Wildcat-Zirkular Nr. 30/31 - November 1996 - S. 122-133 [z30asien.htm]


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Asien in Umwälzung

Referate der Veranstaltung: »NIKE auf der Flucht - Klassenkampf am Standort Asien«, 25.9.1996, Wildcat Mannheim-Ludwigshafen

 

NIKE auf der Flucht

Seit Nike Anfang der 60er Jahre gegründet wurde, fand die Produktion in asiatischen Billiglohnländern statt. Zunächst in Japan für $4 am Tag. Als dort die Löhne stiegen, wurde die Produktion nach Südkorea und Taiwan verlagert. Andere Marken wie Reebok, Adidas, Fila zogen mit. Sie bauten aber keine eigenen Fabriken, sondern ließen von ortsansässigen Subunternehmern produzieren. Pusan in Südkorea wurde die Turnschuhhauptstadt der Welt.

Die Südkoreanische Militärdiktatur unterdrückte die Arbeiterbewegung und hatte eine beruhigende Allianz mit den USA. Außerdem schienen die koreanischen Frauen willig, die konfuzianische Moral zu akzeptieren. Bei dieser ist es Aufgabe der Frauen, hart für das Wohl der Familie zu arbeiten. Dieses Pflichtbewußtsein machte sie zu idealen Arbeitskräften für exportorientierte Wachstumsindustrien.

Während der 80er Jahre wurden jedoch Demokratie- und Arbeiterbewegung stark. Und in diesem Zusammenhang lehnten auch die Frauen mehr und mehr die traditionelle Rolle ab. Sie organisierten sich gegen gefährliche Arbeitsbedingungen, tägliche Demütigungen und niedrige Löhne. Dieser Widerstand traf nicht nur die Unternehmer, er bedrohte das ganze politische System. Beim ersten Anzeichen von Ärger in einer Fabrik trat deshalb die Aufstandsbekämpfungspolizei auf den Plan. Gegen weibliche Arbeiter wurde auch das Mittel sexueller Gewalt eingesetzt. Aber es funktionierte nicht. Letztendlich wurde 1987 das Militärregime gestürzt. Die Arbeiter setzten eine deutliche Erhöhung ihres Lebensstandards durch.

Ohne den speziellen Schutz der Ausbeutungsbedingungen, den eine autoritäre Regierung bietet, wurde es für Nike Zeit, weiterzuziehen. In den späten 80ern und frühen 90ern wurde eine ganze Anzahl Sportschuhfabriken in Südkorea geschlossen. Nike verlor dadurch kein Kapital, die Fabriken gehörten sowieso Subunternehmern. Und viele von diesen Subunternehmern gingen nach China und Indonesien, um für Nike und andere Marken neue Fabriken aufzubauen. 1989 wurde 60% der Nike-Produkte in Korea hergestellt, heute sind es noch 12%. Im selben Zeitraum stieg der Produktionsanteil in China von 4 auf 34%, in Indonesien von 0 auf 36%. In Indonesien produzieren heute 120 000 Arbeiter, vor allem Frauen, für Nike.

Beide Regimes, so unterschiedlich sie von der Ideologie her sind, glauben, daß Arbeiter hart arbeiten und sich nicht organisieren sollen, um ein freundliches Klima für ausländische Investoren zu schaffen: Staatsgewerkschaften, bewaffnete Sicherheitskräfte bei Arbeitskämpfen, niedrige Löhne für Arbeiter, noch niedrigere Löhne für Arbeiterinnen.

1993 lag der Stundenlohn in der Schuhindustrie in den USA zwischen 7 und 8 Dollar, in Südkorea etwas über 2 Dollar, in Indonesien zwischen 16 und 20 Cents, in China zwischen 10 und 14 Cents. In einem Paar Nike Pegasus für $70 stecken $1.66 an Arbeitskosten. Nike bezahlt dem Subunternehmer $15, schlägt $23 für sich selbst drauf und verkauft für $38 an den Großhandel.

Aber der Druck der Arbeiterkämpfe läßt die Löhne steigen, und nicht nur bei NIKE. Im letzten Juni legten 5000 Arbeiter einer Fabrik, die für Adidas produziert, die Arbeit nieder, um zum Parlamentsgebäude in Jakarta zu demonstrieren.

Und wieder wird es Zeit für Nike nach noch billigeren und willigeren Arbeitskräften Ausschau zu halten. Schließlich stellen ein Profitzuwachs seit 1988 um 700% eine Verpflichtung dar. Schließlich müssen pro Jahr 300 Mill. Dollar für Werbung ausgegeben werden. Schließlich müssen das Sponsorengeld für die Sportprominenzen verdient werden: z.B. $20 Millionen pro Jahr für Michael Jordan, 10 Mill. pro Jahr für Andre Agassi. Scließlich ist auch NIKE-Gründer Phil Knight noch nicht reich genug: Außer jährlichem Einkommen von über 1,5 Mill Dollar besitzt er Nike-Aktien in Wert von 4,5 Milliarden US-Dollar.

Der neue Ort der Begierde ist Vietnam. Ende 95 wurden in Ho-chi-Minh-Stadt fünf Nike-Fabriken eröffnet, wiederum im Besitz Koreanischer und taiwanesischer Subunternehmer. In diesem Jahr findet bereits 2% der Nike- Weltproduktion in Vietnam statt. Die Mindestlöhne liegen bei 30-35 Dollar im Monat für ungelernte Arbeiter. Aber auch das scheinbare Ausbeuterparadies hat Schatten. Dutzende von wilden Streiks haben im letzten Jahr allein in Ho-Chi-Minh-Stadt stattgefunden. Die meisten davon in Fabriken, die sich in ausländischem Besitz befinden und für den Export Billigwaren, wie Textilien und Schuhe herstellen. Der Direktor einer koreanischen Textilfabrik erklärt: »Über 35% unserer Arbeiter bezeichneten sich als Hilfsarbeiter, um die Jobs zu kriegen... Aber nachdem sie eingestellt worden waren, sagten sie, sie seien Facharbeiter und verlangten die höheren Facharbeiterlöhne.« Dann gingen sie in Streik, bis sie diese bekamen. Der Direktor einer koreanischen Schuhfabrik: »Die Kosten sind viel höher, als ich erwartet habe. Ich bin nicht optimistisch bezüglich der Zukunft meines Geschäfts.«

Viel Spaß, NIKE! Wohin als nächstes? Es gibt in der Gegend noch einige freundliche Diktaturen, z.B. Burma, wo Leute zu kostenloser Fronarbeit gezwungen werden, oder wie wäre es mit Nordkorea oder Bhutan?

 

INDONESIEN - Repression nach dem Aufstand in Jakarta

Indonesien ist mit beinahe 200 Mill. Einwohnern das viertgrößte Land der Welt. Bis zum 2. Weltkrieg niederländische Kolonie, wurde es 1942 von Japanern besetzt. Nach deren Kapitulation wurde 1945 die Unabhängigkeit erklärt, die 1949 unter dem Druck der indonesischen Guerilla von Holland anerkannt wurde.

Von Anfang an spielte die Armee eine zentrale Rolle in Staat und Wirtschaft. Sie übernahm in den fünfziger Jahren beschlagnahmte holländische Unternehmen, später auch britische und amerikanische Firmen. Ihre Macht war aber nicht unumstritten. Die Kommunistische Partei Indonesiens war mit 2 Mill. Mitgliedern die drittgrößte kommunistische Partei der Welt. 1965/66 putschte die Armee, um diese Opposition zu vernichten. Das erledigten sie gründlich, eine halbe Million Menschen wurde damals als Kommunisten ermordet, eine weitere Million inhaftiert.

Seitdem wird Indonesien von einer kleinen Clique von Offizieren und deren Verwandten und Freunden beherrscht. Die Familie des Staatspräsidenten Soeharto gilt inzwischen als eine der reichsten der Welt.

Seit 1971 finden sogenannte Wahlen statt. Von den 500 Sitzen im Abgeordnetenhaus werden 100 vom Staatspräsident an Militärs vergeben, die restlichen durch Wahlen auf drei Parteien aufgeteilt. Die Regierungspartei GOLKAR wurde vom Militär gegründet, die beiden »Oppositionsparteien« von der Regierung ins Leben gerufen. Die Vorsitzenden der Oppositionsparteien brauchen die Bestätigung des Präsidenten.

In den letzten Jahren gibt es einen Wirtschaftsboom, dessen hohe Wachstumsraten aber von einem ebensolchen Wachstum der Auslandsschulden begleitet werden. Ein Aufschwung auf Pump sozusagen. Von ihm profitiert die Soehartoclique und eine dünne Schicht von Staatsbeamten und hohen Angestellten. Der Definition der Weltbank zufolge leben 30 Millionen in »absoluter Armut«, von 79 Mill. arbeitsfähigen Indonesiern sind 29 Mill. arbeitslos. Ausländische Investoren müssen damit rechnen, daß sie zwar nur 10% der Gesamtproduktionskosten für Löhne, dafür aber 30% für Schmier- und Bestechungsgelder aufwenden müssen. Der Mindestlohn liegt bei ca. zweieinhalb Dollar am Tag.

Angesichts solcher Löhne und frühkapitalistischer Arbeitsbedingungen ist es kein Wunder, daß Streiks und Aufstände zunehmen. 1992 gab es 177 Streiks, 1994 mehr als 1000. 1995 versammelten sich zum ersten Mal seit 30 Jahren wieder Arbeiter und Studenten am 1. Mai auf den Straßen von Jakarta und Semarang. 1996 wurde der 1. Mai mit Streiks gefeiert, die sich meist um die Zahlung der Mindestlöhne drehten. Aber einige Streiks in Surabaya gingen weiter. Dort forderten Arbeiter aus vier Fabriken, daß sich das Militär aus Arbeitskämpfen heraushalten solle und die Abschaffung mehrerer antidemokratischer Gesetze.

Die Kämpfe der ArbeiterInnen ermutigen auch Teile der Mittelschichten und sogar Angehörige der engeren Machtelite über Veränderungen nachzudenken. Auch die kleinen Kapitalisten ärgern sich über die Raffgier der Präsidentenclique. Vor allem aber: sie haben Angst, daß ausbleibende Reformen zu revolutionären Erhebungen führen könnten.

So nimmt die bürgerliche Demokratiebewegung an Stärke zu. Vor allem eine Figur rückt ins Zentrum: Megawati Sukarnoputri, Tochter des früheren Präsidenten Sukarno, Vorsitzende der PDI, der Demokratischen Partei Indonesiens, eine der beiden zugelassenen »Oppositionsparteien«. Sie hat keine Chance, bei der Präsidentenwahl 1998 zu gewinnen. Denn zum einen wird ein Teil des Wahlmännergremiums überhaupt nicht gewählt, sondern von der Armee gestellt. Zum anderen hat nur die Staatspartei GOLKAR den Apparat und die Bewegungsfreiheit, um überall im Land auf Stimmenfang zu gehen und Verluste beispielsweise in Städten durch Gewinne auf dem Land und auf den kleineren Inseln auszugleichen. Und um nötigenfalls auch das Ergebnis nachträglich zu korrigieren. Aber Soeharto und die Chefs der Armee wissen, daß schon ein Achtungserfolg von vielleicht 30% eine gefährliche Dynamik auslösen kann. Hinzu kommt, daß die Nachfolge des alten und gesundheitlich angeschlagenen Soehartos völlig ungeklärt ist.

Die Armee beruft also einen Kongreß der PDI ein, wo ein neuer Marionettenvorsitzender gewählt wird. Megawati und ihre Anhänger boykottieren den Kongreß und erklären die Wahl für illegal. Sie räumen die Parteizentrale in Jakarta nicht, sondern richten vor der Parteizentrale eine »Zone für freie Rede« ein. Dieser Platz wird schnell zum Zentrum der politischen Opposition; viele einfache Leute, aber auch Prominente nutzen die Gelegenheit, Reden zu halten und Gedanken zu verbreiten. Es ist eine Dauerdemonstration gegen die Politik Soehartos.

Die Armee unternimmt zunächst nichts, vor allem, weil ein Gipfeltreffen der ASEAN-Staaten in Jakarta stattfindet. Zwei Tage nach Abreise der Staatschefs schlagen sie zu, die Parteizentrale wird gestürmt und brutal geräumt. Unterstützer der Megawati-Fraktion und Jugendliche aus den umliegenden Viertel strömen daraufhin zusammen, so daß sich schnell eine Demo von mehreren tausend Menschen formiert. Diese Demo wird von den Soldaten eingeschlossen, durchbricht aber den Kessel und zieht in die Innenstadt. Beobachter schätzen, daß nur etwa ein Viertel der Demonstration aus »politischen Leuten« besteht, die Mehrheit kommt aus den Slums. Viele beginnen, verhaßte Symbole des Regimes anzugreifen: Banken, Regierungs- und Armeegebäude werden angegriffen, Geschäfte geplündert.

Die Armee wird nur langsam wieder Herr der Lage. Mehrere hundert Menschen werden verhaftet. Der Bericht der Nationalen Menschenrechtskommision sagt, daß 5 Menschen getötet und 149 verletzt wurden, 74 sind seitdem verschwunden, Schicksal unbekannt.

Als am nächsten Tag die Plünderungen weiter gehen, erteilt die Armeeführung den Befehl, ohne Warnung zu schießen. In vielen anderen Städten kommt es zu Solidaritätsdemos, die z.T. ebenfalls brutal niedergeknüppelt werden. Das Regime, das offenbar mit Protesten, aber nicht mit einem Aufstand der Jugendlichen aus den Vorstädten gerechnet hatte, holt am Tag darauf seine älteste Waffe aus dem Sack: den Antikommunismus. Die Demokratische Volkspartei PRD, eine kleine linke Partei, die die Kampagne der Megawati unterstützt hat, aber auch vor kurzem eine Demonstration von 20 000 ArbeiterInnen in Surabaya organisiert hatte, wird zur Nachfolgerin der alten Kommunistischen Partei erklärt und zur Jagd freigegeben. Gegen ihre bekannten Mitglieder werden Haftbefehle ausgestellt. Die Haftbefehle lauten auf »Subversion«, worauf die Todesstrafe verhängt werden kann.

Aufgrund ihrer Verbindung zur PRD sitzen z.Z noch einige Dutzend Leute in Haft. AI und Human Rights Watch berichten von Fällen, in denen mit Schlägen und Stromstößen gefoltert wurde. Außerdem ist Muchtar Pakpahan, der Vorsitzende der unabhängigen Gewerkschaft SBSI, verhaftet worden. Er war vor zwei Jahren schon mal im Knast und kam unter dem Druck internationaler Proteste frei. Rechtsanwälte, Journalisten, Menschenrechtler wurden abgehört, vorgeladen, teilweise mißhandelt, ihre Büros verwüstet. Haufenweise Razzien. »Die Leute sind gelähmt vor Angst, keiner weiß wie es weitergehen soll«, schreibt ein Indonesien- Solidaritätsaktivist. Arbeiterorganisationen drängen ihre Mitglieder, sich jetzt erstmal zurückzuhalten, um nicht noch mehr Repression auf sich zu ziehen.

Mehrere Staaten haben gegen das Vorgehen des indonesischen Militärs protestiert. Vor allem die USA mahnen die Demokratisierung an. Der Verkauf mehrerer F-16 Flugzeuge von den USA nach Indonesien ist verschoben worden. (Ganz im Gegensatz zur Bundesregierung, die erst vor kurzem Wiesel- Schützenpanzer, eine ideale Bürgerkriegswaffe, an das indonesische Militär lieferte). Der CIA weiß, daß die Situation ungeheuere Sprengkraft hat. Wenn der Übergang zur Demokratie nicht organisiert werden kann, drohen soziale und politische Eruptionen, die die ganze Region erschüttern können. Ob dabei islamisch-fundamentalistische, nationalistisch-ethnische und revolutionär-proletarische Bewegungen die Hauptrolle spielen werden, ist noch nicht abzusehen.

 

Asien in Umwälzung

Zur Zeit findet die größte gesellschaftliche Umwälzung statt, die dieser Planet je gesehen hat. Groß, das meint die Zahl der Menschen, die direkt davon betroffen sind und das meint die Geschwindigkeit, mit der diese Umwälzung vor sich geht. Es geht um die letzten 6 bis 7 Jahre, und um die nächsten Jahre, denn die Sache ist nicht nur nicht vorbei, sondern wird an Umfang und Geschwindigkeit noch zunehmen. Es geht um Asien, ein bißchen auch um Afrika und Lateinamerika. Aber - die Dimensionen allein zeigen, daß wir natürlich von Welt- Geschichte reden, um Geschichte, die unter unseren Augen vor sich geht.

Seit der Jungsteinzeit war die große Mehrheit der Menschen Bauern. In unterschiedlichen gesellschaftichen Verhältnissen, z.B. Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus etc. Bauer zu sein und auf dem Land zu leben, das heißt: direkten Zugang zum einfachen Produktionsmittel, dem Boden zu haben. Also immer die Möglichkeit, wenigstens das Allernotwendigste selber herstellen zu können. Auch die Bauern wurden ausgebeutet, aber die Herren mußten ihnen den Zehnten oder mehr immer mit offener Gewalt wegnehmen. Auf dem Land zu leben, das heißt nicht nur viel schwere Arbeit, sondern Kinderarbeit, wenig Ausbildung und Bildung, wenig oder gar keine überschüssige Zeit für Kultur. Landleben: das heißt nicht nur: keine Disco, sondern heute noch, daß die Familie und die Religion das Leben bestimmt, und deshalb heißt es vor allem Unterdrückung der Kinder und der Frauen.

Bis vor kurzem, bis vor vielleicht 2,3 Jahren, war die Mehrheit der Menschen Bauern. Zwar nicht mehr in Europa und Nordamerika. Auch nicht mehr in Lateinamerika. Wohl aber in Afrika und vor allem in Asien, wo 2/3 der Menschheit lebt.

Ich will von »gesellschaftlicher Umwälzung« in Asien berichten und dabei gehts um:

Ich will mich auf zwei Länder beschränken: China und Indonesien. Aber die Entwicklung dort ist typisch für ganz Asien, auch wenn es zwischen den einzelnen Ländern Zeitverschiebungen von wenigen Jahren gibt.

Das Epizentrum dieses gesellschaftlichen Erdbebens liegt in Shenzhen, Südostchina, zwischen Hongkong und Kanton. 1979 hatte Shenzhen ca. 23 000 Einwohner. Der Brockhaus von 93 meldet schon 600 000. Inzwischen gibt es keine gesicherten zahlen mehr; es sind mindestens 2 Millionen, vielleicht aber auch 4 oder 5 Millionen. 1980 wurde Shenzhen zu einer der 4 ersten Wirtschaftssonderzonen. Wirtschaftssonderzonen, d.h. Zollfreiheit, ohne Schutzrechte aller Art, also freies Wirtschaften für Kapital aus dem Westen. Seit 78 in der Landwirtschaft und 84 in der Industrie verfolgt der chinesische Staat die Politik der Liberalisierung der Wirtschaft; u.a. als Antwort auf den Lohndruck der ArbeiterInnen in den Staatsbetrieben. Ein paar Stichworte:

Die politische Struktur des Staates soll unverändert bleiben. Alles unter Führung durch die KPChina, Monopolisierung aller politischen und kulturellen Bereiche durch den Staat oder staatliche Massenorganisationen. Dennoch beginnt mit den wirtschaftlichen Reformen eine langsame kulturelle Öffnung. Westliche Kleidung und Musik werden möglich. Gleichzeitig nimmt die Inflation rapide zu und führt in den 80er Jahren zur deutlichen Verarmung der städtischen Bevölkerung und zu Arbeiterkämpfen. Teile der herrschenden Elite drängen auf mehr Freiheiten und Freizügigkeiten; vor allem der Nachwuchs der Elite, die Studenten. Das gipfelt in den Hungerstreik auf dem Tien-an-men im Frühjahr 89.

In Indonesien herrscht seit der Vernichtung der Opposition die Armee und die Clique um Soeharto. Die Entwicklung ist seitdem weniger kurvenreich und weniger spektakulär, aber in den späten 80ern haben wir ähnliche Ergebnisse wie in China. Der Reichtum der herrschenden Clique ist so extrem wie die Armut der Massen. Java, die Hauptinsel ist zwar die fruchtbarste Region der Erde, aber auch die am dichtesten besiedelte. Die Bauern wirtschaften auf Parzellen, die oft kleiner sind als 1 Hektar. Die Bevölkerung wächst stark, sie hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt. Es gibt den kontinuierlichen Zug in die Städte, die haben die typische Struktur der Städte in der »Dritten Welt«. Ein kleines blitzendes Zentrum und eine riesige Fläche von Vorstädten drumrum. Die übergroße Zahl der Menschen arbeitet im sogenannten Dienstleistungssektor. Die wirtschaftliche Entwicklung ist mäßig und beruht auf der Ausfuhr von Rohstoffen und Naturprodukten (Öl und Kaffee).

1989 (Tien-an-men) ist das Datum, das am Beginn der jetzigen Entwicklung steht. Tien-an-men deshalb, weil er in zweifacher Hinsicht für die ungeheure Beschleunigung der Entwicklung in China steht.

Am 4.Mai 89 besetzen einige zehntausend Studenten der Pekinger Eliteuniversitäten den Platz des himmlischen Frühlings und fordern mehr Demokratie. Die Bevölkerung spendet Beifall, bleibt aber zunächst zurückhaltend. Die Studenten bemühen sich auch nicht um Unterstützung, sondern versuchen sogar, »fremde Elemente« fernzuhalten. Der Autonome Pekinger Arbeiterverband darf am Rande des Platzes ein eigenes Zelt aufschlagen. Es kommt tatsächlich zu Verhandlungen mit höchsten Regierungskreisen, die auch im TV gezeigt werden. Immer mehr Menschen schließen sich dem Protest an auf die eine oder andere Weise an und es entwickelt sich, zuerst recht unsichtbar, ein Aufstand des Pekinger Proletariats. Ein Stahlwerk war schon länger im Streik, jetzt wird der Aufruf zum Generalstreik vollständig befolgt. In dem Maße, wie die Regierung das wahrnimmt, bereitet sie die Niederschlagung vor; Truppen werden von weit her herbeigeschafft, der Ausnahmezustand verhängt. Die Bevölkerung, durch spontan organisierte Motorradmelder informiert, errichtet Barrikaden. Versuche der Armeeführung, die Sache mit Polizeimaßnahmen, also ohne sofortigen Einsatz von Schußwaffen, zu beenden, schlagen im Ansatz fehl. Die einmarschierenden Truppen werden weit ab vom Platz von der Bevölkerung eingekesselt und stillgelegt. Am Abend des 3. Juni allerdings marschiert die Armee ohne Rücksicht auf Verluste. Mehrere Panzer- und Infantriedivisionen durchbrechen die Barrikaden und schießen. Die Pekinger setzen sich weiterhin zur Wehr, haben aber ohne Waffen keine Chance. Es wird oft vom Massaker auf dem Tien- an-men gesprochen. Die hungerstreikenden Studenten erhielten freien Abzug, dabei mögen einige umgekommen sein. Das eigentliche Massaker aber wurde in den Vorstädten an der Pekinger Bevölkerung verübt. Sichere Zahlen gibt es nicht, das Chinesische Rote Kreuz hat von 2600 getöteten Zivilisten gesprochen, andere Quellen schwanken zwischen 400 und 10 000. Wie erbittert die ungleichen Kämpfe gewesen sein müssen, zeigt sich daran, daß die Armee über 1000 Lastwagen und 60 Panzer verloren hat.

Der Aufstand in Peking, seine Niederschlagung und die nachfolgende Repressionswelle macht erst mal viele Hoffnungen zunichte. Die Menschen wenden sich wieder den individuellen Möglichkeiten zu. Das Regime unterstützt dies mit noch weitergehender wirtschaftlicher Liberalisierung. 1990 wird in Shenzhen die erste Aktienbörse eröffnet. Staatsbetriebe fangen an, Beschäftigte abzubauen. Riesige Mengen Kapital fließen ins Land. »Geld machen« wird zur Maxime von allen, die entweder skrupellos oder reich genug dazu sind. Die regionalen und lokalen Amtsinhaber machen ihre eigene Wirtschaftspolitik, richten Sonderzonen ein (1992 sind es schon 2000), gründen Joint-Ventures, machen eigene Firmen auf. Korruption explodiert in der Grauzone von neuen Zuständigkeiten, neuen Steuern und Abgaben.

Vor allem die Leute auf dem Land gehören zu den Verlierern. Gewiß, einige gründen kleine Firmen in den über 10 000 lokalen Provinzsonderzonen. Einige werden reich im Handel mit Grundstücken.

Ein großer Teil aber hat die Schnauze voll vom Wirtschaften auf kleinen Parzellen, von den hohen Steuern und Schmiergeldern und überhaupt vom Leben auf dem Land. Er zieht in die Städte. Und wenn ich bei China sage: »ein großer Teil«, dann läßt sich die Dimension schon erahnen, die die Völkerwanderung hat. Mingong, Arbeiterbauern, werden die Menschen genannt, die noch einen Ausweis haben, der sie zu Bauern erklärt, die aber in die Städte auf der Suche nach Arbeit gezogen sind und immer noch ziehen. Es dürften heute ungefähr 150 Millionen Menschen sein. Also ungefähr so viele, wie in der ganzen Europäischen Union abhängig beschäftigt sind. Es sind ungefähr 15% der Gesamtbevölkerung Chinas, gut 1/3 der abhängig Beschäftigten. Damit ist das Proletariat, also diejenigen die keinen direkten Zugang zu Produktionsmittel haben, die nichts haben außer ihrer Arbeitskraft, zur zahlenmäßigen Mehrheit in China geworden (und damit gilt dies wohl auch für die Welt).

Viele bleiben erstmal in ihrer Heimatprovinz und ziehen in die kleineren Städte oder in die tausend Landstädte, die in letzten Jahren neu entstanden sind. Sie verdingen sich in Bergwerken, kleinen Privatklitschen. Die meisten allerdings ziehen in die großen Städte im Osten und Südosten.

Was in China etwas sprunghaft vor sich gegangen ist, war so ähnlich in fast allen Süd- und südostasiatischen Ländern. Indonesien war schon länger politisch und sozial so organisiert wie China heute. Militärdiktatur, eine prinzipiell auf allen Ebenen korrupte Verwaltung, Armut der Landbevölkerung, Reichtum bei einer kleinen städtischen Schicht. Die bescheidene Entwicklung wird mit Öl und Schulden bezahlt. Der Aufstand 1987 in Südkorea gegen die Diktatur und der Aufstand der Pekinger 1989 markieren entscheidende Daten für ganz Asien. Seit dem nämlich strömt internationales Kapital in großem Umfang auch nach Indonesien. Und es sind vor allem südkoreanische und chinesische Kapitalisten, die als Subunternehmer die Produktion von Textil, Schuhen, Elektronik organisieren. Es entstehen riesige Fabriken, aber auch Netze von Heimarbeit mit viel Kinderarbeit.

Auch in Indonesien schwillt der Zug nach Java und der Zug in die Städte gewaltig an: Seit 1980 hat sich die Zahl der Einwohner der Städte verdoppelt und möglicherweise ist dies noch lange nicht die ganze Wahrheit. Die Stadtverwaltungen sind hoffnungslos überfordert. 40% der Leute in Jakarta haben z.B. kein Trinkwasser. Überhaupt scheint der Staat immer mehr die direkte Kontrolle zu verlieren. Sehr vorsichtige Autoren schätzen, daß ein Drittel der gesamten Wirtschaftstätigkeit auf allen Ebenen im »informellen Sektor« stattfindet, es gibt auch Schätzungen bis 60%.

Noch ausgeprägter in China. Noch vor, sagen wir 10 Jahren hatte China wohl das umfangreichste und ausgeklügelste System zur Verwaltung und Kontrolle der Gesellschaft. Niemand konnte in die Kreisstadt fahren, ohne daß dies vom Nachbarschaftskomitee notiert worden ist. Für alles brauchte man eine Genehmigung. Heute bauen die Mingong ganze Millionenstädte aus Zelten und Baracken am Rande von Shanghai oder Wuhan. Ohne irgendjemanden zu fragen. Aber das ist nur der eine Aspekt. Die Reginalfürsten werden immer mächtiger, machen ihre eigene Investitionspolitik, bis hin zu den Stadtverwaltungen, die oft nix mehr kontrollieren, sondern nur noch abzocken.

Entsprechend verfallen die Lebens- und Arbeitsbedingungen. Unvorstellbar die Bergwerke, wo 94 und 95 je 10 000 Arbeiter umgekommen sind, und in den ersten zwei Monaten 96 schon über 1000. Vielleicht habt ihr auch schon von den Brandkatastrophen gehört, wo in Fabriken deshalb so viele junge Frauen umkommen, weil alle Ausgänge abgeschlossen sind. Auch bekannt die Umweltdesaster, wozu auch die Überschwemmung von vor ein paar Wochen gehört, wo tausende umgekommen sind. In Liaoming sind ganze Städte nicht mehr auf Satellitenaufnahmen zu sehen- wegen dem Smog.

Daß Armut und soziales Elend zunimmt, will ich nur benennen. Vor allem alte Menschen sind betroffen. Aber alles in allem hat dieses Problem wohl noch nicht das Ausmaß wie in Indonesien oder anderen Ländern.

Daß kulturelles Elend zunimmt, ist auch klar. Kriminalität nimmt natürlich in dem Maße zu, wie die wildwest-kapitalistischen Umgangsformen den halbfeudalen staatlichen Strukturen entschwinden. Pornografie und Prostituion sind jetzt für jedermann zugänglich, sogar die Volksbefreiungsarmee betreibt in Shanghai ein First-Class-Bordell, natürlich als Joint-Venture. Das Regime hat keine andere Antwort mehr als Gewalt. Seit Anfang April läuft die Kampagne »Harter Schlag« gegen die Kriminalität. Seitdem hat Amnesty 1014 Todesstrafen registriert, wovon über 800 sofort vollstreckt wurden, teilweise als öffentliches Schauspiel. Allein am 26.Juni, dem chinesischen Anti-Drogen-Tag, wurden 769 zum Tode verurteilt und 230 noch am selben Tag hingerichtet.

Die Diktaturen, ob sie sich »kommunistisch« nennen oder antikommunistisch, kommen aus einer Zeit, in der die Bauern noch die maßgebende Klasse waren. Militärdiktaturen in relativ großen Einheiten oder Reichen. Staaten, die noch in vieler Hinsicht an den Feudalismus erinnern, vor allem in dem Punkt, daß ihre wichtigsten Methoden der Herrschaft Ideologie und offene Gewalt sind. Diktaturen, die sich jetzt aber immer weniger auf die relative Ruhe und Stabilität der Landbevölkerung stützen können. Heute verwalten sie die Gesellschaft kaum noch, sondern herrschen nur noch mit schlichter und unverhüllter Repression.

Wir haben jetzt also Proletarisierung als Verelendung. Gleichzeitig nehmen aber mit Verelendung Nationalismus, Ethnizismus, religiöser Wahn zu, vor allem dann, wenn die Proletarisierung der Menschen nicht mit der Hoffnung verbunden ist, einen Teil des ungeheuren Reichtums abzukriegen, den der Kapitalismus vorführt. Überall gibt es Minderheiten, auch wenn das Problem unterschiedlich groß ist. Indonesien besteht eigentlich nur aus Minderheiten; in China sind es vor allem die Mongolen, die Uiguren und Tibet. Man braucht also kein Prophet zu sein, wenn man sagt, daß Entwicklungen wie in der Sowjetunion oder gar Jugoslawien möglich sind.

Aber »möglich« heißt nicht »unausweichlich«. Denn es gibt auch die andere Seite. Proletarisierung muß nicht nur zu sozialem und kulturellem Elend führen. Aus dem Proletariat kann auch Arbeiterklasse werden; also eine Klasse, die von sich selber weis, die in der Lage ist, sich gegen ihr Elend zu wehren und die vielleicht sogar die Hoffnung auf eine ganz andere Welt repräsentiert. Und daß diese neue Arbeiterklasse entsteht, ist ein entscheidender Unterschied zur Entwicklung in Osteuropa!

Die Geschichte der Unterdrückten bleibt meist verborgen. Nur selten melden sie sich so zu Wort, daß wir es von hier aus sehen und hören. So wie beim Pekinger Aufstand 89 oder vor kurzem in Jakarta. In China und in Indonesien sind unabhängige Arbeiterorganisationen verboten. In China kommt noch die gut durchorganisierte Staatsgewerkschaft hinzu, die alle Lebensbereiche zumindest der ArbeiterInnen der Staatsbetriebe kontrolliert - in enger Zusammenarbeit mit Polizei und Armee. Es gibt keine Statistik oder so über Streiks. Aber es gibt immer wieder einzelne Berichte, die darauf hin weisen, daß gerade die neue Arbeiterklasse sehr wohl in der Lage ist, zu kämpfen. Arbeiteraktionen, von kollektiven Beschwerden bis hin zu Streiks, sind Alltag. Allerdings wohl noch nicht so häufig wie derzeit in Indonesien vor dem Aufstand in Jakarta.

Viel eindrucksvoller ist es, wenn wir uns diese neue Arbeiterklasse als politisch-kulturelle Größe vor Augen führen:

1. Sie ist verdammt jung. Vor allem die jungen Menschen bringen die Voraussetzungen und den Mut auf, sich aus den alten Verhältnissen zu lösen, sich auf Wanderschaft zu begeben und ein anderes Glück zu versuchen. Ich denke, daß in vielen der neuen Elektronik- und Textilfabriken das Druchschnittsalter um die 20 oder darunter liegt.

2. Sie ist politisch unverbraucht. Das kann man am besten daran sehen, daß auch ihre »FührerInnen«, also die Leute, die bekannt werden, sehr jung sind.

3. Sie ist hochmobil, sie sind nicht durch Tradition oder so gebunden und bereit und fähig zur Migration.

4. und das ist vielleicht das wichtigste: sie ist ungeheuer weiblich. 1/3 der Mingong sind Frauen. (»Da gong mei«). Und gerade die bringen, über ganz Asien, mit die eindrucksvollsten Kämpfe zustande. Fast jede Woche kommt übers Internet ein Bericht über oder ein Hinweis auf Aktionen von TextilarbeiterInnen.

Und wenn man sich jetzt vor Augen hält, daß in den feudalen Strukturen des ländlichen Chinas noch vor wenigen Jahrzehnten den Mädchen die Füße abgebunden wurden zur größeren sexuellen Freude ihres Besitzers; wenn man sich vor Augen hält, daß heute noch einzelne Stadtverwaltungen ein Bußgeld von Frauen verlangen, die bei Eheschließung nicht mehr »Jungfrau« sind, wenn man sich vor Augen hält, daß in Indonesien eine tiefverwurzelte islamische Tradition auf dem Land vorherrscht und sich dann demgegenüber das 17-jährige Mädchen vorstellt, das angesichts der ungeheuren kapitalisten Welt und angesichts von Soldaten mit automatischen Waffen einen Streik durchführt, dann kann man sich vielleicht ein Bild von der Dynamik machen, die in dieser neuen Arbeiterklasse steckt.

Was zur Zeit in Asien vor sich geht, ist wahrhaft eine proletarische Kulturrevolution. Was da vor sich geht, ist ein Aufbruch von Massen auf der Suche nach Glück, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Und eins ist gewiß: der Kapitalismus wird ihre Hoffnungen nicht erfüllen.


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