsverhältnisse überhaupt anzugreifen, aber auch als Bedürfnis nach weniger Arbeit und mehr frei verfügbarer Zeit auf Seiten der Klasse.

Zu Beginn der 80er Jahre entstanden in der BRD zahlreiche »Jobber-Gruppen«, die ihre eigenen Arbeitsbedingungen als unständig Beschäftigte zum Thema machten und versuchten, den »Kampf gegen die Arbeit« auch politisch zu fassen. In Italien (und anderen Ländern) organisierten sich zur selben Zeit »Prekäre«: Aushilfslehrer, die eine Festeinstellung wollten (ein paar Jahre später hatten sie die auch), Jobber bei Sklavenhändlern, bei Messen, bei der Volkszählung, die durch Streiks, Sabotage und Blockadeaktionen bessere Bedingungen durchsetzen konnten. Heute reden viel mehr Leute von Prekarisierung. Aber es ist kein Kampfbegriff mehr, sondern bewegt sich zwischen Schönreden der Vergangenheit (Fordismus = stabil, Neoliberalismus = prekär) und gewerkschaftlicher Betreuung der »Betroffenen«.

Es ist an der Zeit, alle Erfahrungen nochmal durchzugehen und vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen das Kampfterrain neu abzustecken.


Die Agenda 2010 ist ein Angriff auf die Lebensbedingungen der gesamten Klasse und verschärft gleichzeitig die Klassenspaltung: Steuererleichterungen nutzen nur denen, die viel Steuern bezahlen. Wer wenig verdient, bekommt nichts. Wer lange arbeitslos ist, soll Niedriglohn und Minijobs akzeptieren.

Die breite Angriffswelle des Schröder-Regimes ist eine weitere Station im Stellungskrieg seit fast dreißig Jahren. Von den groß angelegten Kürzungsmaßnahmen der Regierung Schmidt (»Operation 82«) bis zur Agenda 2010 sind immerhin über zwanzig Jahre vergangen. Und die diversen Scharfmacher auf der anderen Seite haben auf ihre Art Recht: Auch nach dem 1. Januar 2004 ist die soziale Absicherung in der BRD für einen arbeitslosen Süd- oder Ost-Europäer traumhaft; nach wie vor sind die Löhne und Arbeitsbedingungen bei VW deutlich besser als die bei Fiat; usw.. Aber die rot-grüne Regierung hat nun entscheidende Schritte unternommen: Die Arbeitslosenhilfe funktioniert nicht mehr als informeller Mindestlohn.

Der folgende Artikel grenzt das Thema »Prekarisierung« bewusst ein und versucht, ohne modische Schnörkel auf den Kern zu kommen: Prekarisierung ist ein Angriff nicht nur auf die Verfügungsmacht der einzelnen Arbeiterin, des einzelnen Arbeiters über ihre Arbeitsleistung, sondern ein Angriff auf die Dispositionsmacht der Klasse über ihr Arbeitsvermögen im Kampf mit dem Kapital.

Auf den ersten Blick klingt das absurd: der Arbeiter oder Angestellte im unbefristeten Job, fünf Tage die Woche, habe mehr »Dispositionsmacht« als der Selbständige in seiner Ich-AG? Wie bitte? Wildcat beschwört das Normalarbeitsverhältnis? Mitnichten. Zu diesen Verhältnissen, die weder rosig waren, noch für alle galten, führt kein Weg zurück. Es wäre allerdings politisch fatal, den Boom an neuer Selbständigkeit, Ich-AGs usw. als »Kreativität der Multitude«, »Befreiung der immateriellen Arbeit« oder ähnlichen Schabernack fehlzuinterpretieren! Er ist etwas anderes als die breite soziale Bewegung, die seit den 70er Jahren für ein anderes Leben – ohne und gegen kapitalistische Arbeit entstand. Diese entwickelte sich vor dem Hintergrund von Klassenkämpfen in allen gesellschaftlichen Bereichen und einer im europäischen Vergleich substanziellen sozialstaatlichen Absicherung.

Die »neue Selbständigkeit« heute ist meist alles andere als freiwillig. Bei fünf Millionen Arbeitslosen und immer neuen Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme »entscheiden« sich viele Erwerbslose deshalb für eine Ich-AG, weil sie den Druck vom Amt nicht mehr aushalten, und weil 600 Euro (minus Sozialversicherungsbeiträge) im Monat immer noch besser sind als ein unbezahltes Praktikum. Die meisten jagen hinter Aufträgen her, haben niemals Urlaub und können beim ersten großen Fehler bankrott gehen. »Vielleicht sollten wir uns in einem Jahr nochmal unterhalten«, heißt es in einem der Interviews – dann nämlich, wenn ein Teil dieser Ich-AGs wieder beim Arbeitsamt sitzt. Zu diesen drei Bereichen (Arbeitsamts-Maßnahmen, Praktikum, Ich-AG) haben wir Interviews und Berichte gesammelt.

Im letzten Heft waren schon Berichte über Arbeitsamtsmaßnahmen sowohl aus Sicht der ihnen ausgesetzten TeilnehmerInnen als auch aus Sicht der dort Arbeitenden. Im nächsten Heft wollen wir den Schwerpunkt auf prekäre Jobs legen, z.B. sogenannte Mini-Jobs, Leiharbeit, befristete Jobs und die breite Palette der »Arbeit ohne Papiere«. Bitte schickt uns Eure Erlebnisse, Anekdoten, Flugis, Spuckies, Erzählungen und Streikberichte! Vielleicht melden sich ja auch mal Leute, die beim Arbeitsamt selber arbeiten? In einem der Berichte, die nicht mehr ins Heft passten (danke an alle, die uns mit ihren Berichten und Interviews den Blick geschärft haben!), wird ein Arbeitsamtsbeschäftigter zitiert: »Er meinte, in der heutigen Zeit müssen wir uns alle umorientieren und flexibel sein, er hätte auch bereits in den verschiedensten Branchen, z.B. als Bauleiter gearbeitet, aber mit der Krise brächen viele Möglichkeiten weg. Der Job beim Arbeitsamt sei auch nicht sein Traum, außerdem bekämen die Arbeitsvermittler viel Druck von oben und müssten Erfolge vorweisen ...«

Gegen die immer weitere Ausdifferenzierung der Löhne und Bedingungen zwischen »Stammbelegschaften« und prekärem Rand haben sich bisher keine gemeinsamen Kämpfe entwickelt. Haben die »Daimler-ArbeiterInnen« nun verstanden, dass der Angriff auf alle zielt? Oder wirkt der Schachzug, die »Tarifautonomie« als einzigen Punkt im »Reformpaket« auszusparen? Vertieft sich die Klassenspaltung – oder geht jetzt wieder mehr zusammen? Wie geht es weiter? In den letzten Monaten sind Prozesse in Gang gekommen, die über das »gewerkschaftliche Einbunkern« einerseits, das Jammern über den »Abbau des Sozialstaats« andererseits hinausweisen.

Eine richtig gute Möglichkeit, über Erfahrungen zu berichten, sich mit Leuten in der selben Situation auszutauschen, und über gemeinsamen Widerstand und Kampf zu diskutieren, bietet übrigens auch die Website www.chefduzen.de (mehr dazu im Interview S. 53).

aus: Wildcat 68, Januar 2004


[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #68 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]