Wildcat-Zirkular Nr. 20 - Oktober 1995 - S. 13-20 [z20walle.htm]


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Skizzen zur Weltsystemanalyse

 

I Wallerstein, Immanuel: Der historische Kapitalismus, Argument-Verlag, Hamburg 1984 (Original-Ausgabe: Historical Capitalism, London 1983)

 

II Wallerstein, Immanuel: Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts, Weinheim 1995 (Original-Ausgabe: Unthinking Social Science, Cambridge 1991)

Das kürzlich auf deutsch erschienene Buch von Wallerstein (Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«) ist eine ziemlich zusammengestoppelte Sammlung von unterschiedlichen Aufsätzen, von denen aber einige durchaus anregend für unsere Diskussion sein könnten. »Es wäre ein riesiger Fortschritt wenn es gelänge, ... das amerikanische Fernand Braudel Center, die westdeutsche Wildcat-Initiative, ... die in Norditalien und Frankreich überlebenden Reste des Operaismus .. usw. zu verdichten und auf diese Weise die Herausbildung eines quicklebendigen neuen proletarischen Internationalismus gegen die global formierte herrschende Klasse zu unterstützen.« (Karl Heinz Roth Die Wiederkehr der Proletarität, S. 277 f.) Wo wir schon in so engen Kontakt mit Wallersteins Institut gebracht werden sollen, müssen wir doch zumindest mal seine wichtigsten Texte genauer diskutieren - auch wenn die akademische Sprache oft sehr nervt. Ich skizziere deshalb im folgenden ein paar Linien und Gedanken sowohl aus dem neuen Buch wie aus dem kleinen Bändchen Der historische Kapitalismus, das vor über zehn Jahren erschienen ist. Eine politische Besprechung ist das noch nicht, aber vielleicht eine Anregung, sich mal genauer mit der »Weltsystemanalyse« zu beschäftigen. Klasse wäre natürlich, wenn GenossInnen, die sich bereits mit Wallerstein beschäftigt haben, in den nächsten Zirkularen mal was dazu schreiben würden. (Wer die besprochenen Bücher erstmal genauer durcharbeiten will und vom hohen Preis abgeschreckt ist, soll sich melden, man kann die Sachen ja auch kopieren.)

Die von Wallerstein betriebene und propagierte »Weltsystemanalyse« gibt es unter diesem Namen seit etwa 15 Jahren. Als Perspektive entstand sie in den 70er Jahren infolge der Kritik an den herrschenden Ansichten in den verschiedenen Sozialwissenschaften. Wie der Name schon sagt, versucht die »Weltsystemanalyse« das kapitalistische Weltsystem zu analysieren und

»... leugnet, daß der 'Nationalstaat' in irgendeiner Form eine relativ autonome 'Gesellschaft' repräsentiert, die sich mit der Zeit 'entwickelt'.« (II, 317)

Stattdessen werden die heutigen Nationalstaaten als Glieder in einem zwischenstaatlichen System verstanden, das sich das kapitalistische Weltsystem etwa zwischen 1497 und der Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben hat.

»In der wirklichen Welt des historischen Kapitalismus haben fast alle Warenketten, die irgendeine Bedeutung hatten, diese Staatsgrenzen überschritten. ... Der Nationen übergreifende Charakter der Warenketten war in der kapitalistischen Welt des 16. Jahrhunderts genauso wahrhaftig beschreibbar wie er es in der des 20. Jahrhunderts ist.« (I, 26) [1]

Der Mechanismus, der sicherstellt, daß die Sozialwissenschaften nichts Wesentliches zur Analyse und Kritik des kapitalistischen Weltsystems beitragen können, besteht gerade darin, daß sie die scheinbare Trennung zwischen wirtschaftlicher Arena und politischer Arena (die vorgeblich aus separaten, eigenständigen Staaten besteht) nachvollziehen und in ihren »Disziplinen« abbilden: die Politologie für die »Politik«, die Ökonomie für das »Wirschaftliche«, die Soziologie für die Prozesse in der Gesellschaft (Wallerstein macht sich einen Spaß daraus zu zeigen, daß keine dieser »Gesellschafts«-Wissenschaften definieren kann, was sie mit »Gesellschaft« meint, z.B. II, 78 ff. + 290 ff.).

Für jede ernsthafte Analyse irgendeines Prozesses ist es also unabdingbar, die Staatsgrenzen zu überschreiten und das gesamte kapitalistische Weltsystem ins Visier zu nehmen.

In der Geschichte gab es zwei Arten von Weltsystemen: das Weltimperium und die Weltwirtschaft (daneben gab es wohl auch immer etwas, das Wallerstein »Minisysteme« nennt, worüber wir aber bis heute sehr wenig wissen). Das meiste, was wir über die Zeit von 8000 v.Chr. und 1500 n.Chr. wissen, ist die Geschichte von Weltimperien, weil diese die Kulturgeschichtsschreiber hervorbrachten, die ihre Geschichte aufschrieben. Weltwirtschaften waren in dieser Epoche eine »schwache Form«, die niemals lange überlebten, sondern entweder zerfielen oder von einem Weltimperium aufgesogen wurden.

»Um 1500 gelang es einer solchen Weltwirtschaft, diesem Schicksal zu entgehen. Aus Gründen, die noch geklärt werden müssen, entstand das 'moderne Weltsystem' aus der Konsolidierung einer Weltwirtschaft. Es hatte also die Zeit, um sich voll und ganz zum kapitalistischen System zu entwickeln. Durch ihre innere Logik expandierte diese kapitalistische Weltwirtschaft über den gesamten Erdball und absorbierte dabei alle bestehenden Minisysteme und Weltimperien. Somit gab es am Ende des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal nur ein historisches System auf dem Globus. In dieser Situation befinden wir uns noch heute.« (II, 294)

Vor allem in seinem neuen Buch geht Wallerstein allen Sozialwissenschaften an den Kragen. Er kritisiert sie als Newton'sche Wissenschaften des 19. Jahrhunderts (auch Marx müsse als Denker des 19. Jahrhunderts begriffen werden, aber »die sechs Hauptthesen im Werk von Marx« sind für uns nach wie vor sehr brauchbar).[2] Sie entstehen mit der Herausbildung der modernen Nationalstaaten und sind so angelegt, daß sie diese legitimieren. Sie vertreten einen Begriff von exakter, reproduzierbarer Wissenschaft auch heute noch, wo solche Ansichten in den Naturwissenschaften längst hinterfragt werden (Wallerstein stützt sich recht stark auf die Chaostheorie und auf Prigogine).

Gegen die unhinterfragte Grundannahme aller Sozialwissenschaften (die auch von Marx übernommen worden sei --> »siebte These«) bezweifelt Wallerstein, daß der Kapitalismus 'Fortschritt' gegenüber den vorhergehenden Weltsystemen darstellt.

Wallerstein geht davon aus, daß der historische Kapitalismus in eine Endphase eingetreten ist (bereits Anfang dieses Jahrhunderts).

»Der historische Kapitalismus ist im frühen 20. Jahrhundert in diese Strukturkrise eingetreten und wird sein Ableben als historisches System wahrscheinlich im nächsten Jahrhundert erleben. Es ist riskant, vorherzusagen, was folgen wird. Was wir jetzt tun können, ist, die Dimensionen der Strukturkrise selbst zu analysieren und zu versuchen, die Richtung zu erkennen, in die sie uns trägt.« (I, 80)

Wir leben im Übergang (eine Phase von vielleicht 100 - 200 Jahren) vom historischen Kapitalismus zu einem anderen Weltsystem. Mit einer bedeutenden Beschleunigung seit 1945:

»Die Transformation der kapitalistischen Weltwirtschaft seit 1945 war in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Die absolute Expansion der Weltwirtschaft - hinsichtlich Bevölkerung, produziertem Wert, akkumuliertem Reichtum - war wahrscheinlich genauso groß wie im gesamten Zeitraum von 1500-1945. Die politische Stärke der systemfeindlichen Kräfte war unglaublich größer als vor 1945.« (II, 138)

Dieser Übergang kann entweder die Form einer »kontrollierten Revolution« à la frz. Revolution annehmen, bei der die Herrschenden gegen die Kämpfe der Ausgebeuteten eine andere Form von Herrschaft und Ausbeutung einführten, oder die Form einer »Dekadenz« wie am Ende des römischen Imperiums. Wallerstein selber trägt Anzeichen zusammen, die eher auf den zweiten Fall hindeuten, daher sein Optimismus.

»Schließlich wäre es gut, unsere Metapher des Übergangs zu überdenken. Seit dem späten 19. Jahrhundert sind wir in eine Pseudo-Debatte über evolutionäre gegen revolutionäre Wege zur Macht verstrickt. Beide Seiten waren im Prinzip immer reformistisch, weil beide Seiten glaubten, daß der Übergang ein kontrollierbares Phänomen sei. Ein Übergang, der kontrolliert und organisiert abläuft, ist daran gebunden, eine gewisse Kontinuität der Ausbeutung beizubehalten. Wir müssen unsere Angst vor einem Übergang verlieren, der die Form von Zerschlagung und Auflösung hat. ... Vielleicht sind 'Revolutionen' sogar tatsächlich nur 'revolutionär' in dem Maße, wie sie sich für solch eine Zerschlagung einsetzen. Organisationen können wichtig sein, um die Kruste anfangs aufzubrechen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob sie tatsächlich eine neue Gesellschaft schaffen können.« (II, 203)
»Im Laufe der Zeit sind wir dem Punkt ein entscheidendes Stück näher gekommen, an dem die Pools an kostengünstiger Arbeitskraft, die es bislang gegeben hat, erschöpft sein werden. Wir sind dabei, den Grenzbereich zu erreichen. Praktisch alle Haushalte sind zumindest halb-proletarisiert. Und wirtschaftliche Stagnationen haben weiterhin zum Ergebnis, daß Teile dieser halb-proletarisierten Haushalte in proletarisierte umgewandelt werden. .... Und ich meine, daß die nächsten 30 Jahre überzeugend beweisen werden, daß es für das Kapital politisch schwieriger ist, proletarisierte Bevölkerungen zu 'marginalisieren', als es für Teile der Arbeiterklasse ist, sich selbst zu 'proletarisieren'.« (II, 139)
»... der historische Kapitalismus steckt gerade deshalb in der Krise, »weil er in der Verfolgung der endlosen Akkumulation von Kapital beginnt, sich dem Daseinsstand zu nähern, den Adam Smith als 'natürlich' für den Menschen verfocht, der aber historisch nie existierte«. (I, 80)

Was nach 500 Jahren Kapitalismus »überrascht, ist nicht, daß es so viel Proletarisierung, sondern, daß es so wenig gegeben hat .... man kann nicht sagen, daß der Umfang vollproletarisierter Arbeit in der kapitalistischen Weltwirtschaft heute auch nur 50 Prozent erreicht hätte.« (I, 18) Dieses Phänomen läßt sich nur mit den Gegenmaßnahmen der Kapitalisten begreifen, denn:

»Eine der wichtigsten Kräfte hinter der Proletarisierung war tatsächlich die Weltarbeiterschaft selbst. Sie hat begriffen, oft besser als ihre selbsternannnten intellektuellen Sprecher, wie viel größer die Ausbeutung im halbproletarisierten als im vollständig proletarisierten Haushalt ist.« (I, 31)

Das Proletariat hat historisch und strukturell ein Bedürfnis, sich ganz zu proletarisieren; das Kapital hat gegen diesen Trend historisch immer wieder Gesetze (und Staaten!!) erfunden, um die ausgebeutete Klasse zu großen Teilen im Zustand der Semiproletarität zu halten (das lenkt den Blick auf die Rolle der un-entlohnten Hausarbeit, kleine Subsistenzproduktion usw.). Ganz proletarisierte Schichten haben nämlich die unangenehme Eigenschaft, sehr viel höhere Löhne zu verlangen und durchzusetzen. Damit erklärt sich auch der kapitalistische Expansionsdrang: gegen den Verfall der Profitraten in den Zentren müssen immer neue Peripherien erschlossen werden - nicht als Absatzmärkte, sondern als Märkte von (semiproletarisierter) Arbeitskraft. (I, 33)

Um auch in den Metropolen Teile der Arbeitskraft »semiproletarisch« zu halten, sind zwei kapitalistische Strategien wichtig: Sexismus und Rassismus. Sexismus basiert auf der »soziale(n) Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit«, welche »den Arbeiterklassen« vom Kapitalismus »aufgezwungen« wurde.

»De facto wurde produktive Arbeit als Geld-verdienende Arbeit (vornehmlich Lohnarbeit) definiert und nichtproduktive Arbeit als solche, die, obwohl sehr notwendig, nur Tätigkeit für die 'Subsistenz' war und deshalb, so sagte man, keinen 'Mehrwert' produzieren könne, den sich jemand anders möglicherweise aneignen könne.« (I, 19)

Es gab in vielen historischen Systemen spezielle Formen der Unterdrückung der Frau, diese Form ist aber dem Kapitalismus eigen. Nur sie kann 'Sexismus' genannt werden. Das gleiche gilt für den 'Rassismus': auch in früheren Kulturen gab es Xenophobie, aber die Gleichsetzung von untersten Schichten im Proletariat mit ethnischen Kategorien ist dem Kapitalismus eigen - Rassismus gibt es erst im Kapitalismus.

»Besonders die 'niedrigste' Klassenkategorie und die 'niedrigste' ethnische Schicht überlappen sich sehr stark. Diese einfache Tatsache ist die Wurzel dessen, was wir Rassismus nennen.« (II; 103)
»Was wir mit Rassismus meinen, hat wenig mit der Xenophobie in verschiedenen vorangegangenen Systemen zu tun. Xenophobie war buchstäblich das: Angst vor dem 'Fremden'. Rassismus innerhalb des historischen Kapitalismus hat nichts mit 'Fremden' zu tun. Ganz im Gegenteil. Rassismus ist die Art und Weise, durch die verschiedene Segmente innerhalb der gleichen ökonomischen Struktur in ihrer Verbindung miteinander eingeschränkt wurden. Rassismus war die ideologische Rechtfertigung der Hierarchisierung der Arbeiterschaft und [ihrer] hochgradig ungleichen Einkommensverteilung. Was wir mit Rassismus meinen, ist dieser Satz ideologischer Erklärungen kombiniert mit einem Satz fortgesetzter Praktiken, die die Konsequenz hatten, daß über die Zeit eine hohe Korrelation zwischen Ethnizität und Zurodnung von Arbeitskräften erhalten wurde.« (I, 68)

Außerdem diente Rassismus dazu, »Gruppen in ihrer eigenen Rolle in der Ökonomie zu sozialisieren.« (I, 68)

»Ethnizität schuf eine kulturelle Kruste, welche die Muster halbproletarischer Haushaltsstrukturen konsolidierte. Daß das Herausbilden einer solchen Ethnizität auch eine Rolle in der politischen [Hervorhebung von mir] Spaltung der Arbeiterklasse spielte, war ein politischer Bonus für die Arbeitgeber, war jedoch, glaube ich, nicht die wichtigste Antriebskraft in diesem Prozeß.« (I, 23)

Die Asyl- und Einwanderungspolitik der kapitalistischen Zentren ist ein schlagendes Beispiel für diese (staatliche) Politik: das Kapital braucht dringend neue Arbeitskräfte, aber deren Drang, 'freier Lohnarbeiter' zu werden, muß so stark wie möglich abgebremst werden.

»Die Ethnisierung der Weltarbeitskraft hat drei Dinge geleistet, die wichtig für das Funktionieren der Weltwirtschaft waren. Erstens hat sie die Reproduktion der Arbeitskraft möglich gemacht, nicht im Sinne der Versorgung von Gruppen mit ausreichendem, zum Überleben notwendigem Einkommen, sondern im Sinne der Versorgung einer ausreichenden Zahl von Arbeitern aller Kategorien, die angemessene Einkommenserwartungen haben sowohl im Hinblick auf den gesamten Umfang als auch auf die Gestaltung der Haushaltseinkommen. Darüber hinaus war die Zuordnung von Arbeitskraft gerade deswegen beweglich, weil sie ethnisiert war. Eine ausgedehnte geographische und berufliche Mobilität wurde durch die Ethnizität nicht schwieriger, sondern einfacher. Unter dem Druck der sich wandelnden ökonomischen Bedingungen brauchte man, um die Zuordnung der Arbeitskraft zu verändern, nur einige einzelne Unternehmer, die in der geographischen und beruflichen Umsiedlung die Führung übernahmen und dafür belohnt wurden. Sofort gab es einen 'natürlichen' Schub der anderen Mitglieder der ethnischen Gruppe, ihren Standort in der Weltwirtschaft zu verlegen.
Zweitens lieferte die Ethnisierung einen eingebauten Trainingsmechanismus für die Arbeiterschaft, der sicherstellte, daß ein großer Teil der Sozialisierung in beruflichen Aufgaben innerhalb des Rahmens ethnisch definierter Haushalte geleistet wurde und nicht auf Kosten der Arbeitgeber oder der Staaten.
Drittens und vielleicht am wichtigsten hat die Ethnisierung die Einordnung von beruflichen/ökonomischen Rollen verkrustet und damit einen einfachen Code für die durchgehende Einkommensverteilung geliefert - und dabei einen, der in die Legitimierung von 'Tradition' gekleidet war.« (I, 67)

Weil das Kapital sich heute wirklich weltweit ausgebreitet hat, sieht Wallerstein die historischen Rahmenbedingungen für revolutionäre Kämpfe positiv:

»... wenn die Textilarbeiter[Innen] morgen in allen NICs (Neu Industrialisierende Länder) 20% mehr Lohn erhielten, hätten die Aufkäufer solcher Textilien nur die Wahl, sich anderen, gleich teuren Zonen zuzuwenden. Sie könnten das in dieser Gegend tun. Oder sie könnten nach neuen NICs Ausschau halten. Die Schlacht hätte ihre Hochs und Tiefs. In einer Weltwirtschaft aber, und das ist der entscheidende Punkt, die im Begriff ist, ihre Reserve-Arbeitskräfte auszuschöpfen, hätte eine solche Schlacht weit mehr Hochs als Tiefs.« (II, 148) Denn die Kapitalisten sind »jetzt, im Gegensatz zu früher, durch die ursprüngliche Strategie eines 'Klassen'-Kampfes verwundbar, weil die Weltwirtschaft ihre geographischen Grenzen erreicht hat.« (II, 149)

»Systemfeindliche Bewegungen«

Wir sind demzufolge heute wieder an dem Punkt, wo Klassenkampf möglich und siegreich werden kann, als radikale, einfache Forderung nach mehr Einkommen und besserem Leben - denn das Kapital kann diesen Kämpfen nicht mehr ausweichen. Wie sich Klasse in solchen Kämpfen konstituiert: Dazu findet sich bei Wallerstein allerdings nichts. Auch weil er es sich sehr einfach macht: die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit habe Marx von Saint Simon übernommen und weitergeführt, weil er damit an seiner These von der Tendenz zur freien Lohnarbeit habe festhalten können - diese sei aber falsch.

Den Antagonismus zum kapitalistischen Weltsystem macht Wallerstein an den »systemfeindlichen Bewegungen« fest. Sie haben mit der »Weltrevolution« von 1968 eine epochale Kritik an den vorhergegangenen systemfeindlichen Bewegungen geleistet:

Wallerstein wird sehr präzise, wo es um die Strategie dieser Bewegungen geht.

»Die lokalen und lokalisierten Forderungen nach größerer Beteiligung und höherem Realeinkommen, das heißt also, der weltweite Widerstand der Produzenten an den Orten der Produktion (wobei ich diesen Begriff im weitesten Sinne benutze) führt zu einer politischen Mobilisierung und zur Umverteilung auf wirtschaftlicher Ebene. Er nimmt den Vertretern des status quo auch einige ihrer besten Waffen: die politische Spaltung in proletarische und halb-proletarische Haushalte (national und weltweit) und den Aufruf, zugunsten des Staates Opfer (von dem Mehrwert, den jeder produziert) zu bringen.« (II, 150) »Wenn man darauf besteht, daß der Mehrwert von den Produzenten einbehalten wird, das heißt, auf größerer Gleichheit und mehr demokratischer Beteiligung, so könnte das eine verheerende Wirkung haben, und das ist keineswegs utopisch. Das große Hindernis dafür sind heute weniger die Großkapitalisten als die systemfeindlichen Bewegungen selber.« (II, 151)

Die Krise, die wir heute erleben »ist keine Krise des Staatensystems, das in seiner ursprünglichen Mission, die Hierarchisierung zu erhalten und oppositionelle Bewegungen im Zaum zu halten, immer noch gut funktioniert. Die politische Krise ist die Krise der systemfeindlichen Bewegungen selbst. Als die Unterscheidung zwischen sozialistischen und nationalistischen Bewegungen zu verschwimmen begann und immer mehr dieser Bewegungen die Staatsmacht erhielten (mit all ihren Grenzen), hat die weltweite Gesamtheit dieser Bewegungen eine Neubewertung all der frommen Rücksichten erzwungen, die aus den ursprünglichen Analysen des 19. Jahrhunderts stammen. Wie der Erfolg der Akkumulierenden mit der Akkumulation eine zu weitgehende Verwandlung der Dinge in Waren schuf, so hat der Erfolg der systemfeindlichen Bewegungen, die Macht in Besitz zu nehmen, eine zu große Verfestigung des Systems geschaffen, die die Zustimmung der weltweiten Arbeiterschaft zu dieser Strategie, die ihre Beschränkung in sich trug, zu durchbrechen droht.« (I, 81)

J./Berlin

 

Anmerkungen:

[1] Den Ansatz und das Untersuchungsprogramm der Weltsystemanalyse versteht man vielleicht am einfachsten aus folgender Kurzcharakteristik einer kapitalistischen Weltwirtschaft (II, 317 f.):

  1. die unaufhörliche Akkumulation von Kapital als treibende Kraft;
  2. eine axiale Arbeitsteilung, in der es eine Zentrum-Peripherie-Spannung gibt;
  3. die strukturelle Existenz einer halbperipheren Zone;
  4. die große und stetige Rolle von Nicht-Lohnarbeit neben der Lohnarbeit;
  5. die Grenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft fallen zusammen mit denen eines zwischenstaatlichen Systems aus 'souveränen Staaten';
  6. die Ursprünge dieser kapitalistischen Weltwirtschaft liegen vor dem 19. und vermutlich im 16. Jahrhundert;
  7. die kapitalistische Weltwirtschaft hat in einem Teil der Erde (größtenteils Europa) angefangen und hat sich von dort aus über die gesamte Erde ausgebreitet;
  8. in diesem Weltsystem rücken immer wieder andere Staaten an die hegemoniale Position;
  9. Staaten, ethnische Gruppen und Haushalte haben selbst keinen ursprünglichen Charakter, sondern wurden ständig geschaffen und neu geschaffen;
  10. Rassismus und Sexismus haben grundsätzliche Bedeutung als organisierende Prinzipien des Systems;
  11. es entstehen immer wieder systemfeindliche Bewegungen, die das System gleichzeitig unterhöhlen und sützten;
  12. »ein Muster von zyklischen Rhythmen und säkularen Trends, das die inhärenten Widersprüche des Systems verkörpert und die Systemkrise erklärt, in der wir uns gegenwärtig befinden.«

[2] II, S. 193 f.: Die sechs richtigen und die siebte - falsche - Thesen von Marx:

  1. Die soziale Realität ist ein Prozeß von unendlichen Gegensätzen, die nur dialektisch verstanden werden können.
  2. Der Kapitalismus ist ein Prozeß unaufhörlicher Kapitalakkumulation.
  3. Er wandelt Produktionsprozesse so um, daß sie Mehrwert schaffen, den die Bourgeoisie sich aneignet.
  4. Er polarisiert die soziale Organisation, so daß das Proletariat immer mehr verelendet.
  5. Der Staat ist ein Instrument der kapitalistischen Unterdrückung.
  6. Der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus kann nicht evolutionär sein; er kann nur revolutionär sein.
  7. Die »siebte These von Marx« sei dagegen »eindeutig falsch«: »These Nummer sieben lautet, daß der Kapitalismus einen Fortschritt gegenüber vorher existierenden Formen darstellt und daß er unweigerlich von der Morgenröte der klassenlosen Gesellschaft abgelöst wird.« (II, 201)


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