Wildcat-Sonderheft Krieg 2003 - März 2003 - S. 17-22 [wk3haras.htm]


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Harass the Brass

[dt. etwa: Störfeuer aufs Lametta; ins Grab den Stab]

(Wir haben den Text aus einer Broschüre übersetzt, die Antagonism gemacht und im Internet zur Verfügung gestellt hat: Olive-Drab Rebels - Subversion of the US Armed Forces in the Vietnam War.)

Einige Anmerkungen zur Subversion der US-Streitkräfte

Ein Freund von mir war während des Golfkriegs [1991 gegen den Irak] in der US-Armee. Er erzählte mir, daß bei George Bushs Truppenbesuch in Saudiarabien viele der Mannschaftsdienstgrade, die sich in dessen Nähe befanden, Gewehr und Munition abgenommen bekamen. Auch die Schlagbolzen der Gewehre wurden entfernt. Wenn das so war, zeigt das, daß Bush und seine Betreuer von den großen Konzernen wohl Angst hatten vor den US-Freiwilligen, die Bush wenig später in seiner erfolglosen Kampagne zur Wiederwahl umbringen würde.

Die unterdrückte Geschichte des Vietnamkriegs zeigt, daß der Oberbefehlshaber guten Grund hatte, den Truppen zu mißtrauen und sie zu fürchten. Unsere Herren möchten gerne, daß wir vergessen, was während des Vietnamkriegs geschah, und wir sollen vergessen, was ihren Krieg besiegte - und die Bedeutung des Widerstands gegen den Krieg durch die Freiwilligen, Männer wie Frauen.

Bis ins Jahr 1968 war die Desertionsquote der US-Truppen in Vietnam niedriger als in früheren Kriegen. Aber 1969 hatte sich die Quote vervierfacht. Und das war nicht auf Südostasien beschränkt, die Anzahl der Deserteure unter den GIs stieg weltweit an. Befehlsverweigerung wurde für die Soldaten an der Front zu einer wichtigen Übung, wenn sie fürchterliche Verletzungen oder gar den Tod vermeiden wollten. Schon 1969 setzte sich eine gesamte Kompanie der 196. Leichten Infanteriebrigade auf dem Schlachtfeld nieder. Etwas später im selben Jahr weigerte sich eine Schützenbrigade der berühmten 1st Air Cavalry Division - vor den Kameras von CBS TV - schlichtweg, einen gefährlichen Pfad hinunter zu marschieren. In den folgenden zwölf Monaten kam die 1st Air Cavalry auf 35 Verweigerungen von Kampfeinsätzen.

Der Widerstand unter den Bodentruppen steigerte sich bis 1970 und 1971 von sanften Formen des politischen Protests und der Befehlsverweigerung bis hin zu einer massenhaften und weit verbreiteten »Quasi-Meuterei«. Soldaten begaben sich auf »Suchen und Vermeiden«-Missionen, bei denen sie Zusammenstöße mit den Vietnamesen absichtlich umgingen und oft drei Tage lange Parties abhielten, anstatt zu kämpfen.

1970 kam die Armee schon auf 65 643 Deserteure, was ungefähr vier Infanteriedivisionen entspricht. Der Oberst der Marines Robert D. Heinl Jr., ein altgedienter Frontkommandeur mit über 27 Jahren Erfahrung bei den Marines und Autor des Buchs Soldiers of the Sea, schrieb in einem Artikel, der am 7. Juni 1971 im Armed Forces Journal veröffentlicht wurde: »Unsere Armee, die jetzt in Vietnam bleibt, ist dem Zusammenbruch nahe. Einzelne Einheiten vermeiden den Kampf, oder haben ihn schon verweigert, und bringen ihre Offiziere und Unteroffiziere um...«. Heinl führt einen Artikel aus der New York Times an, der einen Freiwilligen mit folgenden Worten zitierte: »Die amerikanischen Kasernen auf den größeren Stützpunkten sind praktisch entwaffnet. Die lifers haben uns unsere Waffen weggenommen ... und es gab auch einige Vorfälle von Fragging im Bataillon.«

Frag incidents oder Fragging war in Vietnam Soldatenslang für das Umbringen von strengen, unpopulären und aggressiven Offizieren und Unteroffizieren. Anscheinend kommt der Begriff von Freiwilligen, die ihre Handgranaten dazu benutzten, ihre Befehlshaber loszuwerden. Heinl schrieb: »Wie überall berichtet wird, wurden Prämien zwischen 50 und 1.000 Dollar auf den Kopf von Vorgesetzten ausgesetzt, die die gemeinen Soldaten und SP4 ausgelöscht haben wollten.« Kurz nach dem verlustreichen Angriff auf den Hamburger Hill Mitte 1969 lobte die Untergrundzeitung der GIs in Vietnam GI Says öffentlich 10.000 Dollar auf den Kopf von Oberstleutnant Weldon Honeycutt aus, dem Offizier, der den Angriff befohlen und angeführt hatte.

 

Die Klassengesellschaft im US-Militär:

Brass: (Messing; das Material, aus dem die Orden sind) - Slang für höhere Offiziere, »hohe Tiere«.

Enlisted men: »freiwillig« angeworbene Soldaten; in den USA ist eine der wenigen Chancen für Leute aus armen Gegenden bzw. Familien, etwas zu werden, halbwegs zu Kohle zu kommen und vielleicht was von der Welt zu sehen, sich für ein paar Jahre freiwillig bei der Armee zu verpflichten. Man bleibt dann Mannschafts-, höchstens Unteroffiziersdienstgrad, d.h., man kann sozusagen bis zum Vorarbeiter aufsteigen, es ist wie bei jedem anderen Arbeiterjob. Das ändert sich dann im Kriegsfall; denn da wird man gern mal eben verheizt. In den US-Truppen dient ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Angehörigen ethnischer Minderheiten mit dunklerer Hautfarbe: »Armut verpflichtet«.

SP4: Specialist 4, Hauptgefreiter

Lifers: Berufssoldaten (life: lebenslang), nur diese können höher als zum Unteroffizier aufsteigen.

 

Mittlerweile hat das Pentagon Zahlen veröffentlicht, die belegen, daß es 1970 mit 209 mehr als doppelt soviele Tote durch Fragging gab wie 1969 (96). Die Bekanntgabe des Todes eines Offiziers löste beim Truppenkino oder Biwakieren bestimmter Einheiten Jubel aus. »Anhörungen vor dem Kongreß im Jahr 1973 ergaben Schätzungen, nach denen rund drei Prozent der Verluste an Offizieren und Unteroffizieren in Vietnam zwischen 1961 und 1972 von Fraggings herrührten. Aber diese Zahlen erfaßten lediglich die Tötungen durch Handgranaten und nicht die Offiziere, die durch automatische Waffen, Handfeuerwaffen und Messerstechereien (!) zu Tode kamen. Die Anklagevertreter der Militärgerichtsbarkeit der US-Armee schätzten, daß lediglich zehn Prozent der Fragging-Versuche dazu führten, daß jemand vor Gericht gestellt wurde. In der Americal Division, die von schwacher Kampfmoral heimgesucht wurde, wurden die Fraggings 1971 auf etwa eins pro Woche geschätzt. Außerdem wurde Kriegsmaterial sabotiert und zerstört.

Bis 1972 hatten Freiwillige um die 300 Antikriegs- und antimilitaristische Zeitungen herausgegeben mit Namen wie Harass the Brass, All Hands Abandon Ship [etwa: Alle Mann von Bord] und Star Spangled Bummer [Sternenpenner]. Die Ft. Lewis-McCord Free Press schrieb: »Der wahre Feind in Vietnam sind die lifers, the Brass ...« Auf Stützpunkten in Asien, Europa und in den USA kam es zu Krawallen und Antikriegsdemonstrationen. Anfang der 70er Jahre war die Regierung gezwungen, sich aus dem Bodenkrieg zurückzuziehen und zu einem »Luftkrieg« überzugehen; teilweise weil ein großer Teil der Bodentruppen, die eigentlich in den Kampf ziehen sollten, das mächtigste Militär der Welt durch Sabotage und Widerstand lähmte.

Aufgrund des Übergangs zu einer Strategie des »Luftkriegs« wurde die Marine zu einer bedeutenden Quelle des Widerstands gegen den Krieg. Als Antwort auf den in der Marine vorherrschenden Rassismus rebellierten schwarze und weiße Soldaten ab und an gemeinsam. Die bedeutendste dieser Rebellionen ereignete sich im November 1972 vor der Küste Südkaliforniens an Bord der USS Constellation. Einigen schwarzen Matrosen drohte die unehrenhafte Entlassung, daraufhin hielt eine Gruppe von über hundert schwarzen und weißen Matrosen ein eineinhalbtägiges Sit-In ab. Der Kommandant brachte die Constellation wieder nach San Diego zurück, weil er befürchtete, im Falle einer auf See ausbrechenden Meuterei die Kontrolle über das Schiff zu verlieren. Hundertzweiunddreißig Matrosen erhielten die Erlaubnis, an Land zu gehen. Einige Tage später verweigerten sie den Befehl, wieder an Bord zu gehen, und begannen trotzig am 9. November einen Streik auf dem Kai. Trotz der Schwere der Rebellion wurde kein einziger der beteiligten Matrosen verhaftet.

Eine äußerst nützliche Taktik war Sabotage. Am 26. Mai 1970 sollte die USS Anderson von San Diego nach Vietnam auslaufen. Aber irgendjemand hatte Muttern, Schrauben und Ketten in die Hauptgetriebewelle fallen lassen. Ein größerer Schaden entstand, der Tausende Dollars kostete und das Auslaufen um mehrere Wochen verzögerte. Gegen einige Matrosen wurde Anklage erhoben, aber mangels Beweisen wurde das Verfahren eingestellt. Als die Marine stärker in den Krieg einbezogen wurde, nahm auch das Ausmaß der Sabotage zu. Im Juli 1972 wurden innerhalb von drei Wochen zwei Flugzeugträger der Marine aufgrund von Sabotage funktionsunfähig gemacht. Am 10. Juli fegte ein Großbrand durch Admiralsquartier und Radarzentrum der USS Forestall und verursachte über sieben Millionen Dollar Schaden. Das Auslaufen des Schiffs wurde dadurch um mehr als zwei Monate verzögert. Ende Juli lag die USS Ranger am Kai von Alameda in Kalifornien. Nur wenige Tage vor dem vorgesehenen Auslaufen des Schiffs nach Vietnam wurden ein Farbspachtel und zwei 30 cm-Schrauben ins Untersetzungsgetriebe der Maschine Nr. 4 praktiziert, was eine knappe Million Dollar Schaden verursachte und aufgrund umfangreicher Reparaturarbeiten eine dreieinhalbmonatige Verzögerung der Operation erzwang. Der deswegen angeklagte Matrose wurde freigesprochen. In anderen Fällen warfen Matrosen auf See Ausrüstungsgegenstände über Bord.

Das House Armed Services Committee (etwa: Parlamentarischer Streitkräfteausschuß) faßte die Krise der Rebellion in der Marine wie folgt zusammen: »Die US Marine sieht sich heute einem Druck gegenüber..., der, wenn wir ihn nicht unter Kontrolle bringen, sicherlich ihre so beneidenswerte Tradition der Disziplin zerstören wird. Neuerdings aufgetretene Vorfälle von Sabotage, Unruhen, vorsätzlicher Befehlsverweigerung und Mißachtung von Autorität ... sind deutliche Symptome eines gefährlichen Verfalls der Disziplin.«

Die Umstände waren günstig für eine Revolte, und der Widerstand von Männern in Uniform gegen die Kriegsanstrengungen war ein Produkt dieser Situation. In den USA war in den Fußstapfen der Bürgerrechtsbewegung eine zivile Antikriegsbewegung enstanden, und zwar zu dem Zeitpunkt, als die Taktik des »Pazifismus-um-jeden-Preis« der führenden Bürgerrechtler an ihre Grenzen gestoßen war und von einer jüngeren Generation von Aktivisten in Frage gestellt wurde. Schwarze und Latinos aus der Arbeiterklasse dienten zu einem Prozentsatz in Kampfeinheiten, der in keinerlei Verhältnis zu ihrem Anteil an der amerikanischen Gesellschaft stand, und größere städtische Aufstände wie in Watts, Detroit und Newark hatten bei vielen dieser Männer explosive Auswirkungen auf ihre Sicht der Dinge. Nach der Ermordung Martin Luther Kings brachen in 181 Städten in den USA größere Aufstände aus. Die Herrschenden in den USA sahen sich der schwersten nationalen Krise seit dem Bürgerkrieg gegenüber. Und die radikale Bewegung Ende der 1960er war eine internationale Erscheinung, die keineswegs auf die USA beschränkt war. Überall gab es Revolten, sogar gegen die Maoisten in China. Ihr Höhepunkt war der wilde Generalstreik, der im Mai 1968 Frankreich stilllegte und zum bisher letzten Mal ein Industrieland an den Rand der Revolution brachte.

Das Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften spiegelt das Verhältnis zwischen Bossen und Arbeitern wider, und an den militärischen und zivilen Versionen des Arbeitsplatzes kommen ähnliche Dynamiken des Klassenkampfs auf. Das Militär ist nie eine hermetisch abgeschlossene Organisation. Die Streitkräfte sind verletzbar durch gesellschaftliche Kräfte, die in der sie umgebenden Gesellschaft wirken und durch diese hervorgebracht werden. Die Revolte in der zivilen Gesellschaft sickert durch die Strukturen des Militärs in die Mannschaftsränge ein. Vor zehn Jahren behauptete Todd Gitlin, liberaler Konzernhistoriker und Überbleibsel der Neuen Linken, in einem Artikel im Magazin Mother Jones, die US-amerikanische Antikriegsbewegung der Vietnamzeit sei die erfolgreichste Opposition gegen einen Krieg gewesen, die es je gegeben hätte.

 

Die GI-Rebellion während des Vietnamkriegs reichte von der massenhaften Herausgabe von Untergrundzeitungen durch US-Soldaten, unerlaubter Entfernung von der Truppe, Streiks und Demonstrationen bis hin zu individueller Befehlsverweigerung, Meutereien, »fragging« (Ermordung von Offizieren) und Sabotage. So setzten beispielsweise im Juli 1972 Matrosen zwei amerikanische Flugzeugträger kurz vor dem Auslaufen nach Vietnam durch Sabotage außer Gefecht. Auf der U.S.S. Forrestal zerstörte ein Feuer das Radarzentrum und richtete einen Schaden in Höhe von 7 Millionen Dollar an. Die Reparaturen dauerten zwei Monate. Auf der U.S.S. Ranger verursachten zwei Schrauben und ein Spachtel einen Maschinenschaden in Höhe von beinahe 1 Million Dollar und verzögerten den Einsatz des Schiffes um dreieinhalb Monate.

(David Cortright: »Soldiers in Revolt«)

 

Auch das Military Counseling Network Deutschland hat sich wieder gegründet!

 

Natürlich liegt Gitlin da völlig falsch. Als bürgerlicher Historiker wird er dafür ja auch bezahlt. Die wirksamste Bewegung »gegen den Krieg« in der Geschichte gab es zu Ende des Ersten Weltkriegs, als 1917 und 1918 in Rußland, Deutschland und Mitteleuropa proletarische Revolutionen ausbrachen, und einer der entscheidenden Faktoren in der revolutionären Bewegung jener Zeit war der Zusammenbruch der russischen und deutschen Armee und Marine mit ausgewachsenen bewaffneten Meutereien. Nach Jahren des Kriegs und Millionen von Opfern begannen die Soldaten und Matrosen gegeneinander kämpfender Nationen sich zu verbrüdern, richteten ihre Waffen gegen ihre Offiziere und marschierten nach hause, um gegen die herrschenden Klassen zu kämpfen, die sie in den Krieg geschickt hatten. Der Krieg endete mit einem weltweiten Zyklus von Meutereien, in denen sich die soziale Unruhe spiegelte, die sich über die kapitalistische Welt verbreitete. Die Marinestützpunkte Kronstadt in Rußland und Kiel und Wilhelmshaven in Deutschland wurden zu bedeutenden Zentren der revolutionären Selbstorganisation und Aktion, und das Überlaufen einer großen Anzahl bewaffneter Soldaten und Matrosen auf die Seite der Sowjets ermöglichte es der Arbeiterklasse, für eine kurze Zeit in Rußland die Macht zu übernehmen. Die französische Invasion im revolutionären Rußland in den Jahren 1919 und 1920 wurde durch die Meuterei der französischen Flotte im Schwarzen Meer zunichte gemacht, die auf den Schlachtschiffen France und Jean Bart ihren Schwerpunkt hatte. Unter den Matrosen der britischen Marine und in den Armeen des britischen Empire in Asien brachen Meutereien aus, und es gab sogar welche unter den amerikanischen Truppen, die in den russischen Bürgerkrieg zur Unterstützung der konterrevolutionären Weißen Armee geschickt worden waren.

Nicht in jedem Krieg kommt es zu organisierten revolutionären Meutereien, aber sowas kommt öfter vor, als es Militärhistoriker im allgemeinen zugeben.

Zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs kam es im Juli 1936 in der spanischen Marine zu einer der bedeutendsten Meutereien in der Geschichte der Marine überhaupt. Unter der Führung von Francisco Franco unternahm das spanische Militär als Antwort auf schwere Unruhen in der Arbeiterklasse einen Putsch. Francos Armee sollte in Spanien von Nordafrika aus eine Invasion beginnen, mit Hilfe der Schiffe der spanischen Marine. Die Mehrheit der spanischen Matrosen bestand jedoch aus klassenbewußten Sozialisten und Anarchisten, und diese Männer planten dagegen eine koordinierte Revolte. Nach Tagen des Kampfs an Bord setzten sich die Matrosen durch. Francos Putschversuch hätte das beinahe das Genick gebrochen. Eine Studie der spanischen republikanischen Regierung schätzte später, daß im Verlauf der Meuterei etwa 70 Prozent der Marineoffiziere getötet wurden.

Die Krise, die die US-amerikanische Gesellschaft während des Vietnamkriegs erschütterte, war für eine im geschichtlichen Vergleich so stabile Gesellschaft zwar eine schwere Krise, aber sie ging nicht tief genug, um zwischen Herrschenden und Beherrschten einen irreparablen Riß zu schaffen oder gar in eine ausgewachsene revolutionäre Krise zu münden. Die USA surften immer noch auf dem relativen Wohlstand des Nachkriegsbooms. Das Leben war noch nicht für so viele Leute so schlecht, wie es heute der Fall ist, und deswegen könnte eine Verwicklung der USA in einen ähnlich langgezogenen Bodenkrieg, sagen wir in Kolumbien oder Mexiko, in nicht so ferner Zukunft wesentlich explosivere Auswirkungen auf die US-amerikanische Gesellschaft haben. Die Geschichte lehrt uns, daß Armeen, die aus Wehrpflichtigen oder Rekruten bestehen, eher Opfer von Agitation werden als Streitkräfte aus Freiwilligen. Wohl ein Grund dafür, daß in den größeren Industriedemokratien Freiwilligenarmeen zur Regel werden.

Nicht schön, aber wahr: Krieg und Revolution waren in den meisten sich weit entwickelnden gesellschaftlichen Bewegungen des 20. Jahrhunderts eng miteinander verzahnt. Die Rolle der US-Regierung als selbsternannter Weltpolizist für die kapitalistische Ordnung macht es wahrscheinlich, daß die für einen irreparablen Riß zwischen den Herrschenden und den Beherrschten in den USA notwendige Krise von einem Krieg herrühren wird. Einem Krieg, den die USA nicht in kurzer Zeit gewinnen, aus dem sie sich nicht einfach wieder zurückziehen und den sie nicht wie bei den Contras in Nicaragua durch eine Stellvertreterarmee führen lassen können; einem Krieg mit verheerenden Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung der USA, mit einem Minimum von 5 000 Amerikanern, die ihre Heimreise in Plastiksäcken antreten. Eine Situation, aus der so etwas entstehen könnte, wären z.B. langanhaltende Unruhen oder eine ausgewachsene Revolution in Mexiko. Sollte es einmal soweit kommen, werden weit verbreitete Verbrüderungen zwischen antikapitalistischen Radikalen und Freiwilligen entscheidend dafür sein, daß wir diese alptraumhafte gesellschaftliche Ordnung ihr Ende finden lassen.

Welch zentrale Rolle »die Militärfrage« im revolutionären Kampf der Zukunft spielen wird, können wir besser verstehen, wenn wir untersuchen, was während des Vietnamkriegs mit dem US-Militär geschah. Die Frage lautet nicht, wie eine chaotische und rebellische Zivilbevölkerung die gut organisierten, disziplinierten Armeen des kapitalistischen Staates in offener Feldschlacht besiegen kann, sondern wie diese Massenbewegung die effektive Kampfstärke des Militärs lahmlegen und den Zusammenbruch und die Auflösung der staatlichen Streitkräfte bewirken kann. Welche Umstände müssen wie zusammentreffen, um die in Kriegstruppen zu Lande oder zu Wasser immer vorhandene Unzufriedenheit zum bewußten und organisierten Widerstand zu entwickeln? Wie schnell und wie tiefgreifend kann sich ein subversives Bewußtsein unter den Mannschaftsdienstgraden verbreiten? Wie können Rebellen in Uniform auf breiter Front wirksam gegen die Militärmaschine vorgehen? Dazu gehören die Sabotage und Zerstörung hochentwickelter Militärtechnologien, ein unumkehrbarer Zusammenbruch der Befehlskette und eine endgültige Demoralisierung des Offizierskorps. Die Umstände müssen den Offizieren deutlich machen, daß sie einen verlorenen Krieg führen und daß sie ihre eigene Sicherheit am besten dadurch gewährleisten, daß sie aufgeben, ihre Waffen niederlegen und die Flucht ergreifen.

Die »Quasi-Meuterei«, die zur Niederlage der USA in Vietnam beitrug, ist ein gutes Beispiel für die Art subversiver Aktion, die Revolutionäre im Kampf gegen den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts anfachen helfen müssen. Die globale Diktatur des Kapitals führt dazu, daß sich für die Mehrheit der Menschheit die Lebensbedingungen verschlechtern, und damit werden Soldaten aus der Arbeiterklasse zunehmend eingesetzt werden, um die Rebellionen anderer Leute aus der Arbeiterklasse zu unterdrücken. Der Einsatz der US-Streitkräfte während der riots in Los Angeles im Frühjahr 1992 gab einen Vorgeschmack der zukünftigen innenpolitischen Rolle des Militärs bei der Aufrechterhaltung dieser ausbeuterischen gesellschaftlichen Ordnung. Doch die Kräfte, die in der einen Region zur massenhaften Rebellion führen, werden Rebellionen auch in anderen Regionen der Welt enstehen lassen. Die Macht unserer Herren und deren Ökonomie kann von innen zum Einsturz gebracht werden, von den Frauen und Männern aus der Arbeiterklasse, von denen sie abhängig sind.


Die Informationen für diesen Artikel wurden folgenden Quellen entnommen:

 

»Widerstand in der US-Armee«
vom Krieg in Vietnam bis zum Golf ...

Verlag Harald Kater
231 Seiten - 14 Euro
ISBN 3-927170-13-5

Neben Artikeln und Interviews über die weitgehend vergessene GI-Revolte der späten 1960er und frühen 1970er Jahre enthält das Buch Beiträge über den Widerstand einer neuen Generation von GIs gegen den Golfkrieg 1991 und eine aktuelle Adressenliste von websites für »GI-Resisters« gegen den geplanten neuen Krieg am Golf.

Nachtrag: http://calltoconscience.net

 

Praktischer Internationalismus

Im Lazarett erklärt ein amerikanischer Soldat, wie er verwundet wurde: »Sie hatten mir gesagt, um herauszufinden, ob ein Vietnamese auf unserer Seite ist oder nicht, ruft man 'Zur Hölle mit Ho Chi Minh!' Wenn er schießt, ist er gegen uns. Ich sah da also diesen Typen, rief 'Zur Hölle mit Ho Chi Minh!', und er rief zurück 'Zur Hölle mit Präsident Johnson!' Wir schüttelten uns gerade die Hände, als uns ein LKW überfuhr.« (aus: 1,001 Ways to Beat the Draft von Tuli Kupferberg)


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