Wildcat-Zirkular Nr. 42/43 - März 1998 - S. 9-12 [z42frflu.htm]


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Flugblätter aus der Arbeitslosenbewegung (eine kleine Auswahl)


Wir sind nichts - seien wir alles!

Heutzutage kann niemand mehr das Elend des alltäglichen Lebens in all seiner Ausdehnung ignorieren. Gerade weil das Elend so allgemein ist, wird es auch ganz allgemein angefochten, und diese Anfechtung wird sich in Zukunft noch weiter ausdehnen. Das Problem der Arbeitslosigkeit in seiner gegenwärtigen Form setzt mit Notwendigkeit die Frage der Arbeit und konsequenterweise die Frage der Besetzung [emploi = Gebrauch] des Lebens selbst auf die Tagesordnung. Deshalb betrifft der Kampf der Arbeitslosen JEDEN.

Wenn wir heute die Ecole Normale Supérieure in der Rue d'Ulm besetzen, so hat das vor allem einen unmittelbar praktischen Grund: Es geht uns darum, allen ein Forum zu geben, wo all das, was diskutierbar ist, auch diskutiert werden kann. Und in der Tat erlaubt es uns nur dieser Ort, mehrere Tage lang den Ordnungskräften standzuhalten. Die Isolation der Individuen war die Hauptschwäche der vergangenen Kämpfe und ist die bevorzugte Waffe der gegenwärtigen Machthaber. Und genau diese müssen wir durchbrechen.

Die Entscheidung, die ASSEDICs zu schließen, liegt vollständig bei der Regierung und der UNEDIC-Direktion (Nicole Notat). Diese Maßnahme dient offensichtlich einzig und allein dazu, die Arbeitslosen so uninformiert wie möglich gegenüber denen zu halten, die bereits kämpfen.

Es ist bekannt, wie sehr der Kapitalismus vom Ausmaß der Arbeitslosigkeit als permanenter Bedrohung profitiert, die über jedem einzelnen Arbeiter schwebt. Die Arbeitslosigkeit stellt somit ein wirkungsvolles Instrument in der Verwaltung dieser Gesellschaft und ihres Elends dar. Aber die Arbeitslosigkeit ist auch eine notwendige Folge des Kapitalismus, gegen die er nichts ausrichten kann. Das Problem der Arbeitslosigkeit stellt das Problem des Überlebens des Kapitalismus. Heute ist die Selbstorganisierung des Kampfes gegen die Ausbeutung und die Entfremdung am wichtigsten. Letztlich geht es darum, daß wir uns unser Leben wieder aneignen.

Schließt Euch uns an, schließt Euch Euch selbst an


Pressekommuniqué der BesetzerInnen der ENS

Montag, 19. Januar 1998

Die Medien versuchen, aus uns ein Symbol zu machen. Wir selber denken aber, daß wir eine Besetzung unter vielen anderen sind, und wir möchten nicht, daß die Medien uns überbewerten und damit die zig anderen Aktionen in den Schatten stellen, die gegenwärtig in ganz Frankreich im Rahmen der Arbeitslosen- und Prekärenbewegung laufen. Wir wollen uns auf keinen Fall als Stellvertreter dieser Bewegung aufspielen.

Von Anfang an wollen wir durch die vielen Besetzungen, die in Paris stattgefunden haben, einen offenen selbstverwalteten Ort schaffen, wo sich Arbeitslose, Prekäre, Studenten, Lohnabhängige, Gymnasiasten ... treffen und diskutieren können. Kurz all diejenigen, die sich in diesem Kampf wiedererkennen und mitmachen möchten. Die Regierung hat trotz ihrer Reden versucht, uns mit allen möglichen Mitteln zu behindern.

Es ist klar, daß wir uns diesen Ort nehmen werden, ob der Staat das nun will oder nicht. Wenn die Regierung die Absperrungen, die Kontrollen und die Festnahmen vervielfacht, macht sie uns nur noch wütender. Wir gehen heute nur deshalb hier raus, um uns an der Vollversammmlung im Jussieu um 17.30 Uhr zu beteiligen. Und um diesen vielfältigen Kampf fortzusetzen. Die Dynamik und die Orte, die hier stattgefunden haben, werden überdauern, und wenn wir es für richtig halten, kommen wir zurück in die ENS.

Wir fordern noch immer:

Dies ist nur ein Anfang!

Besetzer und Besetzerinnen der ENS


Alle zusammen!

Laßt uns unser Leben dem Gott Wirtschaft opfern!

Die 35 Stunden! Wir haben alle davon geträumt. Warum soll man etwas in 39 Stunden tun, wenn uns die Unternehmer auch zwingen können, es in entfremdender, erschöpfender und sinnloser Arbeit in 35 Stunden zu tun? Warum sollte man sich gegen den außerordentlich guten Willen erheben, den die Regierung Jospin zeigt, indem sie Millionen Arbeitsplätze schafft? Erst recht, wenn man weiß, wie unglaublich vielfältig die Berufsbilder sind, die die unerbittlich heranrollende Flutwelle von CDD [befristeten Arbeitsverträge] und CES [6-Monats-Verträge - ähnlich wie ABM-Stellen, meist 20-Stunden-Woche und 750,- Mark im Monat] mit sich bringen wird: die Berufsausbildungen, die mit dem Versprechen bezahlt werden, daß man hinterher besser ausgebeutet wird. Wachmänner bei Monoprix, Knastwärter, Sicherheitsbeamte mit Hund, Gemeindebullen mit 357er Magnum nach nur drei Wochen Ausbildung, Einstellungs-Entwerter bei den ASSEDICs, Videokamera-Instandhalter in den Ecken der großen Verbrauchermärkte, Metro-Kontrolleure, Sozialversicherungsnummer-Tätowierer ... All diese wunderbaren Jobs, dieser auf uns zukommende fantastische Überfluß von glücklichen Konsumenten: Wer würde es wagen, all das zu verhindern?

Und die vier Stunden, die uns versprochen werden? Wer redet davon? Sicherlich nicht die Prekären, die Essen im Supermarkt klauen, weil sie, wie sie sagen, Hunger haben. Nein, sie wissen, daß sie die vier Stunden in einer Ausweiskontrolle verbringen werden. Habt ihr eine Vorstellung davon, was Hunger in einem Land wie dem unserem bedeutet? Also sind wir als Staatsbürger, sogar linke Staatsbürger, ganz klar und aus gutem Grund der Meinung, daß die Sozialisten eine gerechte Sozialpolitik vorschlagen, und sind besorgt darüber, daß dieser kleine Bruch größere Probleme mit sich bringen könnte - wir also sind glücklich, daß wir über diese vier Stunden verfügen können. Durch die Neuverteilung der Arbeitszeit werden wir endlich später aufstehen können - denn manchmal streiken die Bettler, und wir kommen deshalb zu spät - und das, ohne daß wir es überhaupt merken. Wir werden auch mehr Zeit für unsere gewerkschaftlichen Aktivitäten haben (wir haben schließlich die nicht zu verachtende Chance, in einem Land zu wirken, wo die Gewerkschaften - und wer wüßte das besser als [die CFDT-Vorsitzende] Nicole Notat - sich mit den Regierungen und den Unternehmern abstimmen, um herauszufinden, wie sie den greinenden Pöbel am besten ins Gesicht fiken können). Vier Stunden mehr, um uns um unsere verseuchten Kinder zu kümmern, um alle möglichen Betrüger anzuzeigen, um uns auf den Ämtern wie räudige Hunde behandeln zu lassen, um unsere Ausweise so vielen städtischen Kontrolleuren wie möglich zu zeigen, um das alltägliche Elend genauer betrachten zu können, um die Spiele der Fußballweltmeisterschaft anzugucken, die wir schließlich alle bezahlt haben ...

All das erlauben uns die 35 Stunden. Jetzt, wo die Arbeitslosen-Bewegung bekommen hat, was sie wollte (2 Francs mehr für die Leute mit RMI, 266 Francs für die paar linken Quengler und ein paar Pseudo-Arbeitsplätze für Jugendliche) ist es Zeit, daß wir uns ernsthaft mit diesem fantastischen gesellschaftlichen Fortschritt beschäftigen.

Wir können dieser Regierung vertrauen, die durch die enorme aber gerechte Anzahl von Legalisierungen der sans-papiers bereits gezeigt hat, daß sie weiß, wie man einerseits kritische Probleme abschätzt und sie entsprechend seiner Versprechen löst, und sich andererseits an die weltweite Herrschaft des Geldes herangewagt hat, weil ihr an erster Stelle die ureigensten Menschheitsinteressen am Herzen liegen und nicht ihr eigenes Überleben.

Egal, was gewisse Berufsagitatoren sagen mögen: Das Geld muß der König in dieser Gesellschaft bleiben, deren demokratische und egalitäre Prinzipien niemandem entgangen sein dürften. Nur die politischen Institutionen des Planeten und unseres Landes sind in der Lage, die soziale Ausschließung zu verringern, und in 10 oder höchstens 15 Jahren werden wir 6 Milliarden Menschen auf der Erde haben, die ganz einfach glücklich sind zu leben.

Diese Regierung ist die unsere!

Die 35 Stunden sind unser Rettungsring!

Es lebe die liberale Ökonomie!

Es lebe Jospin!

Es lebe die Linke!

Wir treffen uns am Mittwoch, 28. Januar um 14 Uhr auf dem Place de la Réunion
V.i.S.d.P. Buzenval oder Alexandre Dumas


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