Wildcat Nr. 71, Herbst 2004, S. 63-64 [w71_mucke_reviews.htm]


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Veteranen

Wayne Kramer ist einer. Was zuallererst bedeutet: er hat überlebt. Seine ehemalige Band MC5, die meisten ihrer ehemaligen Mitglieder, diverse Drogenexzesse, den US-Knast... Er hat aber nicht nur physisch überlebt, er meldet sich auch noch zu Wort… siehe seine Website.

Außerdem haut er regelmäßig Platten raus, die viel zu wenig Leute kennen. So auch wieder 2004: »Mad for the racket«.14 Tracks, in Trio-Besetzung eingespielt, weder Mainstreamrock noch dieser in Teilen der Punkszene modisch gewordene Punk`n Roll in Detroit-Tradition. Die Musik ist eine Synthese von Songwritertum und reduziertem Rock`n Roll, ohne Hochgeschwindigkeitsexzesse, Knüppel- und Noiseorgien, aber mit vielen »richtigen« Melodien. Kramers Gitarrenspiel ist laut, verzerrt und dreckig, aber erfreulich unaufdringlich. Hier kann einer Gitarre spielen, ohne den Gitarrenhelden zu geben. Das dichte Spiel der Band macht den notwendigen Druck: Eine liebevoll gewartete alte E-Lok fährt auf einer arg vernachlässigten Nebenstrecke ihre Touren. Stillgelegt werden soll sie in der nächsten Zeit nicht, aber das Gelände ist auch viel zu unwegsam, um hier eine Hightech- Magnetschwebeneigezug-Trasse hinzubauen. Und die Crew kennt und benutzt die Maschine, so wie nur alte Malocher die Maschine kennen und benutzen können.

Die Songs sind meist Liebeslieder, bzw. Lieder über die Gefühle, die vor oder nach der Liebe kommen (meine Favoriten: »Blame it« und »Nuts for you«, letzteres gleich in zwei Versionen), ab und an gleitet Wayne auch ins leicht agitprophafte ab - aber auch hier kriegt er es hin, Peinlichkeiten zu vermeiden. (»Prisoner of hope«, »Czar of Poisonville«).

Wer alte E-Loks, Nebenstrecken und nicht verblödete, nur ansatzweise ruhiger gewordene linksradikale ProllfreakveteranInnen mag, ist mit der CD wirklich gut bedient. Definitiv eine meiner Lieblingsplatten dieses Jahr - aber auf mich hört ja eh niemand. Nicht mal meine Schwester! Die hab ich neulich mal wieder besucht... und dabei einen Blick in eine dieser hippen Popvermarktungszeitschriften geworfen, in die ich immer nur dann einen Blick werfe, wenn ich meine Schwester besuche und plötzlich ganz dringend auf Toilette muß. Ungefähr in Heftmitte ein Doppelseiter zu: Von Spar.

Eine Band, der mensch im Spätsommer 2004 nicht entkommen kann.

ak, [030], vision, intro, spex, jungleworld usw. usf. überall positive Besprechungen! Sie sind das heiße neue Ding der deutschen Poplinken. Besorgt, angehört, Bruno angerufen:

A: Nach der ganzen Lobhudelei der Musikpresse war ich fest entschlossen, diese Band Scheiße zu finden, ohne sie gehört zu haben. Inzwischen hab ich sie gehört... und: so schlecht ist sie gar nicht.

B: Ging mir ähnlich.

A: Und an wen erinnern sie Dich? Fehlfarben? Pop Group? Pyrolator? DNA? Red Krayola? Die New Yorker No Wave Szene, James White, The Contortions? ...

B: Davon kenn ich höchstens drei Sachen! Aber warum besprechen es alle so? Was ist von Musik zu halten, die im wesentlichen über ihre Referenzen funktioniert?

A: Das ist hier Programm. Das Labelinfo vergleicht sie übrigens mit The Prodigy.

B: An die erinnern sie mich überhaupt nicht. Von Spar sind doch... viel zackiger! Diese ganzen nachgemachten 80er Beats. Wie heißt denn sowas? Electropunk? Electrocrash?

A: Hysterischer Diskurs-Post-Punk-No-Wave-ElectroCLASH mit Traditionsfragmenten von…

B: CLASH? Die fand ich mal gut...

A: Neiiin...nicht The Clash, sondern… gut, nennen wir es: Electropunkclash! Wenigstens unterscheiden sie sich positiv von den ganzen grauenhaften Musikprojekten, die ihr deutsches Liedgut mit ein paar Itze-Itze-Beats nachrüsten.

B: Naja, mir gefallen Von Spar jedenfalls besser, wenn sie die 80er Beatbox ausgestöpselt lassen. Damit kann ich nix anfangen. Viel zu hektisch.

A: Die Schrammelgitarren und das Gekreische sind auch nicht gerade entspannend.

B: Nö, aber das mag ich! Solide Schrammelgitarren, da steh ich drauf, das erinnert mich an...

A: Wieso können wir diese Musik nicht hören, ohne uns an irgendwas erinnern zu müssen?

B: Vielleicht haben uns die ganzen Artikel den Hörgenuss versaut?

A: Kann sein. Wo ist die Scheibe denn überhaupt erschienen?

B: L’Age d’Or.

A: Ha! wußt ichs doch! Poplinke Traditionspflege, Hamburger Schule, Wohlfahrtsausschüsse,... ist die nicht schon längst geschlossen, diese Schule?

B: Jedenfalls machen Von Spar genau solche Texte. »Blaue Hände am Kanonenofen im Land der goldenen Buffalloträger...« was soll das? Oder hier: »Ich bin eine Lichtmaschine - ich bin eine Ich AG«

A: Er singt: »Ich bin eine ICH-Maschine«. Das ist Zitat und Bezug! Blumfeld!

B: Also auch die Texte: Zitat, Bezug und Referenz.. Da lassen sie die Frauen Beegeesmäßig die Worte »great rock`n roll swindle« singen, hier schreit der Typ »Geschichte wird gemacht«. Sind bestimmt noch mehr so Dinger drin.

A: Bestimmt. Das sind schlaue Jungs, die von Von Spar. Mit vielen FreundInnen, die sie höllisch pushen.

B: Tja, rock`n roll swindle... Wenigstens schielen sie nicht auf die Charts. Aber warum hypen alle linken Blätter denn so kräftig mit?

A: Von Spar zitieren halt so ausgiebig, dass alle sich an ihre Jugend erinnern. Und sie äußern sich in Interviews politisch!

B: Aber wie? Sie finden es seltsam, dass hier alle auf Amerika schimpfen, aber niemand was gegen Hartz IV sagt. Na, war wohl vor den Montagsdemos...warte: und sie sagen, z. B. MIA würden vom tollen neuen Deutschland singen, sie fänden es aber gar nicht toll, solange die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen nicht entschädigt worden sind.

A: Wäre Deutschland toll, wenn die letzten überlebenden ZwangsarbeiterInnen entschädigt sind?

B: Nö. Aber immerhin sagen sie auch, sie seien gegen das ganze System.

A: Ist wahrscheinlich auch wieder ein Zitat.

B: Und was schreiben wir jetzt?

A: Müssen wir denn unbedingt was schreiben?

Ambassador 21– akcija!

Digital Harcore Noize Punk – irgendwie so könnte man das beschreiben, was A21 uns da um die Ohren hauen. Seitdem das belorussische Projekt 2001 gegründet wurde, haben Alexej und Natalia von A21 ihre Jobs als Radio-DJs verloren. Auf akcija! mixen die »belorussischen Atari Teenage Riot« schnelle, schmutzige Gitarrensounds mit einem Potpourri an philosophischen Referenzen: Peter Kropotkin, Friedrich Nietzsche, Wladimir Majakowski, Albert Camus und Erich Fromm werden im Booklet als »inspirierende Einflüsse« genannt – neben Can, den Stooges, Crass, den Ramones, Napalm Death und John Zorn. ATR und Ec8or aus dem Hause Digital Hardcore Recordings verstehen sich quasi von selbst. Genau klingt die Musik dann auch: ein exzessives Chaos aus Elektrobeats, Computerlärm und Gitarren, die entweder gesampelt oder von einem spanischen Punkgitarristen eingespielt wurden, der als CTRLer.sein eigenes Elektroprojekt betreibt. Die Texte sind für Freunde der russischen Sprache und erzählen von Terror und Revolution, von »Power, Rage, Riot and Death«. Wem die Samples teilweise allzu vertraut vorkommen, sei auf Musicians Against Copyrighting of Samples verwiesen, wo A21 Mitglied ist. In Deutschland über das Münchner Label Ant-Zen zu beziehen. »We declare Revolution!«

Animal Collective

sind Musiker aus Brooklyn, New York, die in wechselnden Besetzungen immer wieder ganz unterschiedliche Musik zwischen psychedelischem Akustik-Pop und Speed Jazz produzieren. Auf ihrer neuen CD »Sung Tongs« haben sie zwölf verstörend schöne, schräge Songs gebastelt, die die HörerInnen mit vielschichtigen akustischen Gitarrenchords, hypnotischen Tribalrhythmen und lautmalerischen Gesängen auf die Reise nehmen. Manchmal fühlt man sich an die Beach Boys, manchmal an David Byrne und Brian Eno erinnert. Als roter Faden zieht sich ein trance-ähnlicher Zustand durch die Songs. Alles ist in Bewegung, schrumpft und wächst zugleich, verliert seine Form und nimmt dabei Gestalt an. Musik, so organisch wie das Leben. 37 Jahre nach »White Rabbit« ein neuer Soundtrack zu Alice im Wunderland!



aus: Wildcat 71, Herbst 2004


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