Wildcat Nr. 72, Januar 2005, S. 03–05 [w72_editorial.htm]



[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #72 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]


Hartz, Heimat, Hindukusch

Massive soziale Verschärfungen und Angriffe auf die Arbeiterklasse ohne rassistische Hetze? Fast zwei Jahre lang sah es so aus, als würde im Gegensatz zu Anfang der 80er und Anfang der 90er Jahre die »Agenda 2010« ohne rassistische Begleitmaßnahmen durchgedrückt werden. Nachdem Anfang November der Filmemacher van Gogh in den Niederlanden ermordet worden war, zündelte die CSU/CDU dann auch in der BRD wieder mit einer »Werte-Debatte«.

In Holland eskalierte die Situation, es wurden Bomben- und Brandanschläge auf Moscheen und Kirchen verübt. Im Ergebnis haben radikale Islamisten und weiße Rassisten die ImmigrantInnen aus »islamischen Gegenden« wieder stärker vom Rest der holländischen Bevölkerung isoliert.

CSU/CDU (und Teile der SPD, Kirchenvertreter, Alice Schwarzer und viele andere) fuhren im November einen Angriff auf die »Parallelgesellschaften« in Deutschland. Das Kalkül der CSU war einfach: die Leitkultur-Debatte sollte von der eigenen Krise ablenken und rechte Wähler gewinnen. Agenda 2010, die tiefe Krise der »Volksparteien« und institutionell geschürter Rassismus hängen engstens zusammen. Aber dieser Zusammenhang geht tiefer und ist von grundsätzlicher Art: radikale Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, massiver Abbau sozialstaatlicher Leistungen, Ausweitung des Knastsystems und Kriegführung nach außen bedingen sich gegenseitig. Hartz IV braucht »Patriotismus«: wir sollen die Suppe gemeinsam auslöffeln, wir sollen uns alle anstrengen, um deren Karren aus dem Dreck zu ziehen. Rudert schneller!

Ein anderer Beitrag zur Identitätsstiftung: IWF-Chef Köhler trägt dazu bei, die Infrastruktur im »Süden« entweder platt zu machen oder gar nicht bauen zu lassen. BRD-Präsident Köhler heuchelt um Mitleid mit den Tsunami-Opfern und bittet um Spenden.

Spätestens im Frühjahr 1999 hat die rot-grüne Bundesregierung den Rubikon überschritten. »Wir« sind im Krieg. Folterspiele beim Bund und keine Verurteilung von Daschner. Kosovo: Der BND und damit auch Bundesregierung und Bundeswehr waren über die antiserbische Gewaltwelle im März 2004 zumindest vorab informiert, vielleicht aber auch u.a. über ihren Spitzel, den UCK-Kämpfer Samidin Xhezairi, an deren Vorbereitung beteiligt. Afghanistan, Horn von Afrika, Sudan … die Präsenz der Bundeswehr wird zielstrebig »bis zum Hindukusch« (Struck) ausgebaut.

»Wow, Deutschland steht für Frieden.«
Mia.-Sängerin Mieze in einem Interview mit der Deutschen Welle

Seit etwa anderthalb Jahren läuft eine andere Wertedebatte, die gern die weltweiten Anti-Kriegs-Demos vom 15. Februar 2003 als ihren Gründungsakt reklamieren möchte. Daran versuchen sich auch Musikproduzenten anzuhängen. Laut eigener Aussage ließ die »positive Motivation«, in Argentinien zur deutschen Regierung beglückwünscht worden zu sein, weil diese »gegen den Krieg« sei, beim Produzenten der angeblichen (Electro-)Punkband Mia. »die Idee wachsen, jetzt Angefangen.de zu starten«. Was es ist war im September 2003 nur der Soundtrack dazu.

Neuanfang und Gemeinschaft sind die zentralen Subtexte im nationalen Pop: »Wohin es geht, das woll‘n wir wissen und betreten neues deutsches Land« (Liedzeile aus Was es ist). Man fühlt sich endlich »nicht mehr fremd in meinem Land« (ebenda). Als Heinz Rudolf Kunze 1996 vom »Genozid an der deutschen Rockmusik« faselte und eine 60/40-Quotierung zugunsten deutschsprachiger Titel forderte, war die Entrüstung noch groß. Heute ist man weiter: Der Nationalisierungsdiskurs geht über die Ebene der reinen Standortlogik (»Deutschquote«) hinaus und setzt unverhohlen auf eine trendy Geschichtsbewältigung.

Das Selbstverständnis der Linken in Bezug auf Staat und Rassismus hat sich gewandelt. In den letzten Wochen konnte man ehemals standfeste Linke »die Türken sollen endlich Deutsch lernen!« wutschnauben hören. Früher dichtete man irgendwelchen Traditionen antiimperialistisches Potential an, heute will man »die Muslime« zwangsassimilieren. Früher war man gegen den Staat, heute will man den Sozialstaat retten. Und solche Leute werden dringend gebraucht: Nur Politiker und Künstler mit linker Vergangenheit können Deutschland »normalisieren« und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft vorantreiben. Nur sie »nehmen der Rückbesinnung auf das Nationale ihre alte Schärfe« (FAZ); nur sie können verhindern, dass sich soziale Konflikte zu Brüchen vertiefen.

Aber besteht diese Gefahr überhaupt?

Das Bildungssystem in der BRD ist am unsozialsten: nirgends sonst in Europa ist der Schulerfolg so stark an die soziale Stellung der Eltern gekoppelt. Die Schere zwischen Arm und Reich wird wieder größer. In immer neuen Wellen demonstrieren die Herrschenden ihre Korruptheit. In allen Weihnachtspredigten wurde die »soziale Kälte« bejammert; ein Pfaffe ging so weit, vor einer »vorrevolutionären Situation« zu warnen, vor der »wir« bald stehen könnten… – Realitätsnäher scheint erstmal die »Verwunderung« des Heeresinspekteurs angesichts immer neuer Enthüllungen von Folterspielen in der Bundeswehr zu sein: Warum hat sich keiner der Rekruten gewehrt?

Damit trifft er ins Schwarze: warum jammern alle, aber niemand wehrt sich? (siehe z.B. »Hamburger Schmierdreck«)

Wir haben im Heft Erfahrungen mit der Sozi-Zwangsarbeit in den 80er Jahren reloaded. Sie zeigen, wie einfach sich Widerstand ausbreitet, sobald mal jemand ernst macht und damit anfängt.

Die ArbeiterInnen in Bochum haben sich gewehrt: ist das Opelwerk die letzte Bastion aussterbender Saurier, waren die ArbeiterInnen »Allein gegen Alle«, wie DIE ZEIT zu suggerieren versucht? Oder war ihr Kampf sogar ein Neu-Anfang? Aus anderem Holz geschnitzt als Angefangen.de war die Sache sicherlich, aber das Entstehen einer (neuen) Arbeitergemeinschaft gegen diese Welt – wie sie beim Streik in Melfi aufschien (siehe Wildcat 70) – lässt sich bisher nicht ausmachen.

Der Siemens-Konzern will Ende Januar entscheiden, ob das Handy-Geschäft verkauft wird. »Ich hoffe, dass ich auf der Hauptversammlung am 27. Januar etwas dazu sagen kann«, zitierte das Handelsblatt den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Heinrich von Pierer. Derzeit würden »alle Optionen für das wenig lukrative Geschäft mit Mobiltelefonen geprüft: Sanierung, Schließung, Verkauf oder die Kooperation mit einem Konkurrenten.« Wieder mal haben Zugeständnisse nichts gebracht… Oder wurde der große Durchbruch in den Handy-Fabriken in Kamp-Lintfort und Bocholt Ende Juni 2004 bezüglich Arbeitszeitverlängerung und Lohnverzicht gezielt in zwei Werken inszeniert, wo für den Unternehmer nichts auf dem Spiel stand, weil die Verlagerung so oder so gekommen wäre? Die Betriebsvereinbarung sollte zweierlei bewirken: den Dammbruch einleiten und dem Siemens-Konzern die Möglichkeit geben, die Verlagerung oder den Verkauf systematisch und geordnet durchzuziehen? Zum Glück haben die ArbeiterInnen bei DaimlerChrysler und Opel der ersten Absicht ihren Kampf entgegengesetzt.

Weitere Artikel zur BRD: Kontrolle, Polizeistaat, Spitzel, Toll Collect .

Weitere Artikel zu Lateinamerika, Osteuropa und Afrika: Mexiko: Krieg ums Wasser , Venezuela: welche Revolution?, Bolivien: Institutionalisierung einer Aufstandsbewegung? Streiks und Demos gegen die Ölmultis in Nigeria.

Auf Seite beginnen wir eine längerfristig angelegte Beschäftigung mit den Klassenkämpfen in Polen.

Hardt/Negri haben Band 2 von Empire vorgelegt: Multitude. Muss man nicht gelesen haben. Mia. muss man auch nicht gehört haben, um dieses Heft zu verstehen. Aber hört doch mal in unsere erste Audio-CD rein! und schreibt uns, ob sie Euch gefallen hat.



aus: Wildcat 72, Januar 2005



[Startseite] [Archiv] [Bestellen] [Kontakt]   Wildcat: [Wildcat #72 - Inhalt] [Artikel im Archiv] [Gesamtindex]