Wildcat-Sonderheft Krieg 2003 - März 2003 - S. B13 [wk3palm2.htm]


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Nachrichten aus Palästina -

Reise von Jerusalem zum Lager Balata

Mouvement Communiste

In unserem ersten Brief über Palästina im vergangenen November haben wir daran erinnert, dass es in der Zone unter der Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde weiterhin gesellschaftliche Klassen mit antagonistischen Interessen gibt. Wir haben damals auf die (offene) Abneigung, ja sogar wachsende Feindseligkeit der palästinensischen Proletarier gegenüber der PA hingewiesen, hatten jedoch keine detaillierten Hinweise zur Lage dieses Teils der weltweiten Klasse. Dank der Berichte befreundeter Genossen aus dem Palästina-Komitee von St-Ouen, die im Dezember den Bezirk um Nablus und namentlich das Lager Balata aufgesucht haben, können wir nun nachlegen.

Erster Tag: Jerusalem

Auf der Durchreise in Jerusalem nutzen wir die Gelegenheit, um zwei Genossen des Israelischen Komitees gegen die Häuserzerstörung (ICAHD) zu treffen, das die gleichen Räumlichkeiten wie das Zentrum für Alternative Information (AIC) nutzt. Die Gruppe kämpft gegen die Zerstörung von Gebäuden im gesamten Westjordanland. Gerade an jenem Morgen hatten sie sich in Hebron dem Abriss von vier Häusern entgegengestellt. Die israelischen Militanten versuchen, das Vorrücken der Bulldozer zu verhindern. In solchen Fällen macht die Armee der Polizei Platz, die sich darauf beschränkt, sie zu entfernen. Nie werden die Militanten dabei für längere Zeit festgenommen. »Das wäre eine Chance!«, sagt uns einer von ihnen. Nur die Wehrpflichtigen, die das Ausrücken in die (palästinensischen) Gebiete verweigern, riskieren das Gefängnis.

Diese rechtlichen Einschränkungen der Handlungsfreiheit der Streitkräfte sind eine zweischneidige Klinge. Ein Beispiel: Wenn Siedler auf Palästinenser schießen, so greifen die Soldaten nicht ein. »Wenden Sie sich an die Polizei!«, rufen sie. Die israelischen Genossen sagen uns, dass »ohne Verzicht auf den Zionismus kein gerechter Friede möglich sein wird«. Selbst bei den Pazifisten gewinnt der Gedanke eines palästinensischen Staats wegen der Angst vor dem Verlust der jüdischen Identität des israelischen Staats keine Anhänger. In ihrer Mehrheit bleibt die Friedensbewegung einschließlich der Deserteure zionistisch, also nationalistisch eingestellt. »Wie soll da die Frage der israelischen Araber gelöst werden?«, fragen sie sich.

In den Lagern hilft das ICAHD beim Bau von Gemeinschaftseinrichtungen, z.B. Kindergärten, weil befürchtet wird, dass die palästinensische Bevölkerung die Wiedererrichtung von Häusern »durch Israelis« - und seien sie Pazifisten oder Antizionisten - nicht als aktive Unterstützung erlebt, sondern als Verweigerung ihres Rückkehrrechts. Die beiden ICAHD-Genossen sagen, die palästinensische Bewegung sei wohlorganisiert, stützt sich jedoch auf Netze, die parallel zueinander funktionieren, ausgerichtet an der politischen Observanz. Zusammenarbeit ist schwierig.

Eine Gruppe, die sich Ta'ayush nennt, nimmt eine wichtige Stellung in der antizionistischen israelischen Friedensbewegung ein. Ihre Solidaritätsaktionen gegenüber den Palästinensern sind durchaus spektakulär: Demonstrationen an Kontrollpunkten, Transport von Gütern des Grundbedarfs, Olivenernte und Verkauf von palästinensischem Olivenöl in Israel. Wenige Menschen nehmen an diesen Aktionen teil, die räumlich eng begrenzt bleiben. Sie haben im übrigen von breiter Propaganda bei den Israelis Abstand genommen - keine Versammlungen, keine Flugis.

»Das war nicht sehr nützlich«, bedauern sie. Also haben sie sich entschlossen, im israelischen Wahlkampf nicht aufzutreten. Die Nicht-Zionisten sind isoliert, und es ist ihnen verboten, den jüdischen Charakter des Staates in Frage zu stellen. Eine Partei mit einer solchen Position darf nicht zur Wahl antreten. Die Aktionen der Gruppe mögen spektakulär sein, sie selbst würde jedoch als erste zugeben, dass ihre Vorgehensweise sie an den Rand der israelischen Gesellschaft verbannt, in der sie kein Gewicht gewinnen kann. Gleichwohl finden die Siedler in Wahrheit nur bei 30% der Bevölkerung Unterstützung. Die anderen wünschen Frieden, freilich möglichst unter Bewahrung der Siedlungen.

Von Jerusalem nach Balata

Als wir Jerusalem verlassen, nehmen wir irrtümlich den Kontrollpunkt Qalindya, den wir sofort wieder in umgekehrter Richtung passieren dürfen. Kaum Aufmerksamkeit. Ein hochnäsiger junger Soldat, der die Papiere der Jerusalem verlassenden kaum eines Blickes würdigt, auf der einen, ein alter Reservist und eine junge Soldatin auf der anderen Seite. Die Palästinenser sind resigniert, traurig. Nach einer mehr oder weniger eiligen Leibesvisitation gehen sie in Richtung Jerusalem. Die Leute reden leise miteinander und lösen sich in Gruppen auf.

Wir nehmen das Gemeinschaftstaxi, dessen Fahrer ein ordentliches Tempo vorlegt und uns an einen anderen, kleineren Kontrollpunkt bringt, wo zwei Soldaten die Papiere prüfen. Jeder Fahrgast muss aussteigen, zu den Soldaten gehen, die Jacke anheben und schließlich den Pullover, die Tragetasche vorlegen und die Papiere zeigen, dann wegtreten, um ein anderes Taxi zu nehmen, das einige Meter entfernt wartet.

Letzter Kontrollpunkt: Huwara. Es ist Nacht und es regnet. Die Stimmung erscheint stärker gedrückt. Viele Palästinenser - ungefähr dreißig - warten bereits draußen hinter einer beleuchteten Plastikschranke. Auch eine Reihe von Fahrzeugen ist zu sehen. Die Fußgänger bewegen sich einige Meter an der Schranke vorwärts. Bestimmte Fahrzeuge (mit grünem palästinensischem Nummernschild) passieren sehr langsam. Andere (mit gelben israelischen Schildern) ordnen sich ohne anzuhalten einer zweiten Spur zu. Ein Soldat tritt ein paar Meter vor und verkündet die Schließung der Durchfahrt für den Tag, wenige Augenblicke nachdem ein Bus mit einem Dutzend Reisenden die Abfertigung hinter sich gebracht hat. Der Soldat bemerkt, dass die Palästinenser sich an der Schranke um gut drei Meter genähert haben und weist sie nach hinten. Hinter seinem Drahtgitter erscheint er noch mehrere Male und brüllt Anweisungen auf hebräisch, was bei Wenigen erkennbar auf Verständnis stößt. Dabei leuchtet er seine unfreiwilligen Gesprächspartner mit einem Handscheinwerfer an.

Schließlich dürfen die Fußgänger losgehen, in Zweiergruppen, zunächst bis zur Straßenmitte, circa zwanzig Meter vom israelischen Posten entfernt. Einige Palästinenser sind bei der Kontrolle ausgesondert und zu einer kleinen Hütte geschickt worden, wo sie von anderen Soldaten erwartet werden. Als wir passieren, fragen uns die Soldaten in ziemlich korrektem Französisch lachend: »Franzosen...? Wollt ihr einen Joint rauchen?«. Das wäre das letzte gewesen, was uns eingefallen wäre... Für die Palästinenser stellen diese systematischen Wartezeiten und die Unsicherheit, ob jede Hürde genommen werden kann, ein andauerndes Problem dar. Es trennt die Familien, behindert bei der Suche nach Arbeit oder beim Versuch, ordnungsgemäß zu ihr zu erscheinen. Es vermittelt ihnen den Eindruck, im Westjordanland wie in einem großen Gefängnis zu leben. Indem sie die palästinensische Bevölkerung unablässig schikanieren, beweisen die Besatzungstruppen ihre wohl überlegte Absicht, sämtliche Verbindungen zwischen den oft nur wenige Kilometer entfernt voneinander lebenden Menschen zu durchtrennen, sie zu isolieren und sie zu entmutigen.

Die Bereitschaft der Besatzer zur Demütigung besteht unausgesetzt. Um die Warterei an den Kontrollpunkten, die Leibesvisitationen, das an traurige Zeiten erinnernde Gebrüll über Lautsprecher noch zu überbieten, kommt es vor, dass Soldaten Ausweispapiere aus keinem anderen Grund konfiszieren, als um sich zu belustigen. Trotz inständiger Bitten müssen die Opfer der Beraubung den Heimweg ohne rechtmäßige Ausweispapiere antreten. Doch ohne die Papiere kann man nichts machen. Später, so schien es, übergaben die Soldaten diese kostbaren Lappen anderen Palästinensern, gerade wie der Zufall es wollte. Auch hat man uns davon berichtet, wie eine Soldatin sich ihren Spaß damit gemacht habe, den Inhalt des Henkelmanns palästinensischer Arbeiter, die einen Kontrollpunkt passierten, den Hunden vorzuwerfen.

Nablus

Die Stadt Nablus zählt mehr als 200 000 Einwohner. Dazu kommen die benachbarten Dörfer mit bis zu 10 000 Einwohnern, sowie 50 000 Flüchtlinge in den Lagern. In ihrer großen Mehrheit bekennen sich die Bewohner zum Islam - bei ungefähr tausend Christen und circa 700 Samaritern, eine sehr altertümliche jüdische Sekte, die außerhalb der Gemeinschaft lebt und deren Angehörige wie die übrigen Bewohner der palästinensischen Gebiete behandelt werden. Nablus war das größte Handelszentrum im Westjordanland, doch die Straßensperren haben den großen Markt für landwirtschaftliche Produkte verschwinden lassen. Die Kulturen liegen verstreut zwischen den kleinen Städten und Dörfern. Zwei Seifenfabriken, ein traditioneller Produktionszweig der Stadt, wurden von F16-Jägern bombardiert, weil Israel sie im Verdacht hatte, Bomben zu produzieren. Auch das Gefängnis ist bombardiert worden, ebenso wie andere der Verwaltung dienende und private Gebäude. Die wirtschaftliche Lage ist infolgedessen sehr schwierig. Radio Marhaba zum Beispiel strahlt für die örtlichen Unternehmen keinerlei Werbung mehr aus - nicht einmal kostenlose: Es gibt keine Lagerbestände mehr und auch keine Kunden.

Diese kommerzielle Radiostation ist die bedeutendste in Nablus. Bevor ihre Sendeeinrichtungen an den höchsten Punkten der Stadt von der Armee zerstört wurden, konnte man sie in der ganzen Region empfangen. Heute erreicht das Radio nur noch die Stadt selbst. Der redaktionelle Leiter spricht uns gegenüber von Fälschungen der Armee, die das Vorhandensein eines bewaffneten Widerstands, von Selbstmordattentätern und Bombenproduktion vortäuschen sollten. Die Geheimdienste nehmen Photographien von getöteten oder festgenommenen Personen mit beigegebenen Waffen auf, Stirnbändern und falschen Sprengstoffgürteln. Das machen sie auch bei ganz jungen Palästinensern. Ein amerikanischer Junge von 14 Jahren, der in Abwesenheit seiner Eltern in der Wohnung gewaltsam festgenommen wurde, ist zunächst »mit Waffen in der Hand« photographiert worden. Schließlich erklärte er, dass er Bürger der Vereinigten Staaten sei. Nun wurde er freigelassen unter Mordandrohung, falls er reden würde (was er trotzdem getan hat). Der Leiter des Senders deutet uns gegenüber an, dass viele besser situierte Palästinenser sich um eine zweite, amerikanische Staatsbürgerschaft bemühen, um sich zu schützen oder um das Land zu verlassen.

Der Leitende des Senders befürchtet im Fall eines Angriffs auf den Irak massenhafte Bevölkerungsverschiebungen, angefangen mit 14 000 Gefangenen in Israel und wahrscheinlich »weiteren 200 000 bis 300 000«. Er möchte nicht, dass der Konflikt sich in einen Religionskrieg verwandelt und fügt hinzu, dass »die Israelis nicht besonders religiös sind, denn sie töten auch am Sabbath«. Er spricht von der Ausgangssperre, die ihn zwingt, ganze Tage mit seiner Familie eingeschlossen zu bleiben, von den regelmäßigen Angriffen, vom psychologischen Druck, der bei den Kindern noch größeren Schaden anrichtet als bei den Erwachsenen.

Wir besuchen auch die Universität. Mehr als 8 000 Studenten sind hier eingeschrieben, ein niedriger Stand, weil vielen das Geld fehlt oder die Möglichkeit, sich zu bewegen. Wegen der Schüsse der Militärposten von einer höher gelegenen Hügelkuppe aus war es mehrere Monate lang verboten, den Hof zu betreten. Zwei Studenten sind getötet worden, nachdem sie im Inneren der Universität von israelischen Agenten in Zivil ausfindig gemacht wurden. Seither wird der Zugang von Zivilposten überwacht. Um all dem stand zuhalten, erklärt ein Verantwortlicher, seien die Gebäude dezentralisiert worden und es sei ein e-learning-Programm aufgelegt worden, mehr aus gegebenen Zwängen heraus denn aus pädagogischen Gründen.

Bei unserem Aufenthalt in Nablus haben wir das Ausmaß des Martyriums wahrgenommen, das diese Stadt durchschritten hat. Die Invasion hat sie zur gleichen Zeit überrollt wie Djenin, sie hatte mehr Opfer zu beklagen (87 Tote in Nablus im Vergleich zu 47 in Djenin), schreckliche Zerstörungen (die schönsten historischen Gebäude der Stadt), schließlich eine totale Ausgangssperre für vier Monate. Trotzdem ist davon kaum die Rede gewesen. Die Kameras waren auf Djenin gerichtet, und zwar einmal, weil anfangs die Schätzungen über die Anzahl der Toten im dortigen Lager höher lagen, und zum anderen, weil dort im Verlauf der Kämpfe fünfzehn israelische Soldaten getötet worden waren. Inzwischen sind die Sperrstunden gemildert worden. Die Bewohner der Stadt werden darüber erst am betreffenden Tag übers Fernsehen informiert. Auch wenn es keine Sperrstunde gibt, gehört zum Stadtbild doch die Parade der Tanks und Jeeps - eine Provokation für die Jugendlichen, die Steine zu werfen beginnen. Was natürlich den Soldaten einen Vorwand liefert, auf sie zu schießen. Zermürbt vom Leben als Eingeschlossene, hat die Bevölkerung sich für das Risiko entschieden, die Sperrstunde zu mißachten, und tätigt ihre Besorgungen meist ohne sich um die unheilvollen Ankündigungen der Streitkräfte zu kümmern.

Balata

Das Lager, das wir ebenfalls besucht haben, liegt ca. 3 Kilometer von Nablus entfernt. Gegründet wurde es im Jahr 1952, auf einem ungefähr 1 Quadratkilometer großen Gelände, welches die UNRWA (UNO) [1] von einem Palästinenser aus dem Dorf Balata gepachtet hatte. Ursprünglich gab es für die ersten 2 000 Flüchtlinge nur Zelte. Heute leben dort mehr als 22 000 Menschen. 1998 waren es noch 18 000, aber im Zuge der zweiten Intifada kamen noch mehrere tausend Proletarier dazu, die zuvor in israelischen Städten gelebt und ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Die Zahl der Insassen steigt jährlich um ungefähr 5% an, der Anteil der unter 15-jährigen ist groß. Die zur Verfügung stehende Fläche bleibt jedoch die gleiche, deshalb geht man dazu über, auf die vorhandenen Gebäude eine zusätzliche Etage zu setzen (sie haben höchstens zwei). Ungefähr 70% der erwerbsfähigen Bevölkerung sind arbeitslos, die meisten anderen sind in durch die UNRWA finanzierten Maßnahmen beschäftigt. Es handelt sich jedoch um prekäre Arbeitsverhältnisse, die in der Regel Jahr für Jahr verlängert werden. Die palästinensische Autonomiebehörde gewährleistet durchschnittlich alle vier Monate pro Familie auf zwei Wochen befristete Arbeitsverträge, d.h. 500 vorgesehene Dauerstellen verteilen sich auf etwa 4000 Familien von Balata. Um das Lager herum wird Kleinlandwirtschaft betrieben (Gemüseanbau, ein paar Kühe und Schafherden). Lebensmittel sind fast so teuer wie in Frankreich... allerdings ist das Einkommen natürlich nicht dasselbe.

Das Lager ist von Siedlungen und Militärposten auf den Höhen der angrenzenden Gebirgszüge, unter ihnen der Berg Gerzim, umgeben. Zur Zeit wird ein großer Graben um den Ballungsraum von Nablus gezogen, der nahe Balata verläuft und das Reisen noch mehr behindert. Immer wieder werden einfache Passanten von Schüssen getroffen, und zwar meistens, wenn sie von einem Dorf ins andere wollen und dabei die Straße vermeiden.

Bei unserer Ankunft werden wir von XY empfangen, der uns das Haus zeigt, in dem wir schlafen werden. XY stammt aus einer großen Familie von 9 Brüdern und einer Schwester, die hier seit 1952 lebt. »Wir sind für 15 Tage hierher gekommen und sind 50 Jahre danach immer noch hier...«, sagt er ironisch. Das Land seines Großvaters, sagt er, liegt unter dem Flughafen Ben Gurion. Vor einem Jahr verlor er einen Sohn. Er wurde mit fünf anderen Jungen getötet, die auf der Straße arbeiteten. Sein Sohn K. wurde verstümmelt. Bei der Explosion seines Autos wurde er am Bein verletzt und verlor ein Auge. Er wurde in Nablus gepflegt und sagt uns, dass es in einem Jahr 300 Tote und 500 Verletzte gab. XY ist Tierarzt und aufgrund der ständigen Blockaden, die es ihm unmöglich machen, sich regelmäßig in die Dörfer der Umgebung zu begeben, nahezu arbeitslos. Er betreibt einen kleinen Laden für CD- Roms und Mobiltelefone. Er hat eine Wallfahrt nach Mekka gemacht, auf die er stolz ist, genauso stolz wie auf das Märtyrerfoto seines Sohnes. Wir sind erstaunt darüber, wie weit sich der Islam in der palästinensischen Bevölkerung ausbreiten konnte. Man sieht nur noch wenige Frauen, die ohne ihr Kopftuch ausgehen, dabei war das vor einigen Jahren die Regel.

Am nächsten Tag ist unser erster Besuch im Lager. Die meisten Dächer sind aus Blech und manchen Fenstern fehlt das Glas. Die schmutzige Straße ist durch die Panzer völlig umgewühlt. Überall liegen Abfälle auf dem Boden. Auf der Hauptstrasse sticht ein Metzger gerade eine Kuh auf der bloßen Erde ab. Ein Schwall von Blut erströmt sich und belustigt die kleinen Kinder, die von einer Seite zur anderen springen. Außer auf einigen ein wenig breiteren Straßen quetscht sich der Verkehr durch schmale Gässchen; in einigen von ihnen muss man sich seitlich drehen, um durchzukommen. An einem Ende des Lagers befindet sich eine Barackensiedlung, hier leben Tiere, aber auch einige arme und kinderreiche Familien, die ihr Haus nicht vergrößern können. Gleich nebenan lässt die superreiche Familie Masri aus Nablus, die im Irakkrieg 1991 gute Geschäfte mit der Belieferung amerikanischer Soldaten gemacht hat, und die außerdem den palästinensischen Wirtschaftsminister zu ihren Mitgliedern zählt, ein Palais über der Stadt errichten.

Fast alle Häuser weisen Einschusslöcher auf, und überall sieht man Graffiti (politische wie nicht politische) und Märtyrerfotos. Hier ist Märtyrer kein Synonym für »Selbstmordattentäter«. Meistens handelt es sich um Zivilisten, die von der Besatzungsarmee getötet wurden. Nur wenige der Plakate zeigen bewaffnete Kämpfer.

Aber wir behalten nicht nur die Zeichen des Zerfalls des Wohngebiets in Erinnerung. Wir sind überrascht, dass selbst die einfachsten Hütten mit warmem und kaltem Wasser und Elektrizität ausgestattet sind. Noch mehr, niemand bezahlt dafür. Die Schulbildung ist von hohem Niveau, das Schulwesen - finanziert durch die UNRWA - von guter Qualität, auch wenn in den Klassen bis zu 50 Schüler sitzen. Die unter 15-Jährigen bilden die größte Bevölkerungsgruppe, so muss jedes Jahr eine zusätzliche erste Klasse eingerichtet werden. Über 400 Schüler wurden auswärts eingeschult und mussten nach Balata kommen. Nur 2% der Schüler müssen vor der 9. Klasse ein Jahr wiederholen. Mit der 9. Klasse endet die Schulpflicht. Trotz der Schwierigkeiten machen jedes Jahr 500 Jugendliche das Abitur.

Der gesamte »öffentliche Dienst« wird durch den Privatsektor und die UNRWA gewährleistet. Damit die Schüler den Unterricht fortsetzen können, wenn sie nicht nach Nablus kommen können, unterrichten freiwillige und ehrenamtliche Lehrkräfte in Versammlungsräumen jeder Art. Im Lager gibt es keine Kriminalität, und die Zahl der Bettler ist ungefähr genauso hoch wie in Frankreich. Die Mildtätigkeit ist eine Regel, die strikt eingehalten wird. Auf den Straßen sieht man keine Polizei, es gibt relativ wenig Handel und keine Banken. Haushalts- und Elektrogeräte (häufig gebraucht und geschickt zusammengebastelt) sind in großer Zahl vorhanden - darunter viele Computer, Kühlschränke und Satellitenantennen. Dachrinnen und Kanäle sind vorhanden. Abgesehen vom herumliegenden Müll ist der Zustand der Straßenreinigung nicht katastrophal. Außerhalb des Lagers sind die meisten Ampelanlagen zerstört und die Bulldozer haben die Straßen an mehreren Stellen mit Gräben durchzogen. So ist die Zufahrtsmöglichkeit nach Nablus auf eine einzige Straße beschränkt. Wenn diese nicht durch einen Panzer blockiert ist, erreicht man die Stadt mit gelben Sammeltaxis; der Fahrpreis beträgt wenig mehr als einen Schekel. Die Häuser sind massiv gebaut mit Wellblechdächern und für die Sommermonate konzipiert: abgesehen von Radiatoren und Gasflaschen gibt es in den zwei Wintermonaten keine richtige Heizung.

In dieser Gesellschaft ist die Großfamilie die Norm: die Eltern, das Ehepaar und seine Kinder, die Brüder, die Schwestern usw... Im Durchschnitt besteht jede Kernfamilie aus sieben bis acht Mitgliedern. In einem Haus leben daher viele Personen. »Wir sind acht bis zehn in jedem Zimmer«, erzählt uns ein Bewohner. Wer es sich leisten kann, stockt das Haus nach einer Hochzeit um eine Etage auf, so dass jede Kernfamilie ihren eigenen Bereich behält. Es ist besser, im hinteren Teil des Hauses zu schlafen. Dort ist man sicherer vor Querschlägern. Wir haben mehrere Häuser betreten, die Ziel nächtlicher Armeeübergriffe waren. Die Soldaten sprengen erst die Türe, danach schreien sie die Leute an, das Haus zu verlassen. Dann nehmen sie die Person fest, die sie suchen. Manchmal nehmen sie wahllos die Mauern unter Beschuss. Alle Häuser, die beim letzten Einfall im April durchsucht wurden, sind neben der Eingangstür mit einem roten Zeichen kenntlich gemacht. Die Soldaten haben auch Löcher in die Mauern gebrochen, um immer in Deckung von einem Haus ins andere zu kommen.

Die Bewohner ersetzen die beschädigten Türen und Fenster sofort. Das ist ein Akt alltäglichen Widerstands. In einer anderen Straße wurde die Wand des Zimmers eines Aktivisten durch Sprengstoff zerstört. Ein Stück weiter wurde ein Haus gesprengt, nachdem die Familie des Gesuchten evakuiert worden war. Drei Nachbarhäuser wurden dabei stark beschädigt. Auch der Friedhof wurde schon unter Beschuss genommen; dabei kamen zwei Menschen ums Leben, die Friedhofsmauer wurde von einer Rakete beschädigt. In direkter Nachbarschaft von Balata ist ein kleines Viertel entstanden. Familien aus dem Lager konnten hier kleine Grundstücke erwerben. Sie hatten gehofft, so den häufigen Zerstörungen entgehen zu können, aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Ein Panzer fuhr durch die Siedlung und zerstörte Hausfassaden und Autos. Vom nahegelegenen Hügel aus wurden Mauern mit Raketen beschossen, ein Haus wurde geräumt und anschließend gesprengt. Seither hat ein Einwohner des Viertels die weiße Fahne an seiner Tür gehisst.

Nochmals zur Situation der Proletarier im Lager

Man sollte im Kopf behalten, dass ein Arbeiter in Israel 3 000 Schekel verdient (650 Euro), ein Lehrer 6 000 Schekel (1 300 Euro). Im Lager verdient ein Lehrer 1 300 Schekel (mehr als 250 Euro), ein Arbeiter zwischen 60 und 70 Schekel am Tag. Beim Personal der UNRWA gehen die Arbeitsverträge nicht über ein verlängerbares Jahr hinaus und die Löhne wurden halbiert. Früher gingen sie bis über 2 000 Schekel im Monat, das sind 500 Dollar. Seit der Intifada gab es keinen Streik mehr. Die Lehrergewerkschaft der UNRWA ist groß. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei denen, die für die palästinensische Autonomiebehörde arbeiten.

Deren bessere Bedingungen wirken effizient als Überzeugungs- und Druckmittel gegen jede Forderung. Viele Arbeitslose haben ein Geschäft eröffnet, ohne große Hoffnungen, was zu verkaufen, sondern eher um sich zu beschäftigen. In den Läden stehen oft zwei, drei Stühle, damit man miteinander diskutieren kann. Beim Gemüsehändler treffen wir einen liberalen Arzt, der in Rumänien studiert hat. Er erzählt uns vom Foto eines getöteten kleinen Jungen, dem die israelischen Spezialeinheiten für die Zeitungen eine Kippa aufgesetzt haben, um einen Märtyrer aus ihm zu machen. Er erzählt uns auch von Kollaborateuren. »Die Leute sind arm und die Israelis haben Geld!«, erklärt er. Er betont außerdem, dass es häufig nächtliche Verhaftungen gibt. Man nennt diese nächtlichen Patrouillen die »Ritter der Nacht«.

Wenn sie genug Geld haben, um es in einen Warenbestand zu investieren, eröffnen auch Lohnabhängige ein Geschäft, um ihr Einkommen aufzubessern. I., Lehrer im Ruhestand, verkauft Schuhe. XY, Tierarzt ohne festen Job, verkauft CD-Roms. S., Englisch-Lehrer, verkauft Papierwaren, usw.. Es gibt auch eine große Vielfalt von landwirtschaftlichen Kleinproduzenten, Friseuren, ein Haushaltswarengeschäft, ein Internetcafé und ein Lager von »Anarchy«-Mützen, die bei den Einwohnern von Balata gut ankommen. Wir haben sie auf dem Kopf einer Putzfrau im Jaffa-Center gesehen und auf dem Kopf des Vaters von S., einem 55 Jahre alten Maurer.

Der Metzger des Lagers verbirgt seinen Überdruss nicht. »Die Intifada ist eine Idiotie, die uns nichts als Probleme einbringt, weil gewisse Leute nicht von ihren Prinzipien ablassen wollen«, poltert er. Nach Aussage unseres Freundes W. ist diese Meinung weit verbreitet. Der Papierwaren-Basar von S. im Erdgeschoss des kleinen Hauses, das er mit seiner ganzen Familie bewohnt, ist wenig besucht. Der Verkauf eines Heftes oder eines Kugelschreibers bieten Gelegenheit, sich mit der Nachbarschaft zu unterhalten. Sein junger Bruder hilft ihm, denn sein eigener Handy-Laden in Ramallah wurde von der Armee beim ersten Einmarsch zerstört und geplündert. Das brachte ihm zwanzig Tage Gefängnis ein, weil er einzugreifen versucht hatte.

Einige Vereine und Komitees in Balata

O. ist Mitglied eines Vereins, der Al-Mutunda (das Forum) heißt, der die Jugendlichen im Lager schulisch und psychologisch betreut. Er selbst ist immer noch Student und erklärt uns, wie schwierig es ist, das Studium zu bezahlen. In der Ausbildung zum Magister kostet ein Semester um 3500 Schekel (das entspricht mehr als 750 Euro). Sein Abitur hat er 1992 gemacht, dann hat er bis 1994 gearbeitet, in jenem Jahr wurde er unter der Anklage, Steine auf Soldaten geworfen zu haben, verhaftet. Er selbst sagt, er habe nur auf der Straße gearbeitet. Nach zwölf Monaten wurde er freigelassen und schrieb sich mithilfe von Geld, das er beiseite gelegt hatte, an der Universität ein, arbeitet aber die ganze Zeit nebenher. Die Mehrzahl der jungen Leute, die studieren wollen, sind in derselben Lage. O. ist auch Englisch-Lehrer und spricht sehr gut französisch.

Sein Verein versucht zahlreiche Aktivitäten abzudecken: Schülerhilfe, aber auch richtige Kurse als Ersatz für Schule, die wegen Ausgangssperre ausfällt, Singkurse für die Kinder, Mailverkehr mit einer Klasse italienischer Jugendlicher, psychologische Hilfe für Kinder. Viele von ihnen sind durch die Angriffe, die nächtlichen Verhaftungen und das Gefangensein im Lager traumatisiert.

Zahlreiche Schlaf- und Essstörungen, Inkontinenzprobleme, gewaltgeprägte Verhaltensweisen, Gedächtnisstörungen, ... entwickeln sich bei den Jüngsten. Die Räume des Vereins wurden vor vier Tagen überfallen. Die Tür und die Fenster sind zerstört, im Innern haben die Soldaten alles zerschlagen, die Bilder der Kinder abgerissen, die Mauern, den Computer, die Scheiben zerschossen. Die Toiletten sind verwüstet. Auf Fotos, die in den Monaten vorher aufgenommen worden waren, können wir mit dem ursprünglichen Zustand der Räume vergleichen. Eines der acht Vereinsmitglieder ist aus Sicherheitsgründen im Gefängnis in Huwara. Er kann keine Besuche empfangen und wurde nicht vor Gericht gestellt. »Im Allgemeinen«, sagt uns O., »bleibt man 'aus Sicherheitsgründen' ungefähr sechs Monate im Gefängnis, aber eine Begründung wird nicht gegeben«. O. wartet auch auf die Eintragung als Verein durch die PA. Das dauert.

Wir besuchen auch das Kulturzentrum Jaffa unmittelbar vor dem Eingang zum Lager. W. arbeitet dort mit einem Computerraum, in dem man die Jugendlichen des Lagers ausbilden kann. Die für den Kurs benutzten Computer sind alt, sie wurden für weniger als zehn Dollar das Stück gekauft, sie reichen aber, um die Programme zu lernen. In denselben Räumen befinden sich eine Zahnarztpraxis und das Büro von Hussam Khader, einem der Abgeordneten aus dem Lager Balata in der palästinensischen gesetzgebenden Versammlung. Das Zentrum befasst sich auch mit der palästinensischen Flüchtlingsfrage. Mit mehr als tausend Mitgliedern ist die Einrichtung eine der größten im Westjordanland. Sie wurde 1997 von Mitgliedern des CDPRR gegründet und weitete sich auf andere Personen aus, indem es kulturelle Aktivitäten auf die Tagesordnung setzte. Es werden Informationsbroschüren über die Rechte der Frauen und gegen vorzeitige Heirat verteilt. Umwelt- und Hygiene-Erziehung ist vor allem für die Kinder bestimmt (Straßenreinigung). Das Zentrum beschäftigt sich auch mit Drogenprävention bei den Jüngeren und organisiert Ausflüge in die Umgebung von Nablus und in Museen für die Kinder.

Kurz hinter dem Eingang des Lagers besuchen wir auch das Ortskomitee für die Rehabilitation Behinderter. Dieses Zentrum beherbergt etwa 500 Schwerbehinderte und 100 bis 200 Leichtbehinderte aus dem Lager und der Umgebung. Es wurde 1992 für die Verletzten der ersten Intifada geschaffen. Die UNRWA hat Räume zur Verfügung gestellt und dient als legaler Schutz. Das Gebäude ist ebenerdig, aber ausreichend groß. Die Aktivitäten werden innerhalb und außerhalb des Zentrums durchgeführt. Es gibt ein Sprachtherapieprogramm in Zusammenarbeit mit den Schulen, ein Lesehilfeprogramm, eine Spielesammlung für die Kinder. Neben der Versorgung der Behinderten mit Krücken und anderem Kleinmaterial lernen sie auch den Umgang damit. Außerhalb des Zentrums organisiert man Hausbesuche von Fachkräften und in Zusammenarbeit mit anderen Vereinen die Ausbildung von Behinderten in neuen Berufen. Aufgrund des Umfelds haben die Programme wenig Erfolg, was die Wiedereingliederung in Arbeit betrifft. Die wichtigste Aktivität des Zentrums ist anscheinend der Umbau von Häusern, um sie für Behinderte benutzbar zu machen. Diese Aktivität ist am kostspieligsten und wird vom Zentrum selbst finanziert. Da es aber keine permanenten Geldquellen hat, können sich die Arbeiten bedeutend verzögern. Die PA füllt nämlich nicht mehr regelmäßig die Fonds auf, und es besteht die Gefahr, dass die Armee ankommende Gelder beschlagnahmt. Vor der zweiten Intifada arbeiteten zwei Personen als Angestellte in dem Zentrum. Zwei zusätzliche Personen wurden seither beschäftigt. Aber es gibt auch 35 Freiwillige, ohne die nichts funktionieren könnte. Identische Komitees gibt es in anderen Flüchtlingslagern, wie in Askar. Zuvor wurden Treffen in Form von Winter- oder Sommercamps organisiert mit um die 200 Teilnehmern. Heute ist das nicht mehr möglich.

I., Mathematiklehrer im Ruhestand und Schuhhändler, bringt während unseres Aufenthalts eine Menge Schuhe, die auf dem Dachboden verschimmelten, um sie den »Einbeinigen der Intifada« zu schenken. Er sagt uns, er sei im Komitee des Sozialen Zusammenhalts, das bei allen möglichen Problemen vermittelt und urteilt, wie Schlägereien, Diebstähle, geschäftliche und behördliche Auseinandersetzungen, aber auch Vergewaltigungen und Morde (zum Glück wenige). Es gibt im Lager keine offizielle Polizei und Justiz, aber man versichert, dass es kaum Kriminalität gibt. Dieses Komitee hat keinerlei offizielle legale Macht, aber bedeutenden Einfluss wegen der umfassenden zentralen Stellung der Familie in Palästina. Wenn jemand ein Unrecht begangen hat, kann seine Familie als verantwortlich betrachtet werden und übt deswegen Druck auf ihn aus (Brüder, Schwestern, Tanten, ...). Die Mitglieder des Komitees sind respektierte Persönlichkeiten und üben intellektuelle Berufe aus (Lehrer, ...). Bei ihnen landen mehr Angelegenheiten als beim Gericht, das fast automatisch ihre Entscheidungen bestätigt. Die PA steht nicht über den Entscheidungen dieses Komitees. Ein Polizist, der eine Vergewaltigung begangen hat, muss das Lager mit seiner Familie für drei Jahre verlassen und eine hohe Strafe (15 000 Dollar) zahlen. Zunächst hatte die Autonomiebehörde diese Entscheidung abgelehnt, hat sich dann aber nach nur einer Woche gefügt.

Das Komitee gründet seine Legitimität auf die Tradition und die islamischen Vorschriften. »Ein guter Moslem kann nicht schlafen, wenn sein Nachbar ein Problem hat«, sagt man uns. I. erzählt uns einige erstaunliche Anekdoten. Bei einer Versammlung für die Schaffung eines Bildungskomitees stellten ein Mitglied der Fatah und ein Mitglied von Hamas ihre Ansicht dar, bevor der Saal das Wort bekam. I. erhob sich und sagte, dass »Lehrer und Schulleiter über die Gestaltung des Komitees entscheiden müssen«. »Wenn ich nicht im Ruhestand wäre, würde ich es ablehnen, ein Komitee anzuhören, das von Leuten eingesetzt wurde, die nichts davon verstehen und die Diebe sind, die noch nie etwas für das Lager getan haben!« setzte er fort. Schließlich verließ er, gefolgt von allen Versammlungsteilnehmern den Saal. Die beiden politischen Vertreter kamen ihnen nach und versicherten, dass sie eine Übereinkunft mit ihm finden möchten.

Eine andere Episode. Auf einer Versammlung sprachen die drei Vertreter des Lagers Balata in der palästinensischen gesetzgebenden Versammlung von Demokratie. I. erhob sich. »Ich danke euch, dass ihr, die ihr zum ersten Mal zugestimmt habt, zu diskutieren, uns die Demokratie erklärt habt. Aber wie könnt ihr erklären, dass eure Familien wichtige Posten und Arbeit erhalten haben, wo doch eure Frauen und eure Söhne unwissend sind und sich hier in diesem Saal zahlreiche Junge Leute mit Diplomen befinden, die arbeitslos sind? Wer euch beim Reden über die Demokratie zuhört, ist ein Dummkopf!« rief er. Dann erhob er sich, um zu gehen, und wiederum folgte ihm der ganze Saal.

Diese Anekdoten zeigen, ebenso wie andere während des Aufenthalts vernommene Gedanken, dass die Freiheit des Wortes in Palästina viel größer ist als in den anderen arabischen Ländern. S., ein Englischlehrer, erklärt uns, dass man ihm bei seiner Ankunft in Jordanien geraten hat, sich niemals über den Staat oder die Regierung zu äußern und sich vor den Zivilbullen zu hüten. Die Bewohner des Lagers scheinen über ihre Meinungsfreiheit zufrieden zu sein. Aber manche fügen hinzu, dass diese Freiheit größtenteils auf die Schwäche der Autonomiebehörde zurückgeht.

Wir sprachen auch mit mehreren Personen der Zivilgesellschaft, einer von ihnen, N., lebt in Nablus. Die islamische Tradition wird dort sehr stark befolgt. Man trinkt keinen Alkohol in der Öffentlichkeit, man heiratet keine geschiedene Frau, bei Gesprächen unter Männern sind niemals Frauen anwesend, das Tragen des Schultertuchs über dem Kopf ist die Regel geworden, usw.. Laizismus ist in der Minderheit. Selbst gewisse sogenannte Kommunistinnen tragen das Kopftuch. Mischehen sind selten. Die christlichen Frauen haben auch den Kopf bedeckt, aber die vollständige Verschleierung ist wenig verbreitet. N. versichert uns, dass es nicht gern gesehen wird. Dennoch werden die religiösen Feiertage wenig befolgt. »Während dieser sehr harten Besetzung hat man keine Lust, Feiertage zu begehen«, sagt er. In Nablus und im Flüchtlingslager Balata sind wir mit M., einer jungen Frau von 23 Jahren, umhergezogen, die sich mit Freizeitgestaltung für Jugendliche von 10 bis 18 beschäftigt, »damit sie etwas von ihrer Jugend haben«, damit sie ihren Stress mit Zeichnungen, Graffiti und Mauerbildern ausdrücken können. Trotz der Ausgangssperre beschlossen die Leute, dass die Kinder nicht auf Dauer eingeschlossen bleiben könnten und dass es besser ist, das Risiko auf sich zu nehmen, sich über die Ausgangssperre hinwegzusetzen. Ihr Verein Ansar Al Insan, der hauptsächlich in der Region Nablus angesiedelt ist, organisiert Straßenveranstaltungen und führte im letzten September 150 Kinder vor einen Checkpoint, um von den Soldaten zu verlangen, dass sie die Ausgangssperre ruhen und die Schulen wieder öffnen lassen. Sie waren von 40 internationalen Unterstützern umringt. Die Demonstration dauerte trotz des Tränengases eine Stunde. Schließlich drohten die Soldaten damit, scharf zu schießen, wenn sie nicht abhauen. »Aus Humanität, weil Kinder anwesend sind, zielen wir nur auf den Unterkörper«, schlossen sie großherzig ...

Die UNRWA

Die UNRWA spielt im Lager von Balata eine entscheidende Rolle. Sie finanziert und verwaltet das Bildungs- und Gesundheitswesen. Seit einigen Jahren verringert sich ihr reales Budget, da die Geberländer ihre Finanzhilfen für die UNRWA und die PA nicht aufgestockt haben. Dieser Realverlust bei den zur Verfügung stehenden Mitteln hat auch Auswirkungen auf die Löhne der hier beschäftigten Palästinenser. Die Hilfe der UNRWA für StudentInnen ist eingestellt worden. Zudem verbraucht die recht bürokratische Organisation mehr als 10% ihres Budgets für den eigenen Apparat. Die steigende Bevölkerungszahl des Lagers verstärkt ihre zentrale Rolle. M. von der Fatahfraktion des Lagers erklärt uns, dass die UNRWA aktuell Druck auf die PA ausübt, Schulgelder einzuführen, welche die Familien der SchülerInnen zahlen müßten, und im Gegenzug dafür eine neue Schule bauen will. Indem die palästinensischen Flüchtlinge unter die Obhut einer speziellen Organisation gestellt werden, und nicht wie im Rest der Welt unter die Obhut der UNHCR, beschränkt man sich auf die humanitäre Hilfe und vermeidet die politische Frage des Rückkehrrechts. Anfangs wurde die Arbeit dieser Organisation als vorübergehend betrachtet. Sie funktioniert über zeitlich begrenzte Projekte, die meistens vierteljährlich verlängert werden. Die staatlichen Hilfen fließen oftmals aufgrund von aktuellen Anlässen. In Nablus sehen wir zwei Tage nach der Abriegelung der Innenstadt, bei der zwei Palästinenser getötet worden sind, einen Sack Mehl aus Frankreich auf der Straße.

Die UNRWA leitet drei Schulen im Lager, zwei für Mädchen und eine für Jungen. Die Schule für die Jungen ist 1954 erbaut und 1988 mit holländischen Geldern wiedererrichtet worden. Pro Klasse gibt es mehr als 50 Schüler, 1500 insgesamt, die zwischen 6 und 15 Jahre alt sind (von der ersten bis zur neunten Klasse). Es gibt ca. 50 Lehrer, wovon nur drei nicht aus Balata sind. Diese haben oft Probleme mit der Anfahrt, wenn die Armee wieder die Straßen gesperrt hat. Das ist bspw. beim Sportlehrer der Fall, was umso schlimmer ist, da die Kinder des Lagers aufgrund des Platzmangels keinen Spielplatz haben. Ein Friseur schneidet den Schülern kostenlos die Haare. Die Einrichtung verfügt nur über einen Fotokopierer aus der Steinzeit. Kleinere Reparaturarbeiten besorgt die UNRWA, was aber lange dauert.

2002 wurde in den ersten beiden Monaten ohne Lehrbücher unterrichtet. Eine Ausgangssperre war verhängt worden, die den für den 1. September geplanten Schulbeginn verzögerte. Am 10. September öffneten die Lehrer trotz des Verbots die Schule. Soldaten kamen und schossen auf die Fassade. Diese Schüsse verletzten niemand, schüchterten aber die Jugendlichen ein. In den Gängen und Klassenzimmern sind die Einschusslöcher noch sichtbar. In den umliegenden Lagern mußte bis zum Oktober mit dem Schulbeginn gewartet werden. Die Schuljahre sind im Vergleich zum offiziellen Lehrplan immer sehr reduziert. Während der ersten Intifada dauerte das kürzeste Schuljahr nur 40 Tage! Die Armee ist bei einem dreitägigen Einfall ins Lager am 5. April nachts ins Schulgebäude eingedrungen und hat die Einrichtung zerstört, u.a. einen Fotokopierer und die Computer. Papiere waren zerrissen und mit Farbe beschmiert. Viele Türen waren beschossen oder aufgebrochen. Ein Ballschrank war von Einschüssen durchlöchert. Zusätzlich zu den zwei Überfällen auf die Schule existiert die alltägliche Gewalt der Besetzung. In einem Jahr sind drei Schüler der Einrichtung getötet und ungefähr 70 verletzt worden. Diese Angriffe haben eine sichtbare psychologische Wirkung. Die Schüler fühlen sich nirgendwo mehr sicher.

Diejenigen, die wir treffen und die ausreichend Englisch sprechen, sind bedachte Schüler, aber mehrere Lehrer erzählen uns von ihren Schwierigkeiten. Nach einer nächtlichen Razzia von Soldaten bei ihm zu Hause blieb ein ansonsten guter Schüler stumm und apathisch für den ganzen Tag. Andere haben Schwierigkeiten, ruhig zu bleiben oder zu schlafen.

Wir besuchen eine Klinik der UNRWA, die an ein Ambulatorium erinnert. Hier arbeiten 55 Personen, die in die Bereiche Kinderheilkunde, Notaufnahme, Zahnarzt, chronische Krankheiten, Physiotherapie, Röntgen, Allgemeinmedizin und Labor (einfache Untersuchungen) aufgeteilt sind. Es gibt auch einen Bereich für die Geburtshilfe, wo schwierige Entbindungen durchgeführt werden können. Nichtsdestotrotz gehen die werdenden Mütter in normalen Zeiten, wenn die Straßen nicht blockiert sind, zur Entbindung nach Nablus. Der Geburtshelfer kommt zwei Mal die Woche. Es gibt eine Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus von Nablus und auch mit dem Saint John Hospital (in Jerusalem) im Bereich Augenheilkunde. Diese gegenseitigen Hilfen ermöglichen es, die für die Patienten anfallenden Kosten zu verringern. Die von der UNRWA verteilten Medikamente sind kostenlos, ebenso wie die Sprechstunden. Der Lagerbestand ist darauf ausgerichtet, auch eine zweimonatige Blockade zu überstehen. Materialien müssen bestellt werden und stehen nach unterschiedlicher Wartezeit zur Verfügung.

F. aus der Physiotherapie begleitet uns durch die Klinik und erzählt uns von der Situation der Kinder. Zwischen drei und sechs Jahren ist eine Zunahme von Inkontinenz (mehr als 200 behandelte Fälle), Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und Kopfschmerzen zu beobachten. Jeden Tag nimmt die Klinik zwischen 50 und 70 Kinder auf. Mehr als 3 000 von ihnen wurden weiterbehandelt. Mehr als 70 Personen wurden während der Besetzung im April verletzt. Sie mußten vor Ort medizinisch versorgt werden. Einer von ihnen ist gestorben, weil die passende medizinische Ausrüstung fehlte. Im Juli hat die Wasserverunreinigung eine Fieberwelle ausgelöst, und die Anzahl der Patienten ist in diesem Monat auf 11 907 gestiegen. Der Monatsdurchschnitt liegt bei 7 500. Aufgrund dieser Verunreinigung gab es 200 schwere Erkrankungen. In den meisten Abteilungen nehmen die Patientenzahlen zu.

In der Physiotherapie werden 400 bis 600 Behandlungen monatlich durchgeführt. Hausbesuche sind geplant. Das Zentrum steht allen Flüchtlingen offen, auch denen außerhalb von Balata. Hausbesuche sind aber aufgrund fehlender Fahrzeuge nur für Balata selbst vorgesehen. Während der Überfälle werden die Einsatzfahrzeuge mit denen des Roten Kreuzes koordiniert. F. selbst befand sich in einem der Fahrzeuge, auf die die Soldaten geschossen haben. Dabei starb eine Krankenschwester.

Das Volkskomitee für öffentliche Aufgaben

Das Volkskomitee für öffentliche Aufgaben des Lagers entspricht unseren Gemeindeverwaltungen. Alle Parteien sind hier vertreten, ohne jemals gewählt worden zu sein. Die Volkskomitees sind das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den offiziellen Parteien. Die Fatah hat die Mehrheit, was nicht heißt, dass eine Mehrheit sie gewählt hat. Das aus Freiwilligen zusammengesetzte Komitee verwaltet die internationale Hilfe für die UNRWA. Es kümmert sich um das Gesundheitswesen, das Bildungssystem, die Müllabfuhr usw.. Die Mittel sind beschränkt. Die Bevölkerungsdichte ist ein zentrales Problem auf diesem einen Quadratkilometer großen Gelände, welches die UNRWA von einem palästinensischen Eigentümer gepachtet hat. Eine Ausweitung ist aus Kostengründen nicht möglich. Auf ein Badezimmer kommen hundert Leute. Das Komitee ermittelt den Bedarf und regt Initiativen an. Die UNRWA, die die Weiterleitung des Geldes kontrolliert, überprüft nochmals alles gründlich: Dienstleistungen, Löhne für die palästinensischen ArbeiterInnen, Lebensmittelhilfe (seit 1997) ...

Um die Arbeitslosigkeit zu senken, verteilt das Komitee die ihm zur Verfügung stehenden Beschäftigungsmöglichkeiten unter den verschiedenen Familien des Lagers. Die ausgezahlten Löhne unterstützen indirekt die Händler und somit einen Großteil der Familien in Balata. Seit einem guten Jahr ist mit der Erneuerung der Kanalisation eine bedeutende Baustelle eröffnet worden. Die finanzielle Hilfe kam aus Deutschland, es waren 160 000 Dollar für 4-6 Monate vorgesehen - das Komitee hatte 260 000 Dollar beantragt. Kurz nach der Fertigstellung wurde von israelischen Panzern alles plattgewalzt. Bei Zerstörungen trägt die UNRWA ca. 60% der realen Wiedererrichtungskosten. Zudem muss das Komitee vorübergehende Unterkünfte suchen.

Treffen mit zwei Mitgliedern der Gesetzgebenden Versammlung

Drei Vertreter der palästinensischen Gesetzgebenden Versammlung kommen aus Balata: D., H. und K. Sie sind alle drei Fatah-Mitglieder. Aber nur D. ist über die offizielle Parteiliste gewählt worden. Die zwei anderen hatten sich als unabhängige Kandidaten aufgestellt und die Konkurrenten der Fatah geschlagen. Wir hatten vor, alle drei zu sehen, aber weil die Strasse nach Nablus abgesperrt war, konnten wir K. nicht treffen.

D., Land Rover und schönes Haus in unmittelbarer Nähe des Lagers, ist hoch erfreut, uns zu empfangen, und kommt auf den seit einigen Jahren existierenden Jugendaustausch zu sprechen. 22 Jugendliche aus Balata sind unter Begleitung von zwei Erwachsenen nach Frankreich gefahren. 20 französische Jugendliche sind im Gegenzug nach Balata gekommen, wo sie in einem Reha-Zentrum untergebracht waren. Es gibt zwei Partnerschafts-Komitees, eins in Frankreich in St. Ouen, das andere in Palästina, wo D. Mitglied ist. Sie erinnert daran, dass ein Flüchtlingslager eine vorübergehende Sache bleiben muss. Das Rückkehrrecht muss von Israel entsprechend den UNO-Resolutionen akzeptiert werden. Nach ihrer Aussage stammen ungefähr 20 Selbstmordattentäter aus dem Lager (laut Volkskomitee waren es sechs).

Der zweite Vertreter, H., empfängt uns bei sich zu Hause. Ein innen angenehm ausgestattetes Haus inmitten des Lagers. H. ist einer der Leiter des CDPRR (Comitee for the Defense of Palestinian Refugees Rights), einer politischen Organisation, in der Mitglieder der 19 Lager im Westjordanland vertreten sind. Er arbeitet außerdem auf einer breiteren Ebene in der Internationalen Koalition für Flüchtlingsrechte. Dieses Bündnis organisierte die gleichzeitig stattfindenden Demonstrationen in vielen Ländern für das Rückkehrrecht, als Kanada sich bereit erklärte, einige Zehntausend PalästinenserInnen aufzunehmen. Internationale Konferenzen wurden organisiert, da die Flüchtlinge in vielen verschiedenen Ländern, u.a. in Israel leben. Zwei Wochen zuvor hatte H. auf einer solchen Versammlung in Kopenhagen teilgenommen.

Die Koalition gibt ein regelmäßig erscheinendes Bulletin heraus. Sie will mit der PA und mit den Regierungen der arabischen Nachbarländer (Libanon, Jordanien, Ägypten und Syrien) unter Wahrung ihrer Unabhängigkeit zusammenarbeiten. Auch wenn H. es nicht offen zugibt, so hängen seine Differenzen mit der Fatah wahrscheinlich mit diesem Willen zur Unabhängigkeit der Bewegung der Flüchtlinge zusammen. Die Flüchtlinge befürchten, von der PA im Namen des Friedensprozesses von Oslo geopfert zu werden. Auf der letzten Konferenz der Flüchtlingsorganisationen in Jericho wurde beschlossen, sich bei Kommunalwahlen nicht aufzustellen (also auch nicht in Nablus), um weiter für das Rückkehrrecht zu kämpfen, statt sich in den Lagern einzurichten. Nichtsdestotrotz möchte die Koalition Verbindungen zum Rest der palästinensischen Bewegung, die PA eingeschlossen, aufrechterhalten. Wie dieses Verhältnis aussehen soll, scheint Thema von komplizierten Debatten zu sein.

Die CDPRR ist vorwiegend direkt politisch aktiv. Ihre Mitglieder gehören u.a. zu den Mitbegründern des Jaffa-Centers, mit dem Ziel, direkte materielle Hilfe zu organisieren. Einige Tage zuvor hat uns HY., der für H. in der gesetzgebenden Versammlung arbeitet, anvertraut, dass »Arafat nichts für die Flüchtlinge getan hat und für die sich ausbreitende Korruption verantwortlich ist«. W. vom Jaffa-Center fügte hinzu, dass »die Parteien nur 5 bis 10% der Bevölkerung vertreten. Die PLO exisitiert in Wirklichkeit gar nicht, alle Parteien handeln auf völlig unterschiedliche und widersprüchliche Weise«. M., Sekretär der Fatah-Fraktion in Balata, ist fünfmal verhaftet worden. Er hat ein Auge auf einer Demo verloren, die nach dem bewaffneten Überfall eines Siedlers auf eine Moschee stattgefunden hat, und ist am Bein verletzt. Während unseres Aufenthalts hat M. eine Demo zum Jahrestag der Gründung der Fatah organisiert. Etwa hundert Personen haben teilgenommen, von denen ein knappes Dutzend vermummt und bewaffnet waren.

Leute erzählen, dass »die Fatah mit Kämpfern demonstriert, aber in Wirklichkeit kaum mehr kämpft. Die Hamas demonstriert nicht, hat aber die meisten aktiven Kämpfer in ihren Reihen«. Rechts-Links Gegensätze sind kaum erkenntlich. Gewisse Palästinenser ziehen die Grenzlinie in der Frage der Positionierung zu den Verträgen von Oslo.

Andere setzen die Rechte mit den Liberalen gleich. An der Universität von Nablus hat die Hamas die letzten Studentenwahlen gewonnen, weil sie als entschlossenste und aktivste Kraft innerhalb des Widerstands erschien. Die Fatah hat einen Teil ihrer Popularität verloren.

Ein paar Fixpunkte [...stark gekürzt]

Insgesamt enthalten diese Beobachtungen - auch wenn sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellen können - einige Elemente, mit denen sich die Situation der ProletarierInnen in den besetzten Gebieten besser verstehen läßt. Zwischen den Zeilen kann man auch gewisse Merkmale des aktuellen Kampfs zwischen dem Besatzerstaat und den palästinensischen Flüchtlingsmassen herauslesen.

Die sozialen Beziehungen in den besetzten Gebieten sind nicht zerstört. Die Zivilgesellschaft organisiert sich, um den Einfluss der Besatzung auf das soziale Leben zurückzudrängen. Die sozialen Klassen existieren nach wie vor, auch in den Flüchtlingslagern. Ebenso die Gestalt des kapitalistischen palästinensischen Staates. Trotz des Fehlens jeglicher formellen bürgerlichen Demokratie konnten die freie Rede und die Kritik an den politischen Cliquen, die - vor allem dank der finanziellen Unterstützung durch die UNO (für die PLO) und die islamischen Länder (für die Hamas und den Djihad) - an der Macht sind, nicht unter dem Vorwand einer nationalen Einheit gegen die Besatzer mundtot gemacht werden.

Jenseits von großen Reden und der Rhetorik der wichtigen palästinensischen Fraktionen existiert kein ernsthafter bewaffneter Widerstand der Massen gegen die Besatzung. Das Phänomen der Selbstmordattentate und selbst der bewaffnete Widerstand gegen die Razzien der israelischen Truppen scheinen nicht mehr zu sein als die Praxis einer kleinen Minderheit der PalästinenserInnen. Im Gegensatz dazu sind sie in Massen auf der Straße, wenn es darum geht, der Ausgangssperre zu trotzen, den Kindern den Schulbesuch, den Leuten ihre Einkäufe und den ArbeiterInnen das Erreichen ihrer Arbeitsplätze zu ermöglichen.

Der Klassenkampf ist nicht tot in Palästina; aber er muss sich einen schwierigen Weg zwischen zwei herrschenden Klassen bahnen, die alles dafür getan haben, tun und tun werden, um ein Aufblühen zu verhindern.

Brüssel-Paris, 14.2.2003

Erschienen als Nr. 5 von
»La lettre de Mouvement Communiste«
Kontakt: B.P. 1666, Centre Monnaie, Bruxelles


Fußnoten:

[1] Die Gründung der UNRWA (Hilfs- und Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen für die palästinensischen Flüchtlinge im Nahen Osten) gab den Hilfen der arabischen Länder für die palästinensischen Flüchtlinge den Rahmen der UNO. Von Beginn an wurden sie als etwas besonderes behandelt.


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