Wildcat-Zirkular Nr. 33 - Januar 1997 - S. 15-24 [z33frlkw.htm]


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Der folgende Text ist von der Redaktion der französischen Zeitschrift »Échanges et Mouvement«. Von den Genossen haben wir im Zirkular schon mehrere Texte zu den Klassenkämpfen in Frankreich übersetzt, schaut einfach mal in den Zirkular-Index. Darüberhinaus möchten wir noch an den sehr detaillierten Artikel in der Wildcat 60 erinnern, der den 92er Streik der französischen LKW-Fahrer analysiert. Von diesem Streik ist auch in diesem Text öfters die Rede.

 

Der LKW-Fahrerstreik in Frankreich im November 1996

Bevor man auf den eigentlichen Konflikt und seine Folgen eingeht, ist es mehr als bei jedem anderen Streik nötig, einen zwangsläufig knappen Überblick der komplexen Situation im Straßengütertransport und der zentralen Rolle dieses Sektors in der modernen kapitalistischen Ökonomie zu geben.

Die Struktur des Straßengütertransports in Frankreich

Die grundsätzliche Struktur des Straßengütertransports hat sich kaum verändert, seitdem im Streik vom Sommer 1992 eine ähnliche Blockade der großen Verkehrswege stattfand (s. Echanges et Mouvement No 73). Einige Zahlen zur Erinnerung: In Frankreich gibt es ungefähr 33.000 Straßentransportunternehmen. Ihre Anzahl hat in den letzten zehn Jahren um 40 Prozent zugenommen, während die Anzahl der Fahrer nur um 25 Prozent stieg. Diese Steigerung hängt zu einem guten Teil an den Kleinunternehmen, oft selbständige Fahrer (12 Prozent der aktuellen Gesamtzahl): Im Jahr 1995 wurden z.B. fast 10 000 Unternehmen gegründet, wovon 8 000 wieder verschwanden. Von den insgesamt 33 000 Unternehmen haben nur ungefähr 25 Prozent mehr als fünf Beschäftigte. 95 Prozent haben weniger als 50 Beschäftigte. Von den 317 000 Fahrern arbeiten laut Geschäftsberichten 68 000 (ungefähr 20 Prozent) bei den 11 führenden französischen Transportunternehmen mit mindestens 1500 Beschäftigten.

Diese Zahlen zeigen die extreme Unterschiedlichkeit eines Industriezweigs, in dem man einerseits vollkommen durchorganisierte Unternehmen wie als größtes die SCETA (Filiale der französischen Staatseisenbahn mit 25 000 Beschäftigten), vorfindet und auf der anderen Seite den Selbständigen, der im Laufe des Streiks folgendermaßen beschrieben wird: »Oft sind es Arbeitslose, die sich ins Handelsregister eintragen, ihre Abfindungen in die Unternehmensgründung investieren und dann einen Kredit kriegen. Im ersten Jahr profitieren sie von einer reduzierten Pauschale bei den Sozialabgaben, im zweiten Jahr brauchen sie ihr Kapital auf, und im dritten Jahr gehen sie kaputt« (J.L. Verdière vom Unternehmerverband UNOSTRA). Die Chefs der großen Unternehmen ermutigen ihre Beschäftigten oft dazu, sich selbständig zu machen. Damit verschaffen sie sich flexible Subunternehmer, die zu allen denkbaren Bedingungen arbeiten, um ihre Schulden abzutragen - anstelle von Beschäftigten, die bei aller Flexibilität der Firma hohe Sozialabgaben verursachen. Ein Gewerkschaftsverantwortlicher betont, daß die »Chefs den Arbeitern den Lastwagen verkaufen, und sie müssen dann Stunden kloppen, um ihn zu bezahlen, 10 oder 15 Jahre später ist das Fahrzeug kaputt und der Fahrer auch.« Ein Delegierter von FO erklärt: »Wir haben die rückständigsten Unternehmer der Welt, sie haben die Mentalität von Krämern des 19. Jahrhunderts«, - damit meint er zweifellos genau die Chefs der kleinen und mittleren Transportbetriebe, deren Überleben tatsächlich von der Überausbeutung der lohnabhängigen Fahrer abhängt. Sie werden in ein System gepreßt, das aus ihnen einfache »Transmissionsriemen« der drastischen Bedingungen macht, die die großen »Auftraggeber« ihnen auferlegen; sie wiederum können diese Bedingungen nur an ihre Arbeiter weitergeben, oder sie gehen pleite.

Diese Situation drückt bereits die extreme Bandbreite aus, die durch die Aufsplitterung der Funktionen im Straßentransport, von denen weiter unten die Rede sein wird, noch komplizierter wird. Die vielen Arbeitgeberorganisationen sind ein Reflex davon: die UFT (Union Fédérale des Transports) faßt verschiedene Organisationen zusammen, darunter die wichtigste, die FNTR (Fédération Nationale des Transports Routiers), in der unter anderem die großen Unternehmen Mitglied sind. Außerdem gibt es noch die UNOSTRA (Union Nationale des Organisations Syndicales et Transports Automobiles), die sich vor allem an die Selbständigen und die Klein- und Mittelbetriebe richtet. Die Interessenunterschiede machen sich in der Tatsache bemerkbar, daß nicht nur die Hälfte der Kleinunternehmer überhaupt keinem Verband angehören und daß selbst die Mitglieder von UNOSTRA nicht die Verträge einhalten müssen, die die FNTR oder die UFT unterschreiben, da die Regierung sie fast nie für allgemeinverbindlich erklärt.

Wenn unter bestimmten begrenzten Umständen die Arbeitgeber einig zu sein scheinen, können sich unter anderen Umständen starke offene oder indirekte Gegensätze herausstellen: In der aktuellen Situation wurde z.B. offen erklärt, daß die großen Unternehmen kaum etwas zur Beendigung des Konflikts taten. Ihre Hoffnung war, daß Blockaden und Zugeständnisse, zahlreiche kleine Unternehmen in den Bankrott treiben und die Branche »reinigen« würde, natürlich zugunsten der großen Buden...

Die Deregulierung hat in dieser Branche sehr früh begonnen. Bereits in den 50er Jahren hat das Ende der Preisblockade zur Abschaffung der TRO (Tarification Routière Obligatoire = verbindliche Frachttarifgestaltung) geführt. Aber das ist keine ausreichende Erklärung für den Preiskrieg, der seitdem ausgebrochen ist und zu eine Überausbeutung hervorgebracht hat, weil die fixen Kosten nicht reduzierbar waren. Hauptsächlich auf Druck der großen Ölfirmen und ergänzt von der Automobilbranche haben die politischen »Entscheidungen« den Straßengütertransport begünstigt: Heutzutage werden in Frankreich 68 Prozent der Waren auf der Straße gegenüber 28 Prozent auf der Schiene und drei Prozent auf dem Wasser transportiert. Der Straßengütertransport hat eine Schlüsselstellung im gegenwärtigen Kapitalismus. Um dieses Ergebnis zu erreichen, wurden Interessen aller Art miteinander verflochten: Der Bau von Autobahnen (man redet von der Verschuldung der französischen Eisenbahn, aber nicht von der gleich hohen Verschuldung der Betreibergesellschaften der Autobahnen); der niedrig gehaltene Dieselpreis; Steuern und Autobahngebühren; die Abwälzung der Kosten aller möglichen Probleme (Lärm, Abgase, Unfälle) auf die Gesellschaft; zahlreiche Verletzungen von Arbeitsgesetzen und sozialen Regelungen; die Nichtübernahme der Tarifverträge oder die Nichtanwendung gesetzlicher Bestimmungen. Diese Interessen hängen mit der Praxis von »just-in-time« und »Null- Lagerhaltung« in der gesamten Produktion und Distribution zusammen. Weil eine ganze Profitkaskade zur Debatte steht, sind diese Zusammenhänge natürlich überhaupt nicht rational: Obwohl auf der Schiene zweieinhalb Mal weniger Energie für den Transport einer Tonne Waren als auf der Straße benötigt werden und der LKW die Umwelt sogar mehr als ein PKW verschmutzt, ist der Straßengütertransport bei weitem am billigsten.

Diese eng miteinander verbundenen Möglichkeiten haben zu tiefgehenden Veränderungen des Straßengütertransports selbst geführt. Einerseits bei der Ausweitung seiner Aufgaben, die dazu geführt hat, daß die Transportunternehmen ihrer Kundschaft verwandte Dienstleistungen anbieten, wie z.B. die Organisation von just-in-time-Abläufen, Lagerverwaltung, Verpackung, Beförderung etc. Es sind Spezialisierungen entstanden wie z.B. Unternehmen, die nur Zugmaschinen besitzen, um bei Bedarf Sattelschleppanhänger zu bewegen. Andererseits konnte man eine Aufsplitterung des Transportsektors in eine Kaskade von Subunternehmen beobachten, wodurch oft die Sozialabgaben eingespart werden. Ein Arbeitgebersprecher nennt die Auftragsvergabe an Fremdfirmen »pervers»: dadurch würden Anpassungsfähigkeit und Produktivität erhöht , was man auch als »Externalisierung der Investitionen und der Sozialabgaben« bezeichnen kann. All diese Anregungen zur Vervielfachung der Anzahl von Selbständigen und Kleinunternehmern haben zu einer Vervielfachung des Angebots und zu einer Überausstattung im Transportsektor geführt. Das hatte solange keine negativen Effekte, wie die Wirtschaft gut lief, wurde aber zum Auslöser von Konflikten, als aufgrund der Krise die Aktivitäten im Transportsektor reduziert wurden (um mehr als 4 Prozent im Jahr 1995). Wie immer bestimmen unter solchen Umständen die Stärksten Gesetze, Preise und Arbeitsbedingungen. 1995 fielen die Frachttarife um 25 bis 30 Prozent. Ein Bericht über den Straßengütertransport kam zum Ergebnis, daß »die Basis für den Profit der Betrug ist«. Die Mißbräuche seien so eklatant, daß selbst in dieser Deregulierungsperiode vorsichtige Versuche gemacht wurden, ein wenig Ordnung in einen Dschungel zu bringen, den viele bereits als Ursache sozialer Explosionen ansehen. Ein Gesetz von Dezember 1992 versuchte die Auftragsvergabe an Fremdfirmen einzuschränken; ein anderes von Juli 1996 kritisierte die totalen Niedrigpreise und entschied, daß alle Aufträge schriftlich zu erteilen und demgemäß zu bezahlen seien. 1996 wurden allerdings 90 Prozent der Verträge mit Subunternehmern unterhalb der Renatabilitätsschwelle abgeschlossen. Die durch die atomisierte Struktur des gesamten Straßengütertransports existierenden Möglichkeiten rechtfertigen alle Verrenkungen, um jegliche Sozialabgaben zu umgehen. Ein Großunternehmen deckte z.B. seine Ferntransporte mit Subunternehmern ab, weil das Personal zu viele Forderungen stellte. Aber der ursprüngliche Druck im ganzen System kam von den großen »Auftraggebern« wie Renault oder Peugeot.

Genau wie die Blockaden von 1992 zeigt der aktuelle Streik nicht nur, an welchem Punkt das moderne System von Produktion und Verteilung verletzbar ist. 1992 richtete sich der Streik anfänglich gegen die Einführung eines Punkteführerscheins (eine striktere Reglementierung der LKW-Fahrer) und war insofern eher zweideutig, da eine gewisse »LKW-Fahrer-Verbrüderung« zwischen Selbständigen, Kleinunternehmern und angestellten Fahrern entstand. Aber diese Gemeinsamkeit ist dann schnell einem Klassenkonflikt gewichen: Arbeiter-Chefs erkannten genau, wie die bezahlten LKW-Fahrer angesichts der Wirksamkeit der Barrikaden die Verwundbarkeit des Systems aufgrund ihrer Stellung im Produktions- und Verteilungsprozeß.

Wenn sich die Situation der LKW-Fahrer wegen der Veränderungen im Straßengütertransport und der Krise, die zu einer erbitterte Konkurrenz wegen der Überkapazitäten führen, verschlechtert hat, dann ist diese Lage nicht besonders beneidenswert: Vor dem 92er Streik wurde praktisch keiner der früheren Verträge angewendet, und die Arbeitsgesetze wurden regelmäßig mit Füßen getreten. Natürlich konnte sich die Situation von einer zur anderen Firma unterscheiden, allerdings nicht unbedingt nach Betriebsgröße. Nach dem Streik von 1992, der die schillerndsten Aspekte der Ausbeutung der LKW-Fahrer betonte, aber nicht löste, hatten im November 1994 Verhandlungen zu einem Abkommen über die Reduzierung der Arbeitszeit (Lenkzeit plus Wartezeiten beim Be- und Entladen) auf monatlich zunächst 240 Stunden (maximal 60 Stunden pro Woche) geführt (ab Anfang 1997 Senkung auf 230 Stunden). Dieses Abkommen wurde pompös »Fortschrittsvertrag« getauft. Während der Debatten um den aktuellen Streik bekräftigten die Gewerkschaften, daß fünf Prozent der Fahrer von diesem Abkommen profitierten, während die FNTR sie auf 30 Prozent schätzte. Mit den Worten eines Fahrers: »Wir werden von unseren Unternehmern nicht respektiert. Seit dem Inkrafttreten des 'Fortschrittsvertrags« hat sich nichts bewegt.«

Aber auch wenn es nur Papier geblieben ist, hat das Abkommen von 1994 ein Bewußtsein nicht nur über diesen »Mangel an Respekt« der Chefs für »ihre« Fahrer entstehen lassen, sondern auch über das Niveau ihrer Ausbeutung. Die Wartezeiten wurden von den Gesamtarbeitsstunden abgezogen. Das Verhältnis dieser Zeiten hat sich seit der Entwicklung von just-in-time und Null-Lagerhaltung stark verschoben. Der Lohn steigt im Verhältnis zur Gesamtarbeitszeit wesentlich langsamer.

Welche Macht hatten die Fahrer angesichts dieser Konstellation, das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten zu verändern? »In den Klitschen ist es am schlimmsten, der Chef gibt niemals nach. Wegen einer Kleinigkeit läßt er Dich den Diesel bezahlen. Hinter Dir stehen immer 30 Typen, die Deinen Platz einnehmen.« Es stand aber nicht nur das Verhältnis Arbeitszeit/Lohn in Frage, sondern auch eine Menge des zusammengekratzten Profits der Unternehmer: So wurde klar, daß die Fahrer 10 Karenztage im Krankheitsfall haben (im Vergleich zu zwei Tagen der anderen Arbeiter), daß die Chefs kein Übernachtungsgeld bezahlen, wenn die Fahrer im Auto schlafen können etc. Ein Fahrer faßt seine Existenz mit den Worten aller Ausgebeuteten zusammen: »Bezahlen müssen immer die letzten in der Nahrungskette.«

Die Gewerkschaften im Transportsektor

Es ist schwierig, den Einfluß der Gewerkschaften unter den LKW-Fahrern einzuschätzen. Man kann vielleicht sagen, daß ihre Unabhängigkeit sie nicht gerade zu fanatischen Gewerkschaftsanhängern macht. Der Anteil der Organisierten liegt im Durchschnitt aller Betriebsarten nicht höher als acht bis zehn Prozent, auf jeden Fall viel niedriger als z.B. bei den Eisenbahnern. Das sagt aber nichts über die passive oder aktive Beteiligung im Streik aus... Die vier Gewerkschaften CGT, CFDT, FO und CFTC wie auch eine unabhängige Gewerkschaft, die FNCR, veröffentlichen kaum Zahlen über die Mitgliedschaft. Die Resultate der Delegiertenwahlen ergaben ein leichtes Übergewicht für die CFDT. Sie hat 13 000 Mitglieder im Straßentransportsektor (5 Prozent der Beschäftigten), wobei sich die Transportabteilung FGTE in Opposition zur Zentrale befindet und einen größeren Einfluß als die anderen Gewerkschaften zu haben scheint. Wir werden weiter unten sehen, daß es auch schwierig ist, die Rolle der Gewerkschaften beim Ausbruch und im Verlauf des Streiks einzuschätzen, während es schon einfacher ist, ihre Rolle bei den Verhandlungen und am Ende des Streiks zu bewerten.

Während des Streiks im November 1995 und im Verlauf des Jahres 1996 versucht die CFDT vergeblich, die routiers zu einer Demonstration gegen ihre Arbeitsbedingungen aufzurufen. Dieser Versuch ist nur im Osten und der Region um Lyon erfolgreich. Die vielen »Aktionstage« in lockerer Reihenfolge und andere sporadische Demonstrationen tragen Branche für Branche und Gewerkschaft für Gewerkschaft eher zur Demobilisierung bei und veranlaßten Ende Oktober einen Kommentator zu schreiben, daß ihr »relatives Scheitern die Wahrscheinlichkeit einer großen sozialen Krise im Privatsektor und gleichzeitig die Risiken politischer Instabilität reduziert habe«. Die von den Arbeitgebern organisierten »Aktionen« unter Leitung von FNTR und UNOSTRA sollen gegen die Erhöhung des Dieselpreises protestieren. 600 Transportunternehmer besetzen den Cours de Vincennes in Paris, während ihre Delegierten direkt mit der Regierung verhandeln, die zwei Zugeständnisse macht: Die Steuererhöhungen beim Diesel werden durch Preiserhöhungen modifiziert, und die Sozialabgaben für diejenigen Firmen, die die Arbeitszeit unter 60 Wochenstunden senken, werden reduziert (das ist der »Respekt« vor dem 'Fortschrittsvertrag'). Obwohl sie mit diesem Ergebnis nicht sehr zufrieden sind, treiben die Arbeitgeber die Bewegung nicht sehr voran. Diese breitet sich von alleine aus. Aber die Bewegung zeigt einerseits deutlich, daß die Arbeitgeber im Gegensatz zu 1992 auf eigene Rechnung handeln und nicht in der Lage sind, wieder scheinbar gemeinsam Barrikaden zu bauen, wie anfänglich 1992; andererseits zeigt sie den LKW-Fahrern, daß sich die gleiche Blockadeaktion auszahlen kann. Am 15. November organisieren ungefähr 100 LKW eine »Aktion Schnecke« (z. B. Schrittempo an einem Verkehrsknotenpunkt), weil »konkrete Aktionen der Regierung auf sich warten lassen«.

Scheinbar haben alle Gewerkschaftszentralen angesichts der ewigen im gewünschten Rahmen gebliebenen Aktionstage die Reaktion ihrer Basis auf den Aktionstag vom 18. November unterschätzt. Er war eigentlich nur dazu gedacht, eine höfliche Eingabe an den Transportminister zu unterstützen, die Regierung möge sich für eine Umsetzung der 94er Regelung starkmachen. Genauso unterschätzt der Minister die Entschlossenheit der Arbeiter, verweist die Gewerkschaften auf Verhandlungen mit den Arbeitgebern und verspricht vage, innerhalb von drei Wochen die Berechnung der Arbeitsstunden zu modifizieren, damit die gesamte Arbeitszeit voll bezahlt wird. Dann folgen in ganz Frankreich ein paar Streikposten, Demos, einige LKW-Blockaden mit Barrikaden aus brennenden Reifen. Die Gewerkschaften präsentieren dem Minister ein Paket, das alle Forderungen enthält, die die Fahrer seit Jahren vergeblich durchsetzen wollen: Rente mit 55, Abschaffung der Karenztage bei Krankheit, volle Bezahlung der Übernachtungskosten etc. Aber das wesentlich Element bleibt die Senkung der tatsächlichen Arbeitszeit, die Entlohnung der vollen Arbeitszeiten und vor allem die tatsächliche Umsetzung der Abkommen. Die Gewerkschaften blitzen ab und können praktisch nichts anderes tun, als die Bewegung, die sie gerade angestoßen haben, auf den Aktionstag vom 19. November zu orientieren. Man unterstützt so gewissermaßen denselben Verlauf wie zu Beginn der Streiks im November/Dezember 1995. Ein Aktionstag, der nichts bringt, und die Gewerkschaften müssen der Basisbewegung folgen, mit der Vorstellung, die Führung zu übernehmen, wie es ein Gewerkschaftsführer ausdrückt: Es handele sich »um einen Kampf der Beschäftigten, der von den Gewerkschaften angeleitet wird«. Diese Situation wählt Blondel, Führer der FO, für ein privates Treffen mit Premier Juppé: Man könnte fast annehmen, sie haben eine Strategie gehabt, um den Konflikt in bestimmte Bahnen zu lenken. Verschiedene Aussagen von Fahrern bringen ihre Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften zum Ausdruck. »Sie wurden von der Bewegung vollkommen überlaufen, waren vom ersten Tag an isoliert...« Ein anderer beklagt den »Mangel an Organisation, die Mißachtung seitens der CFDT-Verantwortlichen. Man hat sie am ersten Tag gesehen. Danach nichts mehr. Sie haben uns noch nicht mal über die Verhandlungen auf dem Laufenden gehalten.« Andere erklären: »Ich habe mitgemacht, ohne groß zu überlegen.« Andere fahren mit ihrem LKW zur Blockade eines Depots, alleine und ohne Anweisungen, und finden sich mit anderen zusammen, die sich den Blockaden anschließen. Um die Barrikaden entwickelt sich eine spontane Solidarität. Leute aus dem Viertel, ArbeiterInnen anderer Betriebe oder Büros in der Nähe - unzählige Menschen zeigen ein lebendiges Netz aus individuellen und kollektiven Initiativen (bei Umfragen sind 75 Prozent für die Forderungen und 59 Prozent für die Aktionen der Fahrer). Ein Routier drückt diesen Zusammenhang sehr einfach und gut aus: »Ohne die Solidarität wären wir kaputtgegangen«. Auch ein Gewerkschaftsfunktionär freut sich über das Zustandekommen der Aktionen, obwohl es doch gar keine Koordination gegeben habe. Er vergißt, daß sich eine wirkliche Kommunikation unter den Routiers mit ihren eigenen Mitteln gebildet hat: CB-Funk, Handys... Scheinbar sind auch einige wichtige Barrikaden schnell unter Kontrolle der Gewerkschaftszentralen, die sowohl die »Befreiung« blockierter Lastwagen als auch langsames Durchsickern durchsetzen; die Barrikade bei Rungis (den Markthallen von Paris) scheint über Aktivisten des Transportutnernehmens NMPP unter Kontrolle der CGT zu sein. Dort kommt es übrigens während der Auflösung der Barrikaden zu Zwischenfällen.

Der Verlauf des Streiks

In der Nacht vom 18. auf den 19. November stehen die Barrikaden gut und werden größer, vor allem um die größeren Provinzstädte, mit Schwerpunkten im Süden und in der Normandie. Im Verlauf des 19. weiten sie sich auf die Raffinerien und die Treibstoffdepots aus. Jede Sperre hat eigene Regeln: völliger Stillstand oder Durchlässigkeit für Pkw, vorübergehende Auflösung, um sich woanders neu zu treffen ...

Weil die Bewegung nicht abflaut, sondern sich im Gegenteil sogar noch ausweitet (inzwischen sind mehr als 50 Städte betroffen) und langsam auch lebenswichtige Industrien Wirkung zeigen, müssen z.B. Peugeot in Sochaux, RVI in Blainville und einige Nahrungsmittelhersteller aufgrund von Nachschubmangel ihre Arbeiter nach Hause schicken oder Kurzarbeit anmelden. Da die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, die auf Druck der Regierung begonnen haben, nichts ergeben, bestellt die Regierung einen »Vermittler« mit der Aufgabe, »zu einem Kompromiß zu kommen«. Aber auch unter dieser Anleitung bleiben die Verhandlungen ohne Ergebnis. Es sieht so aus, als setze man von Regierungs- wie von Gewerkschaftsseite auf die Schwächung der Kampfbereitschaft: Es ist schwer zu beweisen, daß die Gewerkschaften die Blockade von Paris und die Totalblockierung bestimmer Depots, Raffinerien oder Märkten wie in Rungis behindern, aber während die Medien so tun, als seien die wichtigsten Forderungen erfüllt, nimmt die Anzahl der Barrikaden langsam zu, vor allem in der Provinz, wo die gewerkschaftliche Kontrolle weniger wirksam zu sein scheint. Am 26 November zählt man 160 Barrikaden, aber am 28. (nach dem Medienbombardement über die Zugeständnisse bei der Rente) ist man bei 240. 13 Raffinerien und 400 Benzindepots sind blockiert: 2000 Tankstellen haben keine Vorräte mehr, darunter aber keine in Paris oder der näheren Umgebung. Die »Durchlässigkeit« bei manchen Barrikaden scheint auch das Resultat gewerkschaftlicher Interventionen zu sein, die versuchen, die Spannungen abzubauen, d.h. den Streik zu schwächen, oft gegen den Willen der Routiers an den Barrikaden (z.B. bei der »Befreiung« ausländischer LKW bei Calais).

Wer hat die Ausweitung des Konflikts der Routiers auf andere Branchen tatsächlich ins Auge gefaßt? Wenn man die direkte Solidarität vor Ort, von der wir bereits gesprochen haben, beiseite läßt, hat sich der Streik weder spontan noch durch Aktionen lokaler Gewerkschaftsaktivisten ausgebreitet. Es gibt einen Versuch von CFDT-Aktivisten bei der Eisenbahn in Sotteville in der Nähe von Rouen, am 26. November eine Brücke zu besetzen, aber er löst nichts aus. Es gibt auch keinerlei Anordnungen der Gewerkschaftszentralen: Vianet, CGT-Führer, schlägt für den 26. November einen nationalen Aktionstag so halbherzig vor, daß er noch nicht einmal die Mobilisierung der Aktivisten riskiert; CFDT und FO lehnten generell ab. Notat von der CFDT spricht von einem Aktionstag am 11. Dezember, nachdem sie behauptet hat, daß ein Solidaritätstag mit den Routiers ihnen schaden könnte, Blondel bleibt unentschieden. Nachdem die Führer im Verlauf der ersten Streikwoche auf das Ausfransen der Bewegung setzen, treffen sich Gewerkschaften und Arbeitgeber unter Leitung des Vermittlers (also des Staates) zur sechsten Diskussionsrunde, in der man sich auf neue Vorschläge einigt: Rente mit 55, Reduzierung der Karenztage auf fünf, Bezahlung aller Übernachtungskosten, aber nichts zum zentralen Punkt der Löhne und der Arbeitszeit. Das Bombardement der Medien und die spitzfindigen Erklärungen der Gewerkschaftsführer wollen den Routiers sogleich einreden, sie müßten nun nach Hause gehen und hätten viel gewonnen. Aber die sind überhaupt nicht dieser Meinung: Die Barrikaden werden ausgeweitet, und am 28. November sind es bis zu 250. Da sich in ganz Frankreich und auch im Ausland die Folgen zeigen, beginnen die Verhandlungen erneut und enden am 29. November mit der Unterzeichnung eines Abkommens, das die vorherigen Versprechungen sowie zusätzlich eine Lohnerhöhung von zwei Prozent, eine einmalige und sofort zahlbare Prämie von 3.000 FF (das entspricht ungefähr der Bezahlung der Streiktage) zu Papier bringt, vor allem aber die Ankündigung, daß die Regierung innerhalb von 15 Tagen eine Verordnung verkünden würde, die die gesamten Lenk-, Lade- und Wartezeiten zu effektiver Arbeitszeit erklären würde.

Erschöpfung, Bewußtsein darüber, das Wesentlich erreicht zu haben, Anweisungen der Gewerkschaft: die Barrikaden lösen sich nach der Verkündung dieser Ergebnisse genauso schnell wieder auf, wie sie errichtet worden waren.

Was haben die Routiers denn nun wirklich gewonnen?

Entsprechen diese Ergebnisse der anfänglichen Forderung nach 10.000 FF Lohn für 200 Stunden, was eine tatsächliche Lohnsteigerung von 25 bis 30 Prozent wäre, die viele kleine Unternehmen schnell in den Bankrott getrieben hätte? Sicherlich nicht, und die Auswertung der »Zugeständnisse« zeigt, daß es sich eher um notdürftige Reparaturen handelt, die das Ziel haben, die zusätzlichen Belastungen für die Unternehmen so gering wie möglich zu halten.

Konsequenzen für die Klassenkämpfe

An der Klassenfront ist alles fast schulmäßig klar geworden. Im Gegensatz zum letzten Jahr handelte es sich nicht um einen defensiven Streik gegen eine Entscheidung von oben. Es war eher eine Offensive gegen eine Situation, die seit Jahren andauert und sich durch die Wirtschaftskrise verschärft. Schnauze voll: In diesem Sinn kann der Streik möglicherweise eine andere Botschaft enthalten. Die Routiers können als Symbol für alle Nöte der aktuellen Ausbeutungssituation und des Drucks des Kapitals zur Profitmaximierung stehen: anstrengende Arbeit, niedrige Löhne, fast unbeschränkte Verlängerung der nichtbezahlten Arbeitszeit, totale Flexibilität, Prekarisierung, Unsicherheit des Arbeitsplatzes. Ihr Kampf wirft gemeinsame Probleme einer Menge ArbeiterInnen besonders aus dem Privatsektor auf. Angesichts der unglaublichen Aufsplitterung der Unternehmen zur Maximierung ihrer Ausbeutungsmöglichkeiten beziehen sich ihre Forderungen fast einheitlich auf ihre Ausbeutungssituation insgesamt. Ein Kampf für die bloße Bezahlung der gearbeiteten Stunden ließe sich mit dem Kampf der russischen Arbeiter für die Auszahlung ihrer Löhne vergleichen. Er steht aber auch für viele unterschiedliche Verteilungen der Arbeitszeit: geteilte Dienste, unentlohnte Bereitschaftszeiten.

Der andere Aspekt an der Klassenfront ist die Tatsache, daß deutlich wird, wie verletzlich das moderne kapitalistische System ist, indem auf der Suche nach Profit alles so eng miteinander verflochten ist, daß der kleinste Aussetzer das Ganze schnell aus dem Gleichgewicht bringt. Die Folgen der Blockaden sind nicht nur auf nationaler Ebene bei der Verteilung von Benzin oder Lebensmitteln deutlich geworden, sondern auch auf internationaler Ebene, was sich zunächst nur an den Zwischenfällen und den ausländischen Fahrern zeigte, die an den Barrikaden gestoppt wurden... Beim Blick auf die Landkarte ist klar, daß Frankreich eine Schlüsselstellung für den europäischen LKW-Verkehr sowohl im Agrar- als auch im Industriebereich hat. Der Rückgriff auf Umwege ist genauso schwer, wie der auf andere Transportmittel wie das Flugzeug zu teuer oder nicht organisierbar ist. Nicht nur mußten zahlreiche französische Fabriken ihre Produktion aufgrund von Nachschub- oder Absatzproblemen einstellen, auch viele Bauern konnten wegen ihrer Einbindung in die großen Transportnetze ihre Produkte nicht mehr in Umlauf bringen. Als der Streik zu Ende geht, steht VW ironischerweise kurz davor, seine deutschen Fabrikationsstätten wegen Nachschubmangel zu schließen. Peugeot-Citroen und Renault in Frankreich und in Spanien hätten eine Schließung in's Auge fassen müssen, wenn der Streik über das Wochenende vom 30. November hinausgegangen wäre. Nur Scania mußte seine Fabrik in Angers zumachen, Renault die in Douai. In Spanien sind 1000 mit Obst beladene LKW und 80 Prozent des Obstexports blockiert, sowie mehr als 3000 LKW aus Belgien, die normalerweise durch Frankreich fahren. Der Streik der dänischen LKW-Fahrer, der sich gleichzeitig wegen der Forderung nach einer Steuersenkung entwickelte, hat den gesamten skandinavischen Verkehr an den Grenzen blockiert. Niemand kümmerte sich um die Koordination der beiden Bewegungen.

Auch wenn viele andere ArbeiterInnen nicht solche Schlüsselpositionen haben, kann ein solches Beispiel um so mehr für sie beispielhaft sein, weil die Routiers ständig auf illegale Kampfformen zurückgegriffen haben. Nachdem eine Firma in der Normandie im Oktober 1995 nach einem Arbeitskonflikt acht Fahrer entlassen hatte, verklagte sie die Fahrer, weil sie die firmeneigenen LKW als Streikmittel eingesetzt hätten, um organisiert »Waren zu unterschlagen« oder »Geld zu erpressen«. Über den Versuch der Kriminalisierung des Streiks hinaus zeigt ein solches Vorgehen des Arbeitgebers, daß dieser Streik von Beginn an illegale Methoden anwendete: Beeinträchtigung des LKW-Verkehrs durch Blockaden, Behinderung des freien Zugangs zum Arbeitsplatz, Umleitung von Material. Was praktisch niemand richtig beim Namen nennt: die »Streikposten« benutzen die Arbeitsmittel effektiv als Kampfmittel, was man auch schon in anderen Kämpfen gesehen hatte. In einer solchen Lage und zusätzlich angesichts der Solidarität in unmittelbarer Nähe der Streikenden und der Zustimmung von 2/3 der Bevölkerung, stellt sich sofort folgende Frage: Warum hat die Regierung nicht die Polizei oder die Armee eingreifen lassen, wie sie es am Ende des Kampfes 1992 machte? Einerseits kann man sich vorstellen, daß sie unterstellte, daß die Gewerkschaften eine gewisse Kontrolle über den Kampf hätten und die Bewegung nach letzten Zugeständnissen schließlich zu Ende gehen würde, was ja auch tatsächlich zu einem Zeitpunkt passierte, als die katastrophalsten ökonomischen Folgen noch bevorstanden. Auf der anderen Seite waren sich Regierung und Gewerkschaften bewußt, daß ein an sich schon sehr kompliziertes gewaltsames Eingreifen angesichts der beeindruckenden Anzahl der flexiblen Barrikaden nur dazu geführt hätte, die Bewegung mit ungeahnten Folgen noch zu stärken und andere ArbeiterInnen in eine aktive Solidarität mizureißen: Die Straßenbahner aus Marsaille, die den Kampf 1995/96 mit einem langen Widerhall ausklingen ließen, drohten mit sofortigem Streik, falls die Bullen zur Auflösung der Barrikaden eingriffen. Die Regierungsforderungen in den zweiseitigen Verhandlungen, vor allem aber gegenüber den Arbeitgeberverbänden, die Auseinandersetzung so schnell wie möglich zu beenden, belegen, daß die Führer aller Seiten sehr eindeutig alles vermeiden wollten, was unvorhergesehene und unkontrollierbare Situationen hervorbringen könnte.

Wie alle Kämpfe eines gewissen Ausmaßes, hat der Kampf selbst mit einem solch gemäßigten Ergebnis besonders wichtige politische Konsequenzen. Zuallererst zeigt das neue Rentenalter diese politischen Konsequenzen: Nach der Auseinandersetzung um das Rentenalter der Eisenbahner vor einem Jahr erscheint dieses Ergebnis (Rente ist mit 55 nach 25 Jahren Arbeit möglich) nicht einfach als Niederlage, sondern auch als Öffnung einer Tür, durch die sich andere hereindrängen können.

Die verschiedenen Zugeständnisse bei der Arbeitszeit, den Löhnen und der Flexibilität, sind vom gleichen Kaliber. Alles Fragen aus dem Zentrum des Produktionsprozesses: Möglicherseise sieht es so aus, als richte sich dies an die Arbeitgeber, aber in dem Moment, wo die Regierung sich gezwungen sieht, dieses Problem per Verordnung zu regeln, kann man sagen, daß der Klassenkampf dazu zwingt, der Deregulierung und dem Liberalismus ein Ende zu setzen, um den Arbeitgebern wieder strikte Regelungen für die Arbeitsbedingungen aufzuerlegen. Sicherlich hängt alles von der Anwendung dieser Vorschriften ab, ebenso von der Kontrolle und den Sanktionen seitens des Staates, aber viel mehr vom Kräfteverhältnis in den Unternehmen, das bisher zugunsten der Chefs wirkte. Möglicherweise ist dieses Kräfteverhältnis nach dem Streik durch die Routiers verändert worden. Aber eine andere weitergehende und allgemeinere politische Konsequenz ist die indirekte Einbeziehung des gesamten kapitalistischen Systems selbst. Die erzwungene Medienöffentlichkeit und die offensichtlichen Wirkungen des Streiks haben durch die Aufmerksamkeit für die Arbeitsbedingungen und erbarmungslosen Konkurrenzsituation der Unternehmen die Vorstellung von einer Gesellschaft verbreitet, in der nur der Kampf von unten den Anfang machen kann, um das ganze System selbst in Frage zu stellen.

H.S. 11/96, Redaktion »Échanges et Mouvement«


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