Wildcat Nr. 89, Frühjahr 2011 [Editorial]



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Endlich

        ...haben wir mal wieder ein Heft in großer Aufbruchstimmung produziert! In der Stagnationsphase der kapitalistischen Krise verallgemeinern sich die Kämpfe! Aber kurz vor Druckbeginn gab es einen doppelten Dämpfer. Zunächst die Katastrophe in Japan, dann die militärische Einkreisung der Aufstände im arabischen Raum durch die Interventionen in Bahrain und Libyen. Wir können im Heft auf diese neuesten Entwicklungen nicht mehr eingehen, aber unsere Schwerpunktsetzung Erdöl / Nahrung / Ägypten ist umso aktueller geworden.

Der 11. März 2011 müsste eigentlich das Ende des nuklearen Zeitalters eingeleitet haben. Eigentlich! Im Editorial der Wildcat 87 hatten wir gefragt, auf was wohl der 20. April 2010 hinausliefe: »Die Pleite eines Öl-Multis? Das Tschernobyl der Öl-Industrie? Oder nur Obamas Katrina?« Obama hätte die Midterm Elections am 2. November wohl so oder so verloren, die Ölindustrie bohrt weiter in der Tiefsee, und bp macht schon wieder üppige Gewinne. Aber die Katastrophe von Fukushima war im Gegensatz zu Tschernobyl von Anfang an eine globale Frage. Die Aufstände in Afrika, die Produktion unserer Energie und unserer Lebensmittel, die Katastrophen des Kapitalismus, sind heute alles Fragen einer globalen Arbeiterklasse.

Die Aufstände im arabischen Raum und die Nuklearkatastrophe in Japan kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die zwischenzeitliche Erholung der Weltwirtschaft schon wieder an Schwung verloren hatte. Und die Financial Times Deutschland kam am 17. März unter der Überschrift »Die Kernschmelze des Kapitalismus« zum Schluss: »Atom- und Finanzkrise hängen zusammen.« »Fukushima« wird die Nachfrage nach nicht-atomaren Energieträgern steigern, während Erdöl durch die Aufstände im arabischen Raum sowieso dauerhaft teurer wird. Somit werden die Energiepreise deutlich steigen. Die beiden Artikel zu Erdöl (Seite 16) und Lebensmitteln (Seite 32) behandeln diese Fragen parallel: Kann China seine Landwirtschaft so schnell rationalisieren, wie es der »Westen« im 20. Jahrhundert gemacht hat? Eine neue Akkumulationsweise setzte jeweils einen neuen Energieträger mit höherer Dichte voraus. Aber die lange Zeit verfolgten Technologien – Gentechnik und Kernkraft – sind in beiden Fällen kein Ausweg.

Peak Oil?

Seit November, also schon vor den Aufständen im arabischen Raum, pumpten die opec-Länder 700 000 Barrel am Tag (B/T) mehr als sie offiziell angaben. Durch die Unruhen in Libyen fiel eine Million B/T weg. Die opec kündigte an, sie könnte den Ausfall libyscher Ölexporte leicht durch höhere Förderung auffangen. Das ist Propaganda, denn die tatsächlichen Reservekapazitäten liegen bei nur noch zwei Millionen B/T, minus 0,2 Millionen B/T, die Japan nun zusätzlich importiert, um Strom draus zu machen. So niedrig waren die Reservekapazitäten zuletzt im Sommer 2008, was damals zum Rekordpreis von 147 Dollar je Barrel führte. Ende Februar 2011 kostete ein Barrel Rohöl der Nordsee-Sorte Brent 110 Dollar. Dies war der höchste Preis seit über zwei Jahren. Nur fünfmal in den letzten 70 Jahren hat sich das Erdöl in zwei Jahren so schnell verteuert – viermal davon kam es danach zu schweren Kriseneinbrüchen.

Die BRD deckt noch immer ein Drittel ihres Energiebedarfs mit Öl – 1980 waren es 40 Prozent. Dass der Anteil überhaupt sinkt, geht ganz überwiegend auf den stärkeren Einsatz von Erdgas beim Heizen zurück; die Ölimporte sind in drei Jahrzehnten um gut ein Fünftel zurückgegangen, die Gaseinfuhren erhöhten sich fast um die gleiche Menge. 2010 stieg der deutsche Energiekonsum sogar stärker als das bip und die Ölimporte nahmen zu.

Vor die mögliche geologische Erschöpfung der Vorräte haben sich in den letzten Wochen politische Fragen geschoben: Wie belastbar sind denn noch Zusicherungen der opec, wenn die meisten Öl-Regimes ums Überleben kämpfen? »Der wirkliche Schlüssel ist das Ansteckungsrisiko« (durch die Aufstände), hat sogar die Investmentbank Goldman Sachs erkannt.

Inflation?

Die Zentralbanken bereiten Zinserhöhungen vor. Die Europäische Zentralbank sieht ihre Hauptaufgabe mal wieder im Kampf gegen »Zweitrundeneffekte«, sprich Lohnerhöhungen. Im Februar kündigte ihr Präsident Trichet Zinserhöhungen für Anfang April an. Sie sollen verhindern, dass die Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln zu Forderungen nach höheren Löhnen führen. Gerade wurden die Daten des us-Labor Departments für Februar veröffentlicht: dort verzeichneten die Großhandelspreise für Nahrungsmittel ihren stärksten Anstieg seit 1974!

Schlimmer als ein womöglich drohender Öl- und Nahrungsmittel-Preisschock ist das, was die Zentralbanken draus machen. Bernanke, Chef der US-Notenbank Fed, weiß das: Er war 1997 Mitverfasser einer Studie zu den Auswirkungen von Ölpreiserhöhungen und Geldpolitik auf die Realwirtschaft (Systematic Monetary Policy and the Effects of oil Price Shocks), die zu dem Schluss kam, dass die Reaktion der Notenbank auf den steigenden Ölpreis größere »Kontraktionswirkung auf die Realwirtschaft« hat als der Ölschock selber.

Die Europäische Zentralbank hält trotz der absehbaren ökonomischen Folgen der Katastrophe in Japan an ihren angekündigten Zinserhöhungen fest. Dass die Proleten bluten und die Kosten der Krise tragen, ist wichtiger als ein paar Prozentpunkte Wirtschaftswachstum.

Die Krise ist nicht vorbei.

Propagandistisch waren die Bankenrettungen und die ultralockere Geldpolitik der Notenbanken so verkauft worden, dass die Banken dann mehr Kredite vergäben – wäre es darum gegangen, so wäre das Geldpumpen ein krasser Fehlschlag gewesen. In Wirklichkeit sollten die Preise an den Wertpapiermärkten stabilisiert bzw. angehoben werden – und das hat ja auch geklappt. Die bewusst herbeigeführte Aktienblase hat das Ende der Rezession bewirkt. Mit zwei Konsequenzen:

* Insolvente Banken werden mit Steuergeldern am Leben gehalten, die Verluste, die sie eingefahren hatten, wurden zu Staatsschulden. Diese Staatsschuldenkrise führte zur zweiten Krisenwelle, die sich seit Anfang 2010 als »Eurokrise« entfaltet.

* Die Banken machen Rekordgewinne, indem sie die gewaltigen Geldmengen aus den Rettungsprogrammen in Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Energie anlegen. Diese »Profite ohne Akkumulation« führen zu gewaltigen Preiserhöhungen, aber zu keinen neuen Jobs, die weltweite Arbeitslosigkeit stagniert auf einem Rekordhoch. Der Krisenverlauf ist V-förmig für die Reichen (Luxuskonsum nimmt stark zu), L-förmig für den Rest (Dinge des täglichen Bedarfs werden teurer, der Konsum der Armen stagniert).

USA – Banken, Immobilien, Schulden, Dollar: Ein Loch ist im Eimer.

Das bisschen nominales Wachstum beim bip wurde mit noch stärker steigenden Schulden erkauft. Die USA können praktisch unbegrenzte Beträge gratis borgen; die Realzinsen fünfjähriger Staatsanleihen liegen noch immer bei minus 0,5 Prozent. Mit diesen Geldern wird eine Flucht nach vorn finanziert: »mehr vom selben«, noch mehr Autos bauen und mit noch mehr Krediten in den Markt drücken… Und die Gegenfinanzierung heißt: noch größere soziale Ungleichheit; noch mehr Sparprogramme.

Die mit großem Aufwand künstlich am Leben gehaltenen Banken sind in Wirklichkeit insolvent (»Zombiebanken«). Gleichzeitig gab man ihnen (neue) Möglichkeiten, Profite zu machen. Ihre »Maschinenräume der Spekulation« laufen auf vollen Touren, selbst der Handel mit verbrieften Hypothekarprodukten und Autokrediten lebt mit Furor wieder auf. »Bei Kopf streiche ich Gewinne ein, bei Zahl wird die Regierung mich raushauen« nannte sogar Barofsky, der staatliche Aufseher über das US-Bailout-Programm, Ende Januar 2011 dieses »asymmetrische Risikoprofil«. Er warnte vor den Konsequenzen: Das sei »ein Rezept für Katastrophen«.

Die globale Krise brach im Immobiliensektor der USA aus, und ist weder dort noch in den Immobilienblasen Irlands und Spaniens ausgestanden. Die Fed kaufte für weit mehr als eine Billion Dollar hypothekenbesicherte Wertpapiere auf und hält mit ihrer Nullzins-Politik die Hypothekenzisen historisch niedrig. Darüberhinaus gab sie im November bekannt, in den nächsten sechs Monaten nochmal 600 Milliarden Dollar ins Bankensystem zu pumpen (Quantitative Easing 2). Trotzdem waren im Februar die Neubauten von Einfamilienhäusern auf dem tiefsten Niveau seit mindestens 50 Jahren. Und die Immobilienpreise fallen weiter. Man spricht vom double dip des Immobilienmarkts. Seit 2007 wurden in den USA über sechs Millionen Zwangsräumungen vollstreckt. Solange die Arbeitslosigkeit nicht zurückgeht, kommt der Immobilienmarkt nicht aus der Krise – aber solange nicht mehr Häuser gebaut werden, bleibt die Arbeitslosigkeit hoch (nur in der Baubranche wurden im letzten Boom nennenswert »einfache« Arbeitsplätze geschaffen).

Die offizielle Arbeitslosigkeit in den USA bleibt zwischen neun und zehn Prozent; real dürfte sie bei 20 Prozent liegen. Und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit. Mehrere Bundesstaaten stehen vor der Zahlungsunfähigkeit; die Staatsverschuldung liegt bei 14 Billionen Dollar; das Leistungsbilanzdefizit bei sechs Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Auch gegen diesen miserablen Zustand der US-Ökonomie setzte die Notenbank das Rezept »mehr vom selben« ein: den Finanzsektor aufplustern, die Spekulation anheizen, die Preise für Vermögenstitel hochjagen.

Diese ultralockere Geldpolitik hat einen erwünschten Nebeneffekt: der Dollar wird schwächer, und damit fällt der Wert der gewaltigen Schulden, die die USA im Ausland haben. Es ist nicht das erste Mal, dass die USA ihr »einzigartiges Privileg« als Besitzer der Leitwährung dazu benutzen, ihre Schulden »wegzuinflationieren«. Anfang Oktober warnte der brasilianische Finanzminister vor einem internationalen »Währungskrieg«, den die USA losgetreten haben. Mehrere Länder ergriffen Maßnahmen gegen die Aufwertung der eigenen Währung. Im Zentrum der Auseinandersetzung stand aber, dass es den USA nicht gelang, China zur massiven Aufwertung des Yuan zu zwingen. Auf dem G20-Treffen in Südkorea Anfang November waren die USA isoliert.

Der Status des Dollar als Leitwährung bröckelt; am Ende des dritten Quartals 2010 wurden nur noch 61,3 Prozent der internationalen Währungsreserven in Dollar gehalten – noch ziemlich viel, aber ein historisches Tief. Der weltweit größte Privatinvestor Pimco gab am 10. März bekannt, dass er sich von allen us-Staatsanleihen getrennt habe; angeblich soll auch China den Ankauf eingestellt haben. Die Folgen sind noch gar nicht abzuschätzen (siehe die Artikel in den letzten Wildcats zu Chimerica). Der bisher schleichende Niedergang des Dollars als Leitwährung könnte sich dramatisch beschleunigen. Damit verlören die USA die Möglichkeit, ihren gewaltigen Schuldenberg weiterhin zu finanzieren.

Mit den Umwälzungen im arabischen Raum verschwindet eine weitere Grundlage der Dollar-Hegemonie. Selbst wenn sich die Aufstände nicht weiter ausbreiten würden, müssten die Regimes verstärkt in ihren eigenen Ländern investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen und den Reichtum breiter zu verteilen, damit es nicht zu Unruhen kommt. Der saudische Herrscher hat 36 Milliarden Dollar für Lohnerhöhungen, mehr Arbeitslosengeld und Mietsubventionen angekündigt. Und aus Angst vor weiteren Unruhepotenzialen werden sie die bevölkerungsreichen Länder Nordafrikas unterstützen. Damit entfällt die Geschäftsgrundlage für das Recycling der Ölgelder, die sogenannten »Petrodollar«. Ein weiterer Mechanismus, der fast fünf Jahrzehnte das Rückgrat der Dollar-Hegemonie bildete.

Die Systemkrise ermöglicht fundamentale Umwälzungen.

Die Krise hat viele Leute über das Wesen der Staaten, der Banken usw. aufgeklärt, und weltweit haben sich Betroffene gegen die Krisenfolgen zur Wehr gesetzt. Aber soziale Utopien von der Überwindbarkeit des Kapitalismus sind bisher nicht zum Ausdruck gekommen. In den letzten Monaten von 2010 haben in Frankreich, Griechenland, England und Italien größere Mobilisierungen angefangen, die nun solche Fragen aufwerfen (siehe Italien-Artikel Seite 26).

Wir haben immer versucht, die aktuelle Weltkrise als »Krise der Krise« zu verstehen, als Krise des seit Mitte der 70er Jahre dauernden Angriffs auf alle kollektiven Strukturen. Damit wollten wir den Blick auf die zentrale Frage richten: Wo entstehen kollektive Prozesse gegen die Krisenangriffe und -folgen? Der egalitäre Drive in den Aufständen in Tunesien und Ägypten macht uns diesbezüglich sehr viel Hoffnung. Sie haben eine Wahrheit wieder ins Bewusstsein aller gerückt: ohne große Menschenmassen ist keine Umwälzung zu haben, ohne Arbeiterstreiks keine Revolution. Seit Ausbruch der Krise haben sich Vorläufer einer globalen Streikbewegung aufgebaut: u.a. in Bangladesch, Vietnam, erste offensive Arbeiterkämpfe in China seit dem Tien’an Men-Massaker… Davon war Ägypten eines der Zentren, dort gab es in den letzten Jahren mehr als 3000 Streiks, in denen mehr als zwei Millionen ArbeiterInnen aktiv wurden. (siehe den Ägypten-Artikel Seite 8)

Weltweit wird der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit massiver. Die Empörung über »die Banker« ist eine mildere Version derselben grundlegenden Forderung. Sie kann in systemerhaltende Personifizierungen abgelenkt werden, sie kann aber auch wie in Tunesien (siehe das Interview auf unserer Website) und Ägypten den Schirm bilden, unter dem ganz andere soziale Aspirationen zusammenkommen und sich Bahn brechen. Diese Aufstände haben auf die ganze Welt ausgestrahlt, nach Wisconsin (Seite 22), nach Europa, in den Irak… (siehe den Überblick auf den nächsten beiden Seiten).

Die Aufstände werden durch die militärische Besetzung von Bahrain und die Bombardierung Libyens in dem Moment in die Zange genommen, in dem sie die Wirtschaft lahm zu legen drohten. Angesichts der Ereignisse in Libyen und Jemen erscheint Sinhas Aufsatz Arbeiter und Arbeiterklasse im heutigen Indien (Besprechung Seite 44) nochmal in einem ganz anderen aktuellen Licht. Aber die militärischen Angriffe können nur dann politisch siegen, wenn sie es schaffen, die Leute anhand von Hautfarbe, Religion, Sprache, Stamm gegeneinander auszuspielen. Wenn das ganze Mittelmeer zum militärischen Kampfgebiet wird, haben die MigrantInnen keine Chance dorthin zu kommen, wo sie hin wollen. Und wenn die Euro-Krisenstaaten die erste Angriffswelle fliegen, wird die Solidarisierung zwischen den Opfern der Krise schwieriger. Aber vielleicht kommt auch alles ganz anders.


Am 20. März 2011 sind Prognosen schwierig geworden.
Frühlingsanfang 2011



aus: Wildcat 89, Frühjahr 2011



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