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16.04.2014

aus: Wildcat 96, Frühlig 2014

Beruf und Bewegung

Der Skandal um Aufheben...

Vor drei Jahren kam es zu einem kleinen Skandal, als die griechische Gruppe tptg mit einem offenen Brief bekannt machte, dass der Mitbegründer von Aufheben, John Drury, im Rahmen seiner akademischen Laufbahn in Crowd Control u.a. Workshops für Polizei und Militär leitet und bei ihnen als »Ideengeber« gilt. Er selber forscht über Massenpanik und Rettungsmaßnahmen. Zusammen mit seinen engsten Kollegen Stott und Reicher hat er das Elaborated Social Identity Model (esim) ausgearbeitet. Der Sozialpsychologe Stott gilt als einer der weltweit führenden Experten für Proteste und gewaltsame Aufstände. Laut esim verhält sich ein »Mob« nach bestimmten Mustern: Personen in einer Menschengruppe haben individuelle Gedanken und Emotionen; wenn die Menge aber undifferenziert von der Polizei angegriffen wird, solidarisiert sie sich und setzt sich gemeinsam zur Wehr. Deshalb rät esim, die Polizei solle mehrstufig agieren und gezielt die »Einzeltäter« aus der Menge herausgreifen. Mit solchen Methoden koordinierte Stott beispielsweise die Sicherheitsvorkehrungen für die Fußball-em 2012 in Polen und der Ukraine (ausführlich in den beiden offenen Briefen von tptg)1.

Aufheben ist eine Gruppe aus Brighton, die eine der wenigen kollektiv produzierten Zeitschriften der radikalen Linken im englischsprachigen Raum herausgibt. Meist behandeln sie in langen Artikeln fundamentale Fragen (was war die Sowjetunion, Dekadenztheorie, »Green New Capitalism« u. a.). Sie beschäftigten sich oft mit ähnlichen Themen wie wir (Theorie der Ölrente, Kritik am autonomist marxism von Negri u. a., Auseinandersetzung mit Beverly Silver). Wir haben einige Texte von ihnen übersetzt (Intifada des 21. Jahrhunderts, Kritik an den Commons-Thesen von Massimo de Angelis, Dole Autonomy) und haben sie an einigen Punkten auch kritisiert (siehe z. B. Wildcat 89: »Die Ölrente, Ricardianer unter sich«). Zu Arbeitszeitverkürzung und Existenzgeld haben sie ähnliche Positionen wie wir. Ende der 1990er Jahre hatten wir sogar kurzzeitig eine engere politische Zusammenarbeit mit ihnen und anderen Gruppen in Europa angestoßen, was dann aber scheiterte.

Uns hat die Enthüllung deshalb geschockt – was allerdings noch kein Grund wäre, in der Wildcat darüber zu schreiben. Aber der Verlauf der Debatte in der linkskommunistischen Szene Europas hat uns zunächst sprachlos gemacht. Die allermeisten winkten ab (»let‘s move on«) oder griffen diejenigen an, die die skandalösen Tatsachen öffentlich gemacht hatten.

Die heutigen Bewegungen machen wieder einen öffentlichen Raum auf, um über »Allgemeininteressen« zu debattieren. Aber dass sie ihre eigene soziale Situation nicht kritisieren, sondern eher ideologisieren (»wir sind alle prekär«), macht sie zahnlos. Das hat damit zu tun, dass alle diese Bewegungen »zwei Seelen« haben: Ein Teil ist jung und verfügt über hohe formale Qualifikationen, der andere Teil ist formal wenig qualifiziert und tendenziell von der Entwicklung »abgehängt«. In der Krise sind bei der individuellen »Berufswahl« und bei dem, was ich auf Arbeit zu schlucken bereit bin, alle Dämme gebrochen: Aus der Entgarantierung der Arbeitsverhältnisse folgt das viel größere Interesse am Beruf(lichen Fortkommen). Oft klammern sich Leute dann an Jobs, obwohl sie ihnen zuwider sind.

»Solange unsere bestnotierte Jugend in bestbezahlten Jobs der Finanzindustrie ihre Chancen sieht«, brauchen wir keine Revolution zu fürchten, hatte die Financial Times Deutschland Anfang 2012 kommentiert – gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass sinkende Gehälter »glatt dazu führen (könnten), dass sich Investmentbanker zukünftig auch ohne Entlassung freiwillig einer sinnvolleren Aufgabe widmen. Unter den Harvard-Absolventen hat die Wall Street jedenfalls 2011 bereits an Zugkraft verloren.«

Vielleicht führen auch die Enthüllungen über die Rolle des Verfassungsschutzes rund um den nsu und die Debatten, die durch Snowdens nsa-leaks angestoßen wurden, bis in die Hacker-Szene hinein zu einem Umdenken. Zumindest werden solche Karrieren jetzt öffentlich skandalisiert:

Die Occupy Wall Street-Aktivistin Justine Tunney, eine der prominenteren Personen im Zuccotti Park, die unter anderem die Website »OccupyWallSt.org« unter dem Slogan »The only solution is World Revolution« aufsetzte, nahm nach dem Ende der Bewegung einen Job als Softwareentwicklerin bei Google an und behauptet nun Sachen wie »Ich glaube, was Google tut, macht die Welt zu einem besseren Ort«. Kritik an der Rolle von Google bei Überwachungsmaßnahmen begegnet sie mit dem Satz: »Es erstaunt mich immer wieder, wie weit Leute die Realität verdrehen, um eine Firma zu denunzieren, die alles kostenlos anbietet.« Sie äußert sich nun auch politisch gegen die Bewegung und behauptet, diese hätte sich nie gegen die Macht der Großunternehmen gewendet. Auf Twitter wettert sie gegen Sozialhilfe – diesbezüglich musste sie wohl nicht einmal ihre Meinung ändern. Und ihr Vorschlag, Leute fürs Demonstrieren zu bezahlen, findet durchaus Unterstützung, etwa bei Micah White, einer ehemaligen Redakteurin von AdBusters, die jetzt bei einer social movement consulting-Firma arbeitet.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kryptografie ist genausowenig »neutral« wie crowd control. Und wer seine soziologischen Thesen auf Verfassungsschutzpodien vorträgt, braucht anderen nicht mit dem »Anna und Arthur haltens Maul«-Gestus zu kommen. Paradoxerweise herrscht aber in Teilen der radikalen Linken genau diese Doppelmoral, weil die eigene Lohnarbeit nicht thematisiert wird. Die »Gegnerschaft« zum Staat wird dann zur Ideologie/Geste – höchstens mal auf ner Demo »praktisch«.

Die Bewegungen erhalten nur Schubkraft, wenn sie das »Private« öffentlich machen. Ein wichtiger Schritt ist es, in der politischen Gruppe das Verdienen und das Ausgeben von Geld gemeinsam zu diskutieren. Aber auch mit dem Einverständnis der Gruppe können bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Zusammenarbeit mit Nato, Polizei und Geheimdiensten gehört sicher dazu. Eine breite, öffentliche Debatte tut deshalb not. Diese wird so ziemlich alle Fragen anschneiden – von der eigenen Reproduktion, über Organisierung, revolutionäre Moral, bis zur Frage, was »Revolution« eigentlich ist. Deshalb wollen wir eine kleine Artikelserie starten, um Euch LeserInnen zu animieren, an der Debatte teilzunehmen: Welche Rolle spiele ich selber in der kapitalistischen Arbeitsteilung? Was sind meine Kosten für eine berufliche Karriere? Kann ich mich auf dem Arbeitsmarkt auch anders als individuell bewegen? Das folgende soll als Einstieg dienen.

... die Pfütze eines Eisbergs

Aufheben war durch die Enthüllung doppelt getroffen. Neben der Zuarbeit für Repressionsorgane war jd beim kooperativen und freundlichen Umgang mit reformistischen Kollegen ertappt worden – für weit geringere reformistische Affinitäten hatte Aufheben andere Linke immer scharf gegeißelt. Aufheben reagierte sofort – sie mussten offensichtlich nicht lange nachdenken und auch keine ihrer theoretischen und politischen Annahmen ändern. Sie sahen keinerlei Problem darin, dass ihr Genosse seine Karriere in einer »sicherheitsstaatsaffinen Wissenschaft« (Hartmut Rübner) betrieb. Stattdessen erklärten sie ihren KritikerInnen generös, wie »Akademie« funktioniert: »Im ›Blaulicht-Milieu‹ arbeitet man eng zusammen, und über Notfälle redet man sowohl mit Bullen als auch mit anderen Menschen. Seine Universität förderte das, und es hätte eigenartig ausgesehen, wenn er sich geweigert hätte, mit Bullen zu reden. Deshalb nahm er das als kleinen Preis für den übergreifenden Job seiner Untersuchungsarbeit in Kauf.« Frecherweise rückten sie ihre Kritiker in die Nähe von Polizeistaatsmaßnahmen, weil diese den Namen des Kollektivmitglieds öffentlich gemacht hatten.

(Wir haben uns trotzdem entschlossen, den Namen ebenfalls zu benutzen, wenn John Drury seinen »Blaulicht-Kollegen« gegenüber kein Geheimnis aus seiner politischen Herkunft macht, dann kann die linke Szene über seine akademischen Erfolge Bescheid wissen.)2

In der darauf folgenden Auseinandersetzung wurde jd aber auch von Personen verteidigt, die mit Aufheben politisch über Kreuz liegen. Hier gibt es tiefere Gemeinsamkeiten unter »radikalen Linken«, die sich für radikal halten, aber inzwischen explizit die Entpolitisierung der eigenen Reproduktion vertreten: Wie ich meine Brötchen verdiene, wofür ich »mein« Geld ausgebe – das geht keinen was an! Scharfe ideologische Auseinandersetzungen gegeneinander zu führen, ist das eine, gleiche soziale Verhaltensweisen das andere. Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Linke, die sich keine Revolution mehr vorstellen können, suchen in der Lohnarbeit materielle Absicherung und soziale Anerkennung – wie soll es auch anders gehen im Kapitalismus?

Wenn Gewerkschaften und Stiftungen mit Jobs, Stipendien und Forschungsaufträgen winken

»Dass das Hemd näher ist als die Jacke... gehört zu den ... Lernzielen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.«
(Klaus Viehmann, 2002)

Problematischerweise ist die linke Szene selber zu einem undurchschaubaren Mix aus politischen Projekten und Einkommensquellen geworden. Selbstständige machen Auftragsarbeiten für linke Verlage; linke Zeitschriften bieten bezahlte Jobs; viele dieser Jobs kriegt man nur über seine politischen Connections... Das geht inzwischen bis zu freiberuflichen AktivistInnen, die gegen Bezahlung gegen Atomkraft, Banken oder Gentechnik protestieren; bezahlt von Leuten, die für eigenes Engagement zu wenig Zeit haben. Wenn das eigene politische Engagement mit dem Geld Verdienen verschwimmt, lässt sich nicht mehr erkennen, was die Leute selber denken – und was sie aus beruflichen Gründen vertreten.

In Großbritannien heißen solche Tätigkeiten movement jobs, dort gibt es diese Entwicklung schon länger und sie ist weiter verbreitet; viele radikale Linke arbeiten als Organizer für Gewerkschaften oder als DozentIn an der Uni. Ein Genosse aus London schreibt: »Wenn ich zu einem Treffen zur ›Unterstützung von Putzfrauen‹gehe, sind mindestens die Hälfte der Leute dort, weil sie entweder gerade als Freelancer einen Artikel zum Thema schreiben oder weil sie an einer Doktorarbeit über ›Migration als Beziehungsarbeit‹sitzen – oder sie haben einen Job bei der Gewerkschaft und müssen sich deshalb drum kümmern. Danach in der Kneipe ist dauernd diese Schizophrenie spürbar (›weißt Du, ich schreibe über die Sache gerade einen Artikel für den Guardian, dadurch hab ich dann Zeit, um was Richtiges für Zeitschriften der Bewegung zu schreiben‹, usw.)«.

Seit den Hartz-Gesetzen hat die brd-Linke hier stark aufgeholt, seit dem Ausbruch der globalen Krise boomen solche Jobverhältnisse geradezu. Auch hier dürfte inzwischen die Hälfte der ehemals radikalen Linken von Parteistiftungen (v.a. der Rosa-Luxemburg-Stiftung der PdL) abhängen, oder »Trainings gegen Rassismus« an Schulen machen, »menschenrechtsorientierte Kinder- und Jugendarbeit«, usw.

Die vielen ehemaligen Linksradikalen, die als »Organizer« in den Gewerkschaften arbeiten, sind ein Beispiel dafür, dass solche Jobs für die Mehrheit keinen sozialen Aufstieg bringen. Darauf sind wir bereits in den Wildcats 78 und 80 ausführlich eingegangen. Verwiesen sei zusätzlich auf den 2011 erschienenen Aufsatz von Berger/Meyer, Linkes Co-Management – Kritische Bemerkungen zu Ideologie und Praxis gewerkschaftlichen Organizings im Sammelband Organisation und Kritik3. Am Beispiel der ehemals linksradikalen Flüchtlingsaktivistin Franziska Bruder verweisen Berger/Meyer auf die Kosten einer solchen Berufswahl: Diese Lead-Organizerin wurde »von ihrem Arbeitgeber ver.di zunächst ausgerechnet in der Security-Branche« eingesetzt.(Fußnote auf S. 261). Und obwohl es bei dieser ver.di-Kampagne selbstverständlich weder um »eine emanzipatorische Infragestellung der Selbstschutzinteressen von Privateigentümern und staatlichen Instanzen« noch »um die Organisierung jener Ein- und Ausgeschlossenen, die von den Wachmannschaften kontrolliert und in Schach gehalten werden« (S. 270) ging, ließ sich Bruder damals in Mitbestimmung 12/2007 zitieren mit: »Gewerkschaft muss Spaß machen«. Berger/Meyer sehen ganz richtig »die Gefahr, dass Kampagnen für die ›Organisierung der Unorganisierten‹sich letztlich als Vehikel für die Karriereaspirationen linker Organizer entpuppen.« (S. 265) Was kein Widerspruch ist, denn »die explizite Selbstverortung als Think Tank der Gewerkschaftsvorstände könnte eine akademische Variante jener ›Selbstorganisation der Prekären‹sein«, von der in einer bestimmten Linken so viel die Rede ist. (S. 248)

Nicht nur Gewerkschaften und Unternehmen sind an den Managementfähigkeiten von AktivistInnen interessiert; die Herkunft aus der Linken und Kontakte zu sozialen Bewegungen können für bestimmte Jobs eine Zusatz-Qualifikation sein. Deshalb hatte Dr. jd kein Problem damit, seinen politischen Werdegang in einem Wissenschaftsmagazin darzulegen:4

Unter der Überschrift »Was die kritische Psychologie für die ›antikapitalistische Bewegung‹(nicht) tun kann« schrieb Drury: »Kritische Psychologen ... haben anscheinend das Beste aus zwei Welten: wir können einige unserer Bedürfnisse als kritische Menschen befriedigen (und unserem Gewissen treu bleiben), und zur selben Zeit unseren Lebensunterhalt als Psychologen verdienen – und vielleicht kommt sogar eine ordentliche Karriere dabei heraus«.

Die »Professionalisierung unserer Medienarbeit«, Kampagnenarbeit und das ganze sozialpädagogische Zivilgesellschaftsgefasel sind die andere Seite der Medaille solcher Karrieren – irgendwo muss das antrainierte Wissen ja hin! Eine »Castor Schottern«-Kampagne wäre das optimale Betätigungsfeld für jd!

»Professionalisierung« von was?

Die linke Bewegung zahlt insgesamt einen hohen Preis für solche individuellen Karrieren, die negativen Rückwirkungen auf ihr »soziopolitisches Gefüge« sind schwerwiegend. Die krasse Zunahme sozialer Ungleichheit in der Gesellschaft betrifft auch die Linke; hier dürfte die Einkommensschere in den letzten Jahren sogar stärker auseinander gegangen sein. Individuelle Karrieren einerseits, zunehmender Druck und Vereinzelung andererseits treiben weitere Leute dazu, individuell ihren Arsch ins Trockene zu bringen. Die realpolitische Wende in der radikalen Linken wurde in der ersten Hälfte der 90er Jahre von Leuten mit intellektuellem und letztlich sozialem Eigeninteresse am (verbesserten) Fortbestand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung durchgesetzt (z.B. propagierte Joachim Hirsch in »Der nationale Wettbewerbsstaat« 1995, »revolutionäre Politik ist unmöglich«). Heute laufen linke Kongresse wie Uni-Seminare ab, linke Sprache und akademischer Jargon sind ununterscheidbar geworden. Und Leute wie Roland Roth arbeiten mit Verfassungsschützern zusammen – dazu ausführlich das Buch »Gegnerbestimmung«.

Während sich immer mehr Menschen vom Staat abwenden (siehe z.B. die Wahlbeteiligung), ist die ehemals radikale Linke in den letzten Jahren auf ihn zugegangen, und war an vielen Punkten nicht mehr von staatlichen Institutionen zu unterscheiden. Die Linke kennt ihre Feinde nicht mehr; die Sicherheitsbehörden werden in der brd immer mächtiger, v.a. der Verfassungsschutz – und ehedem radikale Linke setzen sich mit ihm aufs Podium oder lassen sich ihre antirassistischen Broschüren von ihm finanzieren – selbst noch nach dem Auffliegen des nsu!

Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wie viele ehemalige linke AktivistInnen im Auftrag von europäischen und us-amerikanischen Stiftungen weltweit daran mitarbeiten, dass Aufstandsbewegungen wie die in Ägypten nicht aus dem Ruder laufen, sich zivilgesellschaftlich/demokratisch orientieren und nicht an sozialen Konflikten radikalisieren.

Und eine historische Analyse darüber, wie der Niedergang von Bewegungen zu Institutionalisierung führt, diese aber schon während der Bewegung in »Professionalisierungstendenzen« angelegt war, könnte uns bei der notwendigen Debatte weiterhelfen; z. B. wäre ein Vergleich der Zusammensetzung der Ersten und Zweiten Internationale sehr interessant (handwerkliche Arbeiterclubs versus Führerschaft von Ingenieuren und Anwälten, die bessere staatliche Planung zum Ziel erklärten).

Die Annahme, man könne mit Arbeit innerhalb von Institutionen materiell was abziehen (Geld, Ressourcen) und müsse wenig dafür geben, ist genauso falsch wie die ebenfalls von Aufheben vertretene Meinung, das sei nötig zur revolutionären Theorieproduktion. »Es ist eine Tatsache, dass ein großer Teil der marxistischen Theorieproduktion in letzter Zeit unter den großzügigen Flügeln des akademischen Betriebs ausgebrütet wurde. Schließlich ist eine akademische Karriere für einen jungen radikalen Studenten, der in Kämpfe verwickelt war und an den Kommunismus glaubt, ideal – sie gibt dir die Möglichkeit, das System zu attackieren und vom System dafür noch bezahlt zu werden.« Dabei ist sich Aufheben des problematischen Verhältnisses zwischen ›revolutionärer Therorie‹und Akademiebetrieb durchaus bewusst: »Aber diese Trennung menschlicher Aktivität ... hat notwendigerweise konkrete Folgen. Indem sie der akademischen Forschung untergeordnet wird, wird der Denkprozess selbst zur Tätigkeit von Spezialisten im Rahmen akademischer Erfordernisse und Parameter. Wie aufrichtig die Gefühle des Autors auch sein mögen, dieser konkrete Zweck wird unvermeidlich Form und Inhalt seines Werks beeinflussen.« (Aufheben zur Staatsableitungsdebatte). Aber sie stellen das Problem so (»dass wir zur ausgebeuteten Klasse gehören, lässt uns weniger Zeit für die Theorieproduktion als jene haben, die zur Bourgeoisie gehören«), dass sie die (damals noch nicht bekannt gewordene) Entscheidung von jd affirmieren. Ihre Sichtweise vor und nach seinem Auffliegen ist kohärent – das ist das wirklich Beunruhigende und zwingt zu neuem Nachdenken über linkskommunistische Theorieproduktion der letzten Jahre.

Gruppen wie Aufheben haben das zynische Kommentieren linker Realpolitik mit ihren professionalisierten Kampagnen zu ihrem Daseinszweck gemacht. Darüber hinaus beherrscht gerade Aufheben virtuos die messerscharfe Kritik aus dem off an allen kollektiven Versuchen, ohne jemals einen Blick auf sich selbst werfen zu müssen. Ihre Kritik vereinzelt und spaltet – ganz ähnlich wie laut esim eine erfolgreiche Polizeistrategie auszusehen hat.

(Mit dem Wissen von heute erscheint ihre Kritik an der CallCenter-Untersuchung von kolinko – Untersuchung sei ein »funktionalistisches Verhältnis zwischen Militanten und Arbeitern« – in der sie sich selbst als kritische Boheme-Denker darstellten, die weder militant sind (›intervenieren‹wollen), noch ›Arbeitersein‹als einen potentiellen Ausgangspunkt für politisches Handeln sehen, als geradezu allegorisch.)

Kritik am Beruf

»alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes,
ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«
(Karl Marx)

Sergio Bologna sagte einmal, wenn man den revolutionären Gehalt der Bewegungen 1968 ff. in einem Satz zusammenfassen wolle, so wäre das ihre Kritik am Beruf, an der kapitalistischen Arbeitsteilung. Den Leuten in den Bewegungen Ende der 60er/Anfang 70er war klar, dass sie im revolutionären Prozess sich selber ändern und ihre soziale Position kritisieren mussten. Sie konnten nicht einfach von ihren »Interessen« ausgehen. Stattdessen unterzogen sie die gesamte kapitalistische Arbeitsteilung (Wissenschaft, Schule, Fabrik, Familie, Knast...) einer radikalen Kritik. Dieser revolutionäre Impetus ist heute verloren gegangen – aber es ist keine Frage, dass er in revolutionären Bewegungen wieder wachsen wird.

Heute belächelt man diejenigen, die damals »in die Betriebe« gegangen sind... – die weithin gepflegte Lüge, alle revolutionären Studenten hätten nach ein paar Wochen die Fabrik wieder verlassen und Karriere gemacht, zeigt aber, dass diese Vergangenheit immer noch Ansprüche aufwirft, die bekämpft werden müssen, wenn man seinen Frieden mit den Verhältnissen machen will.

(Übrigens hat die Idee, in Großbetrieben zu arbeiten, aus heutiger Sicht noch einen ganz anderen Charme, wo die Jobs immer vereinzelter werden. An der Uni, in Firmen für Web design und dergleichen hat man meist nur sehr wenige KollegInnen; oder arbeitet gleich ganz allein als Ich-ag oder in anderen Formen von (Schein-)Selbständigkeit, beim Doktorarbeiten schreiben usw. In solchen Jobs ist es verdammt schwer bis unmöglich, was Gemeinsames auf die Reihe zu kriegen.)

Die Ehrfurcht vor Spezialisten innerhalb der Bewegungen (Theorieexperten, Organizern, Rechtsanwälten) hängt auch mit »technischen« Veränderungen zusammen. Mit verstärkter Polarisierung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und verschärfter Kontrolle wächst die Schere zwischen der Intelligenz des kollektiven Arbeiters (als antagonistischem Subjekt) und dem Spezialwissen. Ein Kollektiv von MechanikerInnen konnte die Arbeit des Ingenieurs nachvollziehen und weiterentwickeln (oft hatte der Ingenieur auch nur ihre »Erfindungen« enteignet). Heute sind wir oft mit Streiks migrantischer ArbeiterInnen konfrontiert, die keine Produktionsmacht mehr ausspielen können, weil die Maschinenführer und Techniker den Betrieb auch ohne sie weiterlaufen lassen können. Gewerkschaftliches Organizing spricht genau solche »Führungsfiguren«, Filialleiterinnen usw. an. »Organizer (setzen) unabhängig von der politischen Einstellung gleich auf die ›Alphatiere‹im Kollegenkreis und stärken damit dessen interne Hierarchien und Ausgrenzungspraktiken.« (Berger/Meyer a.a.O. S. 268) Emanzipatorische Bewegungen müssen solche Hierarchien angreifen und umzudrehen versuchen.

Kritik an der kapitalistischen Arbeitsteilung muss auch Kritik an den Inhalten der kapitalistischen Wissenschaft sein; nicht nur an Geisteswissenschaften, sondern auch an Natur- und Ingenieurswissenschaften. Sie muss aufzeigen, wo die »Götter mit und ohne Krawatte« ihr Wissen nicht abgetrennt von der gesellschaftlichen Kooperation entwickeln können, wo es Ideologie (Gentechnik) ist, wo gefährlich (Atomtechnologie), wo einfach gegen uns gerichtet (Militär, Bullen, Geheimdienste). Es war wichtig, dass tptg in ihrem Offenen Brief auch die Fachrichtung Crowd Control nicht in einer akademischen Gegen-Expertise, sondern als politische Gruppe inhaltlich kritisierten.

Macht Schluss mit den Prekariats-Ideologien! Niemand hat versprochen, dass im Kapitalismus alle eine ihrer Qualifikation entsprechende Anstellung/Bezahlung kriegen! Erfüllung im Beruf zu finden, war schon immer ein Privileg der Mittelschichten. Wer einen garantierten und seinem Studienabschluss entsprechenden Arbeitsplatz als sein spezielles individuelles Recht betrachtet, anstatt die kapitalistische Tretmühle hinter solchen Versprechen und solchen Spaltungen zu kritisieren, affirmiert die kapitalistische Konkurrenz. Anstatt ihre mangelnden beruflichen Perspektiven zu bejammern, sollten die »überqualifizierten Prekären« lieber den Kapitalismus kritisieren!

Man kann nicht ganz normal seine berufliche Karriere betreiben und nebenbei »revolutionär sein«. Wir brauchen eigene Strukturen als materielle Alternative zum »Beruf«, wgs, Kollektive und Zentren, die uns ein anderes arbeiten gehen möglich machen: einen Scheißjob zu schmeißen; zu einem Billiglohn zu arbeiten, weil es politisch interessant ist; oder mal gemeinsam einen Betrieb aufzumischen. Anstelle von »Professionalisierung« und Realpolitik müssen wir die Bewegung über einen kontinuierlichen internationalen Austausch nach vorne bringen.

Profis verpisst Euch!

Jede_r kann alles (lernen).

Fußnoten:

[1] Die beiden offenen Briefe der griechischen Gruppe tptg, die den Skandal auslösten, finden sich auf ihrer Website:
www.tapaidiatisgalarias.org

[2] englische Wikipedia zu John Drury

[3] Bruch, Schaffar, Scheiffele (Hrsg.): Organisation und Kritik; Westfälisches Dampfboot 2011;
der Text Linkes Co-Management findet sich auch online auf Labournet (PDF)

[4] »What critical psychology can(‘t) do for the ›anti-capitalist movement‹« erschien im Annual Review of Critical Psychology 3

zum Weiterlesen:

 
 
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