Wildcat Nr. 73, Frühjahr 2005, S. 3–5 [w73_editorial.htm]



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commune farce?

»Die Kommune ist nur dann fähig, systemsprengende Praxis nach außen zu initiieren, wenn innerhalb der Kommune effektiv die Individuen sich verändert haben, und diese können sich nur verändern, wenn sie jene machen; Praxis nach außen ohne experimentelle Vorwegnahme dessen, was Menschsein in emanzipierter Gesellschaft beinhalten könnte, wird zum Aktivismus als Normerfüllung. Die vielbeschworene neue Qualität der Kommune ohne gemeinsame Praxis wird sich als solipsistischer Akt, Psychochose und elitärer Zirkel entpuppen.«

(Dieter Kunzelmann: Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen, 1966)

Klingt knapp 40 Jahre danach wie Poesie aus einer anderen Welt – und könnte gleichwohl hoch aktuelle Kritik sein: »Psychochose« versus »Aktivismus als Normerfüllung«. Wo Geiz und individuelle Konkurrenz immer stärker zu Leitbildern gepusht werden, wächst das Bedürfnis, zusammen zu leben. Wir haben viele Gespräche mit Wohnkollektiven geführt, auf der Suche nach dem oben skizzierten Zusammenhang – Zwischenergebnisse ab Seite 31. »Ihr müßt euch entwurzeln! Weg mit euren Stipendien! Weg mit eurer Sicherheit! Gebt das Studium auf! Riskiert eure Persönlichkeit!« (aus einem Vortrag von Kunzelmann zum Gedanken, Wohnkommunen zu bilden, 1966)

Der Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, will – leider nicht sich selber, sondern – »den unteren Lohngruppen« jede Sicherheit wegnehmen und sie entwurzeln, er forderte Ende Februar eine Absenkung dieser Löhne auf das osteuropäische Niveau. Die proletarischen Rückzugsräume werden jedenfalls enger, die Regierung tut nicht einmal mehr so, als ob es uns irgendwann mal wieder besser gehen sollte. Und auch »die Wirtschaft« verspricht nichts mehr – A.F. Börner, Präsident des Bundesverbandes des deutschen Groß- und Außenhandels, erklärt, dass auch ein weiteres überdurchschnittliches Exportwachstum keine messbaren Auswirkungen auf die Binnenkonjunktur und den Arbeitsmarkt haben werde… – außer Kostensenkungen und Entlassungen. Die offiziellen Wachstumsprognosen für 2005 sind entsprechend nach unten korrigiert, die Arbeitslosenzahlen steigen weiter.

Je nach Art der Fragen kommen Untersuchungen in der BRD seit Jahren zu dem Ergebnis, dass ein Viertel bis ein Drittel der arbeitslos Gemeldeten gar nicht arbeiten wollen. Der Versuch, hierzulande eine Arbeitslosenbewegung zu initiieren, ist auch immer schief gegangen, Kampagnen zum Thema auch (»Agenturschluss«). Was also tun? Gehen wir zum langweiligen Alltagsgeschäft über und »fachen« eine neue Kampagne an [S. 53]? Nein, denn jetzt wird es spannend, Hartz IV wird umgesetzt, jetzt wird entschieden über Wohnungsgrößen, Widerspruchsbescheide, 1 Euro-Jobs… –

»Was ist schlecht an 1 Euro-Jobs? Sie können ein Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt sein«, sagen uns die Sozialarbeiter karitativer Träger. »Sie sichern unsere Finanzierung«, sagen ehemalig linke Vereine, die schon keinen Begriff mehr von ihrer eigenen Abhängigkeit haben – und übrigens auch eine Kommune, die wir interviewt haben. »Sie sind keine Gefahr, ich kenne genug Vereine, die mir eine Tätigkeit bescheinigen und dann lässt das Amt mich in Ruhe«, sagen nicht wenige AktivistInnen aus der Szene. Die Argumente geben recht deutlich wieder, auf welchem Niveau Gesellschaftskritik und Vorstellungen von politischem Handeln angekommen sind. Das Gelaber vom »Einstieg« ist bullshit von Leuten, die sich nicht mal drum kümmern, ihre Lügen up-to-date zu halten. Um »Einstieg in den Arbeitsmarkt« geht es schon lange nicht mehr: Gerade mal zehn Prozent aller Neueinstellungen waren im vergangenen Jahr auf die Vermittlungstätigkeit der Agenturen für Arbeit zurückzuführen. Und das Wissenschaftszentrum Berlin mag sich kritisch vorkommen: Hartz IV und 1 Euro-Jobs hätten »keine Effekte für den Arbeitsmarkt«, am Ende müssten sich »die Betroffenen wieder in das Heer der Arbeitslosen« einreihen – es konstatiert nur, was sowieso geplant war! Laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verhindern die 1 Euro-Jobs das Entstehen normal bezahlter Arbeitsplätze im Sozialbereich. Denn hier wird noch mit Zuwächsen gerechnet – an Stellen, nicht bei den Löhnen! Allein in Berlin soll die Zahl der im Gesundheitswesen Beschäftigten von derzeit 180 000 bis zum Jahr 2010 auf mindestens 250 000 steigen. Caritas, Bundesregierung, AWO usw. setzen alle Hebel in Bewegung, um diesen Bedarf mit 1 Euro-Jobbern zu füllen. Nach jahrelangem Personalabbau werden an Berliner Schulen und Kitas nun Hunderte 1 Euro-JobberInnen eingestellt, um notwendige Arbeiten zu erledigen. Das uralte Rezept von Reagan scheint nach wie vor wunderbar zu funktionieren: erst durch Mittelkürzungen Sachzwänge schaffen, dann regeln die Kommunen das schon selber. – Schon wieder Kommunen!

Die Wohlfahrtsverbände kriegen bis zu 500 Euro pro Beschäftigungsverhältnis, davon kriegt die 1 Euro-JobberIn maximal 160 Euro. 340 Euro für »Verwaltungskosten« und »FortbiIdungsmaßnahmen« fließen an den Beschäftigungsträger. Bundesweit bedeutet dies für die Wohlfahrtsverbände bei den geplanten 600 000 SteIlen jährlich eine Subvention von insgesamt rund 2,5 Milliarden Euro. – kein Wunder, dass sich da auch »linke« Projekte dranhängen!

Spannend wird die Situation aber auch deshalb, weil sich auf unserer Seite im letzten Jahr so einiges getan hat: In den »Montagsdemos« gingen hunderttausende auf die Straße; es sind mit die längsten sozialen Proteste in der BRD, vergleichbar mit dem Kampf in den 50er Jahren für die 40-Stundenwoche. Damals war ein Streik das Herz des Kampfs. Auch 2004 gab es einen (wilden!) Streik, aber er blieb isoliert »tief im Westen«, so wie die Montagsdemos tief im Osten.

Die radikale Linke ist noch nicht auf der Höhe der Zeit, sie schüttelt Altlasten ab (S. 49) und sucht wieder nach der »sozialen Frage« – anstatt nach den wirklich vor sich gehenden Bewegungen. Passt ja auch irgendwo zu diesem Provinznest namens BRD, wo man in den letzten Jahrzehnten schon immer die Uhr danach stellen konnte: sobald ein »ganz neuer« Trend gehyped wurde, war er in Wirklichkeit mausetot. Das war mit dem vielbeschworenen »japanischen Modell« in den 90er Jahren nicht anders als heute mit den Segnungen des »Neoliberalismus«: Gerade jetzt, wo working poor, Privatisierung des Wassers, des Nahverkehrs und überhaupt von allem, bei uns so richtig in Schwung kommt, ist der Neoliberalismus in Amerika gescheitert. Zu Lateinamerika haben wir einen Reisebericht aus Venezuela im Heft, der die Debatte aus den letzten beiden Heften fortsetzt [ S. 28] und Thesen, mit denen wir die Entwicklung in ganz Lateinamerika verstehbar machen wollen [S. 24]. Der Neoliberalismus ist in dem Teil des Kontinents am Ende, in dem er als erstes und am brutalsten ausprobiert wurde – aber auch in dem Land, aus dem er kam: der war on terror ist der Versuch, den Zusammenbruch hinauszuschieben. Zu den USA haben wir ein Dossier zusammengestellt, die einzelnen Artikel werden dort kurz vorgestellt. [Innenteil] Dieser Krieg verändert nicht nur die Arbeits- und Lebensbedingungen in den USA, sondern schiebt sich weltweit in viele Bereiche vor und verändert z.B. die Arbeitsbedingungen in See- und Flughäfen oder von Seeleuten: Verbote an Land zu gehen und Besuch zu empfangen, Telefonverbot für muslimische Seeleute, elektronische Zugangskontrollen in den Häfen (verbunden mit Erfassung der realen Arbeitszeit). Die spektakuläre, blutige Seite des »Kriegs gegen den Terror« wird auch in den bürgerlichen Medien dokumentiert: etwa dass Menschen entführt und in geheimen Stützpunkten gefoltert wurden, dass auf befreite Entführungsopfer im Irak geschossen wird (Giuliana Sgrena) usw.. Überhaupt scheint gefährlich zu leben, wer sich mit Falludja beschäftigt: Sgrena war die zweite Journalistin, die zu Falludja gearbeitet hatte und im Irak verschleppt wurde. (siehe auch S. 57 und 61)

In all dem sucht sich auch die BRD ihren Platz. Bundeskanzler Schröder war zu Besuch in Arabien, »um für die Abnahme deutscher Erzeugnisse zu werben«, vor allem von Rüstungsgütern. Begleitet wurde er von über 70 Unternehmern und Managern. Zu den politischen Themen gehörten das iranische Atomprogramm sowie der Anstieg der Ölpreise.

Aber die Imperialisten kämpfen nicht in erster Linie gegeneinander. Wie sie miteinander kämpfen, ist vor allem der Versuch, die strategische Potenz des (Welt-)Proletariats unsichtbar zu machen. Dafür waren in der Vergangenheit Hamas und Taliban nützlich, dafür sind heute Terror gegen soziale Bewegungen (Lateinamerika), Bomben in Demos (Irak), Mlitärangriffe auf streikende ArbeiterInnen (China) und – auf einer anderen Ebene – noch immer Gewerkschaften (BRD) nützlich. Das Argument muss auch auf den »Neoliberalismus« angewandt werden: er stellte noch nie ein neues Modell kapitalistischer Entwicklung dar, er war ein Zersetzungsangriff gegen die »Bedürfnisexplosion« im Gefolge der weltweiten Klassenkämpfe Ende der 60er Jahre. Dass dieser Zersetzungsangriff entlegitimiert und gescheitert ist, macht die Perspektive auf für neue Entwicklungen.

8.3.2005 – Heute vor 40 Jahre sind US-Truppen in Vietnam einmarschiert, zehn Jahre später (am 30. April 1975) sind sie unrühmlich »abgezogen« – was zwischen diesen beiden Daten kulturell, sozial und politisch passierte, hält noch heute die Welt in Bewegung.



aus: Wildcat 73, Januar 2005



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