Wildcat Nr. 77, Sommer 2006, S. 14–19 [w77_barmer.htm]



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Köln: »Barmer Block« besetzt

Das Gefühl eines großen Potenzials…

Im »Barmer Block« hat drei Monate lang ein ungewöhnliches Besetzungsexperiment stattgefunden. Ungewöhnlich nicht nur wegen Dauer und Größe, sondern vor allem wegen der sozialen Mischung. Der Raum, den ein paar Linke aufgemacht hatten, wurde von »der Straße« übernommen. So entstand ein explosives Gemisch, das einerseits der Stadt schwer zu schaffen machte, andererseits aber auch nach innen für heftige Konflikte sorgte. Die Linke erwies sich dabei größtenteils als unfähig oder unwillig, mit den Widersprüchen wirklicher sozialer Bewegungen umzugehen.

Mit dem »Barmer Block« – 260 Wohnungen rund um einen parkähnlichen Innenhof – hat die Genossenschaft Erbbauverein 1914 in Köln-Deutz den Bau einer Siedlung für Postbeamte begonnen. Diese lag zuletzt eingekeilt zwischen ICE-Bahnhof und Messe, und genau deren Interessen fallen die insgesamt 381 völlig intakten Wohnungen nun zum Opfer. Es gab hochtrabende Pläne für ein »Messefoyer« mit Kongresszentrum und Hochhäusern. Dafür kaufte die Stadt Köln die Häuser, für 67 Millionen. Der Erbbauverein baute in verschiedenen Stadtteilen neue Wohnungen für die 1000 BewohnerInnen der Barmer Siedlung. Doch dann drohte die Unesco, den Dom von der Liste des Weltkulturerbes zu streichen, falls in seiner Nähe weitere Hochhäuser gebaut würden. Ende 2005 waren sämtliche Investoren abgesprungen, die Pläne lösten sich in Nichts auf. Nur an dem Abrissplan für Anfang März hielt die Stadt hartnäckig fest. Notfalls eben für Parkplätze.

Die Kölner Linke bekam den Skandal spät mit und wurde erst aktiv, als die MieterInnen bereits ausgezogen waren. Im Februar rief die Montagsdemo zu einer Demonstration auf (im Regen und eher klein). Gemeinsam mit Leuten von SSK und SSM sowie aus Erwerbsloseninitiativen wurden Bürgerversammlungen organisiert. Der SSM meldete einen Bauwagen als Dauerkundgebung in der Siedlung an. Und als der Abrisstermin nahte, entschlossen sich einige Leute aus diesen Gruppen am 3. März spontan zur Besetzung.

Niemand hatte dieser Protestaktion mehr als ein oder zwei Tage gegeben. Schließlich ist in Köln seit Jahren jeder Besetzungsversuch nach kürzester Zeit geräumt worden. Aber diesmal kam es anders. Während der SSM auf der politischen Ebene agierte, Lügen und Intrigen aufdeckte und den Politikern mit Offenen Briefen zu schaffen machte, zogen immer mehr Leute in den Barmer Block ein, die wenig zu verlieren haben und klarmachten, dass sie ihr neues Zuhause mit aller Kraft verteidigen würden. Alleine wäre wohl keine der beteiligten Gruppen – weder die »Politischen«, noch die »Punker« – imstande gewesen, den Block so lange zu halten. Es war diese verrückte Mischung aus politischer Erfahrung und Entschlossenheit der Straße, die die Stadt monatelang in die Enge getrieben hat.

Der Abriss konnte letzten Endes nicht verhindert werden. Trotzdem war diese Besetzung in vieler Hinsicht gut: sie hat den wohnungspolitischen Skandal öffentlich gemacht; sie hat gezeigt, dass überhaupt mal wieder was geht in Köln; für die nun wieder obdachlosen BesetzerInnen springt hoffentlich ein anderes brauchbares Haus raus; und vor allem waren die drei Monate für alle an diesem »soziokulturellen Biotop« Beteiligten eine Gelegenheit für Erfahrungen und Lernprozesse, die in zukünftigen Auseinandersetzungen nützlich sein können. Um diese inneren Prozesse und Strukturen der Besetzung geht es hier. Die Zitate stammen aus einem Gespräch wenige Tage vor der Räumung mit Sabine (SSK), die von Anfang an zur Gruppe der BesetzerInnen gehört hat.

Die Besetzung

»Wir sind in diese Besetzung total spontan reingerasselt. Wir hatten überhaupt keine Zeit, Strukturen aufzubauen, aber selbst wenn wir die gehabt hätten, hätten wir nicht übersehen können, was es heißt, 30 Häuser zu besetzen statt 1 Haus. Wo du auf einmal einen riesigen Raum hast, den du nicht überblicken kannst. Du kannst nicht mehr unterscheiden, wer Bewohner ist und wer Besucher, weil das Gelände so riesengroß ist, dass man eigentlich erst nach zwei Tagen feststellt: Die Person war gestern schon da, vielleicht wohnt die jetzt hier. Wir haben nie sowas wie eine Anmeldung oder Türwache gemacht. Uns ging es darum, die Räume für alle zu öffnen, und ganz viele zu werden. Die ganzen Problematiken, die damit letzten Endes entstanden sind, die konnte man erahnen, aber nicht vorher behandeln, schon gar nicht theoretisch. Wir wussten nicht, wer dort letztendlich auftauchen würde, zumal wir auch gedacht haben, dass das ganze Projekt wesentlich mehr aus linken Strukturen vorangetrieben und gehalten würde. Das war nicht so, und so kamen Leute, die ganz eigene Gesetze und Regeln haben, ganz andere Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten, auf die man sich erstmal einstellen musste. Mit linken formalistischen Ansätzen konnte man da nicht viel anfangen.

Nachdem wir den Block mit ein paar Leuten besetzt hatten, kamen irgendwann die ersten Leute von der Straße. Obdachlose, zum Teil seit vielen Jahren. Die haben wiederum andere Leute angezogen: Jugendliche, die sich auf der Straße rumtreiben, weil sie entweder in Heimen sind, in denen sie sowieso nicht sein wollen, oder in Aufnahmestellen, wo man ab 14 Uhr die Räumlichkeiten verlassen muss und abends zum Pennen wieder da hin kann. Bei denen hat sich die Besetzung schnell rumgesprochen. Über die Leute von der Straße kamen viele aus der Skin-Bewegung, wo ich mittlerweile gelernt habe, dass es da verschiedenste Richtungen gibt. Die meisten, die kamen, bezeichnen sich als eher unpolitisch bis links, ob das nun OI-Skins oder SHARPs sind, oder wie sie alle heißen. Ein paar Studis sind eingezogen, die das während der Semesterferien alles ganz aufregend und interessant fanden, aber zu Semesterbeginn wieder ausgezogen sind. Und wie das wohl bei jeder Besetzung ist, kamen relativ schnell die Punks. Nach etwa zwei bis drei Wochen kam der erste Punk mit Einkaufswagen und Generator durch die Tür geschoben, und innerhalb von drei, vier Tagen waren es auf einmal zwanzig Punks.«

Die vielen Quadratmeter unverzierte Wand machten die Besetzung für Sprayer attraktiv, von denen aber nur wenige einzogen, und Biker nutzten den Block als Treffpunkt. Einige Migranten aus Ghana und Kamerun, die selbst nicht obdachlos waren, beteiligten sich. Die meisten BesetzerInnen kamen als Folge der Vertreibung der Obdachlosen aus den Städten und aus Situationen extremer Armut und Unterdrückung.

Synonym für den ganzen Frust

»Ich sehe den Barmer Block als Synonym für den ganzen Frust, den es gerade gibt, sei es durch die Hartz IV Gesetze, oder die Wegsperrmentalität, mit der Menschen immer mehr ausgegrenzt werden. Durch die Jugendlichen habe ich diese Geschichten nochmal neu mitbekommen. Für unter 16-jährige gibt es keine Alternativen, nur das Heim. Da gibt es Jugendliche, die mit 12, 13, 14 ganz klar sagen, was sie wollen und was nicht. Die kommen eher rüber wie 16, 17-jährige. Die sind gegen das Heim und zählen die Jahre, bis sie z.B. in ein Betreutes Wohnen können. Die erzählen, dass sie schon zwei oder drei Jahre auf der Straße sind, das einfach absitzen und hoffen, dass sie dabei nicht unter die Räder kommen. Die haben ganz klar, dass es keine Alternativen gibt.

Ich habe einige Frauen getroffen, die aus einem geschlossenen Heim aus der Eifel kamen. Die sind von Köln aus in dieses Heim eingewiesen worden, mit Diagnosen wie Borderline, über PsychKG. Ein Grund, in ein geschlossenes Heim zu kommen, kann schon sein, wenn du mehrfach ausrückst. Immer mehr Jugendliche laufen Gefahr, in geschlossene Heime gebracht zu werden, damit sich der Verwahrungsaufwand in Grenzen hält. Die erzählen von Gittern vor den Fenstern, und dass Besuch nur mit Termin kommen darf. Das sind Zustände wie im Knast. Interessant ist auch, dass viele Jugendliche von diesen Boot-Camps in den USA wissen. Das erzählen die sich in ihren Szenen, was es da in Amerika schon wieder Schlimmes gibt. Da sind die teilweise verdammt gut informiert. Die haben aber andererseits auch ihre Adressen, wo es was zu fressen gibt, wo man Wäsche waschen kann, zu welchen Anlaufstellen man hingehen kann, wer nett ist usw. Wenn sie was brauchen, wissen sie schon, wie sie daran kommen. Es war sehr lehrreich, zu erfahren, wie die das auf der Straße regeln, mit ihren Connects und Bezügen. Da können wir denen eigentlich gar nix erzählen, da sind die uns in der Praxis einfach voraus und tausendmal besser organisiert, gerade was spontane Geschichten angeht.«

Der schwierige Weg zur Selbstorganisation

Die Kölner Punks sind seit Jahren als HausbesetzerInnen unterwegs. Von den meisten dieser Besetzungen haben wir überhaupt nichts mitbekommen. Sie besetzen ohne Öffentlichkeit und politische Statements. Ihre Aktionen sind keine politisch-symbolischen, wie die Besetzungen der Szene, sondern notwendig-reale. Im Barmer Block sind diese verschiedenen Arten der »Aneignung« aufeinandergeprallt – und zusammengekommen.

»Es gab ziemlich schnell den Konflikt: »Ihr macht das doch nur aus politischer Motivation, aber wir sind hier, weil wir nichts zum Pennen haben und auf der Flucht sind«. Da hat es am Anfang ziemlich häufig und auch herbe geknallt. Es gab heftige verbale Auseinandersetzungen. Es war ziemlich lange nicht möglich, gemeinsam ein Plenum zu machen. Bis sich dann aus dem Kreis der Punks eine Partei der »Unpolitischen« organisiert hat, die ARRGH-Partei. Die haben sich große Mühe gegeben, uns »Politischen« vorzuführen, wie wir uns verhalten. Sie haben tagelang mit Schildern demonstriert und Sprechchöre skandiert, wie wir das mit linken Parolen machen. Bei ihnen waren das eher unpolitische Parolen. Sie haben versucht, unser Links-Sein ad Absurdum zu führen. Wir haben das aber nicht als Provokation aufgefasst, sondern fanden das teilweise ganz lustig, dass die ihre eigene Partei gründen und uns nachahmen, und dadurch selber in den Kreis der Organisationen reinrutschen, weil sie auf einmal – ohne dass sie das vielleicht selber gewollt hatten – eine eigene Bezugsgruppe dargestellt haben. Sie wurden von den anderen als Partei angesprochen und waren auf einmal für bestimmte Aufgaben zuständig, wie das Frühstück. Das alles hat dazu geführt, dass irgendwann doch alle auf den gemeinsamen Plena saßen, die super-anstrengend waren, weil es überhaupt keine Regeln gab. Wenn man so was wie eine Gesprächsleitung einführen wollte, kam gleich der Vorwurf, dass man »Chef« ist. Aber selbst die, die am Anfang am meisten dagegen waren, wollen mittlerweile das Plenum, und nach der Erfahrung, dass Durcheinanderbrüllen es nicht bringt, ist das Prinzip der Redeleitung übernommen worden. Inzwischen machen das ganz andere Leute.«

Diese Annäherung hat viel Zeit gebraucht, und sie war nur möglich, weil einige der »Politischen« mit eingezogen sind und den gesamten Alltag der Besetzung mit organisiert und geteilt haben: die widrigen Bedingungen ohne Wasser und Strom, das Risiko der Räumung, oder die ständigen handfesten Konflikte mit Besuchern, die bei Parties oder Konzerten randalierend und plündernd durch die Häuser zogen. In dieser gemeinsamen Alltagsbewältigung ist zwischen den verschiedenen Gruppen von BesetzerInnen gegenseitiges Verständnis und Toleranz entstanden. Anfangs wussten die wenigsten, was SSK oder SSM bedeutet, und manche hielten uns gar für den SKM oder SKF (Sozialdienst Katholischer Männer/Frauen). Diese böse Verwechslung mit Sozialarbeit und Elendsverwaltung hat sich mittlerweile erledigt. Aber tatsächlich sind SSK und SSM nach mehr als dreißig Jahren in Köln schon fast Institutionen, die von der Stadt bei einer solchen Basisbesetzung gerne als Ansprechpartner benutzt werden.

»Die politisch Verantwortlichen waren offensichtlich sehr verunsichert, dass da nicht dieses links geschulte Sprechvölkchen ankam, sondern wirklich der sogenannte Pöbel, das »Gesocks«. Letztens waren wir bei der Aktion von den Studis, als sie in der FH wegen der Studiengebühren die Senatssitzung verhindert haben. Zu solchen Aktionen kommen immer Leute aus den Häusern mit, sie finden das gut und mischen sich ein. Es waren Leute aus dem Barmer Block, die in der FH die Türen aufgedrückt haben, und nicht wir als Politische. Das waren zwei von der Straße, die einfach zu den Securities gesagt haben: »Ich geh da jetzt durch«. Das haben sie auch gemacht, und die ganzen Studis sind hinterhergeschoben. Sowas kriegt die Gegenseite mit, und sie spielt damit. Man wird mit Informationen und Gesprächsangeboten überschüttet. Im Lauf der Wochen haben sich Sprachführer herausgebildet, und die Gegenseite hat versucht, nur noch die anzusprechen.

Wir kämpfen auf mehreren Ebenen und es geht um verschiedenste Themen: um den Abriss, die Veruntreuung von Geldern, um den Messe-Skandal, um die ganze Problematik von Wohnraum, oder was die Leute, die jetzt in den Häusern sind, als Alternative kriegen, wenn abgerissen wird. Da fällt es teilweise schwer, alles transparent zu halten. Da bilden sich Strukturen, die man wieder bekämpfen muss. Ich glaube, dass es in jedem Prozess von Auseinandersetzung ein riesiger Energieaufwand für die Wortführer ist, das immer wieder zu vermitteln, gut und möglichst objektiv, dabei mit der eigenen Meinung eher hinterm Berg zu halten und Diskussionsprozesse anzustoßen. Wir hatten von Anfang an das Problem, dass wir zu wenige waren, um das konsequent in einen emanzipatorischen Prozess zu bringen und mit den Leuten gemeinsam nach außen zu vermitteln, in ihrem eigenen Tempo, ihrer eigenen Kommunikation, und eben nicht in unserem Tempo oder in unserer typischen Kommunikation.«

Inzwischen sind Vertreter der Punks bei den »Scheißpolitterminen«, bei den Verhandlungen mit der Stadt dabei und erzählen das selbst im Haus weiter. Politische Aktionen werden gemeinsam geplant und vorbereitet, aus der heterogenen Schar von BesetzerInnen ist eine Gruppe geworden, und aus dem anfänglichen Gegeneinander von Punkern und Politischen eine gute Zusammenarbeit.

»Jemand von der Straße sagte mal zu mir: »Erzähl mir doch nix, wenn ich einmal um den Barmer Block gehe, dann sehe ich hier die Messe und da das fette Hotel, den Bahnhof, den Landschaftsverband, und da die Köln-Arena… ich weiß doch genau, was hier läuft. Dafür muss ich keine Bücher lesen oder wissen, wer im Stadtrat sitzt. Ich hab da keinen Bock drauf, und deshalb bin ich hier.« Es sind nicht nur Leute eingezogen, die eine Wohnung gesucht haben. Für viele hat sich das vermischt, die fanden das cool, in dem Projekt zu sein, das gerade die Stadt anpisst, und nicht in irgendeinem leer stehenden Haus, wo man für ein paar Tage bis zur Räumung unterkommen kann. Deshalb sind so viele mit dem Engagement mitgegangen, weil sie da viel von ihrem eigenen Frust wiedergefunden haben. Diese Verquickung, wie sie sich in meinem Kampf dort wiedergefunden haben, und ich mich in ihrem, das war super, diese Erfahrung habe ich noch nie so stark gemacht.

Wir sind als Barmer Block, wirklich alle Gruppen zusammen, zu den Fraktionssitzungen gegangen, wir haben der SPD das Buffet leer gefressen, wir waren bei den Grünen, bei sämtlichen Ausschüssen, wir sind durch die Stadt gerockert. Das hatte einen großen Spaßfaktor. Wir hatten, für jeden spürbar, eine unheimliche power, und auch genau darin, dass wir total unterschiedlich sind, dass die uns nicht einschätzen können. Die Menschen, die wir antreffen, sind eigentlich alle überfordert von uns.«

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern…

Überfordert war leider auch das »Soziale Zentrum«. In den ersten Wochen der Besetzung überlegte ein »Perspektivenplenum« unterschiedlichster Leute, wie wir diesen Riesenraum, den wir unverhofft erobert hatten, selbst mit Inhalt füllen könnten. Es war ausdrücklich erwünscht, dass Gruppen sich einzelne Häuser nehmen, diese vor Zerstörung schützen und dort ihre Veranstaltungen organisieren. Tatsächlich gemacht haben das nur zwei Gruppen. Der SSK richtete im ehemaligen Laden der Siedlung einen Second-Hand-Laden ein, als Schnitt- und Infostelle zur Außenwelt, da sich viele Leute kaum trauten, den Block durch den dunklen und szenemäßigen Eingang zu betreten, und mit der Idee, hier eine Erwerbsquelle für die Besetzung zu schaffen. Eine andere Gruppe, die seit längerem versucht, in Köln ein Soziales Zentrum einzurichten, nahm sich ebenfalls ein Haus. Aber schon ihr Einstieg war auf Konfrontation ausgerichtet. Auf Indymedia war von »Abgrenzung« gegenüber den BesetzerInnen die Rede, und der Antisemitismusvorwurf wurde hochgekocht. Ein einzelner Typ in der absolut heterogenen Besetzergruppe hatte Stammtischsprüche über »jüdisches Finanzkapital« u.ä. von sich gegeben. Das nahmen Leute vom Sozialen Zentrum und andere zum Anlass, die gesamte Besetzung als »antisemitisch« zu diffamieren.

»Wir waren erstmal längere Zeit damit beschäftigt, intern zu klären, wie wir mit der Person umgehen. Die hat ganz klar die Auflage gekriegt, dass solche Sprüche hier nicht laufen. Aber viele von uns halten nichts von Ausgrenzung. Diese Person wurde schon vor diesen Äußerungen nicht ganz ernst genommen, die war meinungsmäßig überhaupt nicht gefestigt, und musste sich nun ständig der Auseinandersetzung stellen. Ich dachte, wir hätten das ganz gut im Griff, und habe die Angriffe von außen, dass wir uns nicht damit auseinandersetzen würden, nicht verstanden. Bis ich dann kapiert habe, dass damit eigentlich gemeint war, wir müssten eine Stellungnahme abgeben. Wir sind von verschiedenen Seiten angegriffen worden, teilweise von Leuten, die nie im Barmer Block waren, aber gehört hatten, »dass da ein Antisemit ist«. Am Anfang sind da viele Menschen eingezogen, die wir gar nicht kannten, und dann hat einer eine Deutschlandfahne aus dem Fenster gehängt. Als wir den Typen zur Rede gestellt haben, hat der was von Fußball und WM erzählt. Aber die Fahne wurde wieder als Indiz genommen, dass wir ein antisemitisches Projekt sind. Es gab Aufforderungen, uns die Unterstützung zu entziehen. Leute kamen ins Haus, nur um uns anzumachen, was wir für ein Scheißprojekt sind. Das hat zu einer Antistimmung geführt, gegen alles, was irgendwie politisch daher kam und diskutieren wollte, weil die Leute das Gefühl hatten, sie müssten sich rechtfertigen und man will ihnen was.«

Die Leute vom Sozialen Zentrum kamen nur für ihre Veranstaltungen. Sie haben weder den Alltag der Besetzung geteilt, noch dort übernachtet. Bei Konzerten nahmen sie bis zu 5 Euro Eintritt, was die meisten BewohnerInnen nicht zahlen konnten. BesetzerInnen wurden damit von Veranstaltungen im Hause ausgeschlossen. So entstand der Eindruck, dass sich Leute ins gemachte Nest setzen und Geld scheffeln auf dem Rücken derjenigen, die die Besetzung tragen, kaum Geld haben und sich auch noch von Bürgerkindern beschimpfen lassen müssen. Bei diesem Aufeinanderprallen der Welten hat das Soziale Zentrum leider keinerlei Sensibilität für soziale Verhältnisse gezeigt. Die Reaktionen waren ebenfalls nicht schön.

 

Zöglinge und Studenten

»Wir sind nicht ehemalige Heimzöglinge. Wir sind ehemalige Studenten. Die Kluft zwischen ihnen und uns erleben wir jeden Tag. Wir haben bemerkt, dass wir nicht weiterkommen, wenn wir sie leugnen.

Aber eins haben wir gemeinsam: Wir sind Ehemalige. Wir sind dabei, unsere gesellschaftlich vorbestimmten Positionen zu verlassen. Sie sind der Ausschuss der Produktion von Proletariat. Wir sind der Ausschuss der Produktion von Privilegierten.

Auf dieser Basis lernen wir voneinander, unsere verschiedenen gesellschaftlichen Positionen gemeinsam einzusetzen. Durch ihr Beispiel entdecken wir auch bei uns das Bedürfnis nach einer neuen Gesellschaft, von uns bekommen sie die Einsicht in die Notwendigkeit.

Überall da, wo wir in dieser Gesellschaft gemeinsame Interessen verwirklichen, entsteht ein Stück der neuen Gesellschaft. Für Momente erfassen wir sie in gemeinsamen Aktionen und gemeinsamer Artikulation.«

 

Aus dem Buch »Ausschuß«, über die ersten Erfahrungen des SSK. Von den beiden Büchern von Lothar Gothe und Rainer Kippe über die Anfangszeiten des SSK sind in Köln noch einige Exemplare erhältlich. Zu beziehen für je 2,50 plus Porto über den Wildcat-Vertrieb.

Ausschuß (1970)

Protokolle und Berichte aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen

Aufbruch (1975)

5 Jahre Kampf des SSK: von der Projektgruppe für geflohene Fürsorgezöglinge über die Jugendhilfe zur Selbsthilfe verelendeter junger Arbeiter

 

»Als das Soziale Zentrum immer nervöser wurde, der schlimmen Besetzer wegen, haben die Punks überall neben dieses »Kein Platz für Antisemitismus« geschrieben: »88 heißt Halli Hallo«. Manche sind wirkliche Dumpfbacken, aber andere machen das aus Provokation, und wenn du mit deinen linken Mechanismen da einsteigst, dann kommst du aus der Schleife nicht mehr raus. Ich fand die teilweise hart. Sobald das Soziale Zentrum ankam, haben die sich verhalten, als wären sie alle mega-rechtsradikal. Mir in meiner ganzen Erklär- und Aufbauarbeit hat das nicht gefallen, aber ich konnte das andererseits nachvollziehen, dass sie sich dagegen wehren, in eine Schublade gesteckt zu werden. So läuft das eben auf der Straße: Kommst du mir doof, dann komme ich dir noch dööfer.«

Nach drei Wochen Gegeneinander und einer Eskalation nach einem Einbruch verließ das Soziale Zentrum Mitte April den Barmer Block.

»Das Soziale Zentrum war das einzige abgeschlossene Haus im ganzen Block. Zweimal haben Jungs versucht, da einzubrechen. Dabei haben Leute von uns heftig Prügel gekriegt. Die hatten irgendwann keinen Bock mehr, dieses Haus zu beschützen. Dann ist wieder eingebrochen worden, es gab den Vorwurf, der Einbruch wäre von uns ausgegangen, und dann gab es auf einmal einen 15-köpfigen Greiftrupp vom Sozialen Zentrum, der die Wohnungen der Leute durchsucht hat. Da war der Ofen aus, und es kam tatsächlich zu gewalttätigen Übergriffen von beiden Seiten. Damit war der Versuch gestorben, da mehr linke Kultur und linke Inhalte einfließen zu lassen.«

Manches an diesen Ereignissen und Auseinandersetzungen erinnert an die Anfänge des SSK. Ende der 60er Jahre wurden mit der Heimkampagne die Zustände in der öffentlichen »Fürsorge« zum Skandal gemacht. Die Jugendlichen hauten in Scharen aus den Heimen ab. StudentInnen, die vom Proletariat enttäuscht waren, weil dieses nicht die erhoffte Bereitschaft zum Umsturz zeigte, kamen auf der Suche nach einem neuen revolutionären Subjekt auf die »Randgruppen«. Marcuse und Fanon lieferten die theoretische Begründung für die Hinwendung zu den »Deklassierten«. In der Praxis mit Heimjugendlichen und Ex-Knackis kam es aber zu einer Menge Enttäuschungen. Auf der »Randgruppenkonferenz« 1970 tauschten die Gruppen ihre Erfahrungen aus, erklärten die »Randgruppenstrategie« für gescheitert und propagierten stattdessen Stadtteil- und Betriebsarbeit. Bei der Begründung dieses Schritts griffen sie teilweise zu demselben stigmatisierenden Vokabular, das auch die Behörden benutzen, und sie erklärten die Jugendlichen zu einem Fall für die Sozialarbeit.

Der SSK machte diesen Schwenk nicht mit, weder praktisch noch theoretisch. Hier galten die obdachlosen Jugendlichen nicht als »Lumpen«, sondern als Teil der Arbeiterklasse, als verelendete junge ArbeiterInnen, und die Fürsorgeerziehung wurde als »Disziplinierung der Arbeiterschaft« kritisiert. Aus der Kritik am Sozialstaat entstand der Selbsthilfeansatz, und aus der Kritik der Sozialarbeit der Versuch, die Hierarchien zwischen »Bürgerlichen« und ArbeiterInnen in der eigenen Organisation immer wieder zu bekämpfen. Viele der damaligen Revoluzzer hielten diesen Ansatz für unpolitisch. Die Argumente gleichen denen gegen den Barmer Block: Nur für billigen Wohnraum kämpfen ist nicht revolutionär, und mit den Leuten von der Straße kann man nichts anfangen, weil da Alkohol, Drogen und Gewalt herrschen. Allerdings muss man der damaligen Diskussion zugute halten, dass es dabei immerhin noch um eine Strategie zur Revolution ging. Die heutigen selbsternannten Linksradikalen – die sogenannten Antideutschen – wachen dagegen nur noch darüber, dass der Sprachgebrauch überall politisch korrekt ist, und jegliche Aktion von unten – nicht nur von »der Straße«, sondern auch von ArbeiterInnen – steht für sie per se im Verdacht des Antisemitismus . Mit einer solchen Haltung kann man sich vielleicht moralisch auf der richtigen Seite wähnen – aber sicher nicht die Verhältnisse auf den Kopf stellen, die all diese Scheußlichkeiten hervorbringen.

Wo Gewalt herrscht…

Die Erfahrungen, die Obdachlose tagtäglich mit der Staatsgewalt machen, sind wesentlich härter als das, was die Politszene normalerweise abbekommt. Viele BesetzerInnen haben Erfahrungen mit Knast und Heim, und einige sogar mit Krieg.

»An einem Abend haben die Kameruner über ihre Erfahrung als Kindersoldaten erzählt. Wir saßen am Feuer, Leute verschiedenster Herkunft. Die Kameruner haben lange erzählt, es herrschte totale Stille, alle haben zugehört. Nach und nach haben die Leute angefangen, von ihren Erfahrungen zu erzählen. Die hatten ganz schnell die verbindenden Elemente raus. Bei den ganzen harten Geschichten habe ich mich total als Außenseiterin gefühlt. An diesem Abend herrschte eine klasse Atmosphäre. Die Verhältnisse waren am nächsten Tag anders, da sind neue Solidargemeinschaften entstanden. Wenn Leute mit solchen Geschichten durch die Gegend laufen, ist natürlich jede Menge Aggressivität im Spiel. Wenn die ausbricht, muss man damit umgehen können. Da wird für Leute vermittelt, die unangenehm auffallen. Das war eine Supersozialarbeit, die sie untereinander geleistet haben, und die man von außen überhaupt nicht als solche wahrnimmt. Sie selbst würden das auch nicht so bezeichnen, aber das ist untereinander auf der Straße gang und gäbe.

Ich hatte bei der Besetzung das Gefühl eines großen Potenzials, das aber nicht von der Linken kam, sondern von der Basis, von den Leuten von der Straße. Was man vielleicht als Linke noch ein bisschen kanalisieren muss, damit es sich nicht wahllos schon zehn Meter vorm Haus entfaltet, sondern am richtigen Punkt. D.h. man muss sich in die Bahn setzen und zu den entsprechenden Stellen fahren. Ich habe eine Menge schöne Erinnerungen, wo uns das im Ansatz gelungen ist. Aber eben nicht mit meinen üblichen MitstreiterInnen, sondern mit völlig anderen Leuten – und mit wesentlich mehr power. Das war eine Hammer-Erfahrung. So ähnlich wie bei den Camps, die von MigrantInnen mit organisiert wurden, also nicht die typischen Grenzcamps, sondern z.B. das in Fürth, wo viel mehr MigrantInnen vor Ort waren, aus Gruppen wie der Karawane und The Voice, und wo viel mehr Kraft drin steckte. Da sind Demos viel krawalliger, obwohl sie von ihrer Basis her viel mehr Repression zu befürchten haben.

An dem Abend, an dem die Securities provoziert haben, die zuerst für Faschos gehalten wurden, da standen auf einmal dreißig Leute mit Knüppeln draußen auf der Straße, und die Bullen dazwischen. Und ich habe gedacht: Wenn‘s hier knallt, dann sind wir ja gar nicht so wehrlos! Das hat eine große Macht ausgestrahlt, die ich so bei Hausbesetzungen noch nicht erlebt habe. Das war eine beeindruckende Bereitschaft, das Haus auch körperlich zu verteidigen. Das ist nicht mein Stil, ich könnte das nicht, und ich hätte zuviel Schiss davor. Aber mir ist aufgefallen, dass wir oft nur Worthülsen haben, wenn wir überlegen, was wir bei einer Räumung machen, und letztlich endet man bei irgendeiner Spaßaktion oder bei juristischer Kleinstreiterei. In der Situation wurde nochmal klar, dass die Räumung einen heftigen Mix ergeben wird, von Leuten, die sich friedlich verhalten, von Leuten, die Spaßaktionen machen, und Leuten, die sich richtig militant verteidigen.«

Die Barmer Ersatz Gruppe

Der Barmer Block ist am 1. Juni geräumt worden. Der Staat hatte offensichtlich ebenfalls Angst vor dem Mix. Hunderte von Bullen waren im Einsatz, und als erstes stürmte morgens um vier Uhr das SEK mit gezogenen Waffen die Häuser. Angesichts dieser Übermacht versuchte niemand sinnlosen Widerstand. Aber noch am selben Tag wurde neben dem Block mit Planen und Zelten das Camp der »Barmer Ersatz Gruppe« eingerichtet. Von der Stadt wurde gefordert, den Menschen, die sie obdachlos gemacht hat, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, und zwar als Gruppe. Nach der kurzen Besetzung eines anderen Hauses rückte die Stadt pünktlich zum Beginn der WM zwei Etagen in einem Hochhaus raus, das im September abgerissen werden soll. Als Übergangslösung ist das akzeptabel. Aber die Aktionen gehen weiter, und wenn die Stadt nicht bald eine Bleibe auf Dauer rausrückt, werden weitere Besetzungen folgen. Arrgh!

alix


SSK: Sozialistische Selbsthilfe Köln. Wohn- und Arbeitskollektiv, entstanden Anfang der 70er Jahre. Siehe Interview in der Wildcat 73, und einen kurzen Abriss zur Geschichte auf www.ssk-bleibt.de

SSM: Sozialistische Selbsthilfe Mülheim. Abspaltung der Gruppe Köln-Mülheim vom SSK 1985. www.ssm-koeln.org

Eine Dokumentation der Besetzung und des Skandals um das »Barmer Viertel«, mit kommunalpolitischen Feinheiten, Offenen Briefen und Presseberichten findet sich auf barmerviertel.ina-koeln.org

PsychKG: »Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten«, regelt die Zwangseinweisung von »psychisch Kranken«.

Boot Camps sind Umerziehungslager für Jugendliche, die dort militaristischem Drill unterworfen und mit barbarischen Maßnahmen drangsaliert und gedemütigt werden. Sie wurden in den USA Mitte der 80er Jahre eingeführt. Es gibt Berichte über Missbrauch und Todesfälle.

Herbert Marcuse beschreibt in seinem Werk Der eindimensionale Mensch (1964) die Industriegesellschaft als Gesellschaft ohne Opposition, in der das Proletariat integriert und zur Stütze des Systems geworden ist. Lediglich die Randgruppen hätten weiterhin nichts zu verlieren als ihre Ketten: »Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses: ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewusstsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt; sie ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels enthüllt.«

Frantz Fanon betont in seinem antikolonialistischen Manifest Die Verdammten dieser Erde (1961, dt. 1966) die Bedeutung von Bauern und städtischem Lumpenproletariat für Befreiungsbewegungen, da die Arbeiter in den kolonisierten Ländern zur Arbeiteraristokratie verkommen wären.

Zur Kritik der »Antideutschen« und ihrer Taktik, den Antisemitismusvorwurf als Allzweckwaffe zur Diffamierung sozialer Kämpfe einzusetzen, siehe verschiedene Artikel im Wildcat-Zirkular Nr.63 vom März 2002, v.a. S.32ff



aus: Wildcat 77, Sommer 2006



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