Wildcat-Zirkular Nr. 46/47 - Februar 1999 - S. B36 [z46eclip.htm]


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Bemerkungen zu Pannekoek und Bordiga

Das folgende ist ein 1973 geschriebener Anhang zu
The Eclipse and the Re-Emergence of the Communist Movement
[Niedergang und Neu-Entstehung der kommunistischen Bewegung]
von Gilles Dauvé und François Martin.

Wir haben ihn auszugsweise übersetzt, weil Bordiga den meisten Zirkular-LeserInnen nicht bekannt sein dürfte.


Obwohl beide in Lenins Der linke Radikalismus - die Kinderkrankheit im Kommunismus angegriffen werden, betrachtete Pannekoek Bordiga als einen eigenartigen Typ von einem Leninisten, und Bordiga sah in Pannekoek eine widerliche Mischung aus einem Marxisten und einem Anarcho-Syndikalisten. Tatsächlich interessierte der eine den anderen wenig, und die italienischen und deutschen Linkskommunisten ignorierten sich weitgehend. Ein Zweck dieses Textes ist es zu zeigen, daß das ein Fehler war.

Anton Pannekoek

Vor ein paar Jahren hatten nur wenige von Pannekoek (1873-1960) gehört. Seine Ideen und seine Geschichte werden nur deshalb wieder lebendig, weil heute die Bedingungen seiner Zeit wiederkehren - mit wichtigen Unterschieden, die uns zwingen, seine Sicht zu korrigieren.

Pannekoek war Holländer, aber zumeist agierte er in Deutschland. Er war einer der wenigen Sozialisten der entwickelten Staaten, die die revolutionäre Tradition aus der Zeit von vor 1914 lebendig erhielten. Zu radikalen Positionen kam er aber erst während des Krieges und nach dem Krieg. Sein Text Weltrevolution und kommunistische Taktik aus dem Jahre 1920 ist eine der besten Arbeiten dieser Zeit. Pannekoek erkannte, daß das Versagen der Zweiten Internationale nicht in ihrer Strategie begründet lag, sondern daß diese Strategie selbst ihre Wurzeln in der Funktion und Form der Zweiten Internationale hatte. Die Internationale war an eine ganz bestimmte Stufe des Kapitalismus angepaßt, in der die Arbeiter nach ökonomischen und politischen Reformen verlangten. Um die Revolution zu vollziehen, mußte das Proletariat sich auf eine neue Art und Weise organisieren, die über die alte Trennung von Partei und Gewerkschaft hinausging. An diesem Punkt konnte Pannekoek einen Zusammenstoß mit der Kommunistischen Internationale nicht vermeiden. Erstens, weil die Russen nie wirklich verstanden hatten, was die alte Internationale gewesen war. Deshalb glaubten sie an die Organisierung der Arbeiter von oben, ohne die Verbindung zwischen Kautskys sozialistischem Bewußtsein, das den Massen nahegebracht werden mußte, und seinem konterrevolutionären Standpunkt zu sehen. Zweitens, weil der russische Staat Massenparteien in Europa wollte, die auf ihre Regierungen Druck ausübten, sich mit Rußland zu einigen. Pannekoek stand für das wahre kommunistische Element in Deutschland. Das war aber bald geschlagen und verschiedene große kommunistische Parteien erschienen im Westen. Die kommunistische Linke war auf kleine Gruppen reduziert, die sich auf verschiedene Fraktionen verteilten.

Während der frühen 30er versuchten Pannekoek und andere, Kommunismus zu definieren. Bereits seit Anfang der 20er Jahre hatten sie Rußland als kapitalistisch angeprangert. Nun kehrten sie zur Marx'schen Analyse des Werts zurück. Sie stellten fest, daß Kapitalismus Produktion zum Zwecke der Akkumulation von Wert ist, während Kommunismus Produktion von Gebrauchswerten für die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse bedeutet. Aber es brauchte einen Plan: ohne die Vermittlung durch das Geld müßte die Gesellschaft ein genaues System der Buchhaltung entwickeln, um die Menge an Arbeitszeit, die in jedem Gut enthalten ist, zu ermitteln. Genaue Buchführung würde dafür sorgen, daß nichts verschwendet würde. Daß Pannekoek und seine Freunde zum Wert und seiner Bedeutung zurückgingen, war richtig. Falsch war aber, ein rationelles Buchhaltungssystem für die Arbeitszeit zu suchen. Was sie vorschlugen, ist de facto das Wertgesetz (weil Wert nichts anderes ist als die Menge notwendiger gesellschaftlicher Arbeit zur Produktion eines Gutes) ohne die Einbeziehung von Geld. Man mag einwenden, das sei schon 1857 am Anfang der Grundrisse angegriffen worden, aber letzten Endes legten die deutschen (und holländischen) Linkskommunisten die Betonung auf den zentralen Punkt kommunistischer Theorie.

Während des Bürgerkriegs in Deutschland von 1919 bis 1923, hatten die aktivsten Arbeiter neue Organisierungsformen geschaffen - hauptsächlich Unionen oder manchmal Räte [1]. Die Mehrheit der existierenden Arbeiterräte war jedoch reformistisch. Pannekoek entwickelte die Idee, daß diese neuen Formen wichtig waren, lebenswichtig für die Bewegung, weil sie im Gegensatz zur traditionellen Form der Partei standen. An dem Punkt griff der Rätekommunismus den Parteikommunismus an. Pannekoek machte sich daran, diesen Aspekt weiter zu entwickeln, bis er nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeiterräte veröffentlichte. Dort arbeitet er eine reine Räte-Ideologie aus. Revolution ist auf einen massen-demokratischen Prozeß reduziert. Sozialismus heißt Arbeiterkontrolle durch ein kollektives System der Buchhaltung und der Arbeitszeitrechnung: mit anderen Worten Wert ohne seine Geldform. Das Problem ist, daß der Wert nicht bloßer Maßstab sondern das Blut des Kapitalismus ist. Was die Revolutionäre betrifft - die bräuchten nur zu korrespondieren, die Theorie darzulegen, Informationen zu verbreiten und zu beschreiben, was die Arbeiter tun. Sie müssen keine ständige politische Gruppe organisieren, versuchen, eine Strategie festzulegen, oder darauf hinarbeiten, Arbeiterführer und später die neue herrschende Klasse zu werden.

Von der Analyse Rußlands als Staatskapitalismus ging Pannekoek zur Analyse derer über, die in den westlichen Ländern als Vertreter der Arbeiter innerhalb des Kapitalismus agierten, vor allem der Gewerkschaften.

Pannekoek war mit den direkten Formen des Arbeiterwiderstandes gegen das Kapital vertraut, und er verstand den Triumph der Konterrevolution. Aber er verstand den allgemeinen Hintergrund der kommunistischen Bewegung nicht: ihre Basis (die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware), ihren Kampf (zentralisierte Aktionen gegen den Staat und die existierende Arbeiterbewegung), ihr Ziel (die Schaffung neuer sozialer Beziehungen, in denen es keine Ökonomie als solche gibt). Er spielte eine wichtige Rolle bei der Re-Formierung der revolutionären Bewegung. Wir müssen die Grenzen seines Beitrags sehen und ihn dann in eine Neu-Formulierung subversiver Theorie einbeziehen.

Amadeo Bordiga

Bordiga (1889-1970) lebte in einer anderen Situation. Wie Pannekoek, der den Reformismus schon vor dem Krieg bekämpfte und sogar aus der holländischen sozialistischen Partei austrat, gehörte Bordiga zum linken Flügel seiner Partei. Aber er ging nicht so weit wie Pannekoek. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs hatte die italienische Partei eine ziemlich radikale Auffassung, und es gab keine Möglichkeit einer Spaltung. Die Partei stellte sich sogar gegen den Krieg, wenn auch mehr oder weniger passiv.

Als die italienische KP 1921 gegründet wurde, brach sie mit den Rechten und dem Zentrum der alten Partei. Dieser Umstand verärgerte die Kommunistische Internationale. Bordiga, der die Partei führte, lehnte es ab, an Wahlen teilzunehmen, nicht aus prinzipiellen Gründen sondern aus taktischen. Parlamentarische Aktivitäten könnten manchmal genutzt werden, aber nicht, wenn die Bourgeoisie das nutzen kann, um die Arbeiter vom Klassenkampf abzulenken. Später schrieb Bordiga, daß er nicht dagegen sei, das Parlament als Tribüne zu benutzen, wenn das möglich ist. So hätte es zum Beispiel zu Beginn des Faschismus Sinn gemacht. Aber 1919, mitten in einer revolutionären Bewegung, als der Aufstand und seine Vorbereitung auf der Tagesordnung waren, hätte die Teilnahme an Wahlen bedeutet, die bürgerlichen Lügen und falschen Vorstellungen über die Möglichkeit von Veränderungen durch das Parlament wieder durchzusetzen. Für Bordiga, dessen Gruppe in der sozialistischen Partei die Absentisten-Fraktion genannt wurde, war das ein wichtiger Punkt. Die Kommunistische Internationale stimmte dem nicht zu. Weil es für Bordiga lediglich als taktische, nicht als strategische Frage betrachtet wurde, beschloß er, der Kommunistischen Internationale nachzugeben. Er meinte, in solch einem Moment wäre Disziplin notwendig. Aber er blieb bei seiner Position innerhalb der Partei.

Die Einheitsfront-Politik war ein weiterer Streitpunkt. Bordiga dachte, schon die bloße Aufforderung an die sozialistischen Parteien zu gemeinsamen Aktionen würde die Massen verwirren und den unversöhnlichen Gegensatz dieser konterrevolutionären Parteien zum Kommunismus verwischen. Außerdem würden kommunistische Parteien, die nicht wirklich mit dem Reformismus gebrochen hatten, durch eine solche Politik darin bestärkt, opportunistische Tendenzen zu entwickeln.

Bordiga war gegen die Losung von einer Arbeiter-Regierung, die lediglich Verwirrung in Theorie und Praxis erzeugte. Für ihn war die Diktatur des Proletariats notwendiger Teil des revolutionären Programms. Anders als Pannekoek lehnte er es ab, aus diesen Positionen die Entartung des russischen Staats und der Partei zu folgern. Er fühlte, daß die Kommunistische Internationale sich irrte, aber sie war für ihn immer noch kommunistisch.

Anders als die Kommunistische Internationale nahm Bordiga einen klaren Standpunkt zum Faschismus ein. Er erkannte den Faschismus nicht nur als eine weitere Form bürgerlicher Herrschaft, wie die Demokratie es auch war. Er glaubte auch, daß man nicht zwischen beiden wählen könnte.

Dieser Punkt ist immer wieder diskutiert worden. Die Position der italienischen Linken wird gewöhnlich verdreht. Historiker haben Bordiga oft für Mussolinis Aufstieg zur Macht verantwortlich gemacht. Ihm wird sogar unterstellt, das Leid der Menschen im Faschismus wäre ihm gleichgültig gewesen. Nach Bordigas Ansicht ist es vom revolutionären Standpunkt aus nicht wahr, daß Faschismus schlimmer ist als Demokratie, oder daß die Demokratie bessere Bedingungen für den proletarischen Kampf schafft. Sogar, wenn die Demokratie gegenüber dem Faschismus als das kleinere Übel angesehen wird, wäre es dumm und nutzlos, die Demokratie zu verteidigen, um den Faschismus zu verhindern: die italienische (und später die deutsche) Erfahrung zeigten, daß die Demokratie im Angesicht des Faschismus nicht nur machtlos war, sondern daß sie den Faschismus zu ihrer Rettung gerufen hatte. Aus Angst vor dem Proletariat hätte die Demokratie den Faschismus großgezogen. Die einzige Alternative zum Faschismus wäre deshalb die Diktatur des Proletariats.

Um die antifaschistische Politik zu verteidigen, wurde später von der Linken - z. B. den Trotzkisten - ein weiteres Argument ins Feld geführt. Das Kapital brauche den Faschismus: es kann nicht länger demokratisch sein, deshalb sei der Kampf für Demokratie ein Kampf für den Sozialismus. So rechtfertigten viele Linke ihre Haltung während des Zweiten Weltkriegs. Aber so wie die Demokratie den Faschismus hervorbringt, bringt der Faschismus die Demokratie hervor. Die Geschichte hat Bordigas Behauptung bestätigt: der Kapitalismus ersetzt das eine durch das andere; Demokratie und Faschismus folgen aufeinander. Beide Formen traten seit 1945 vermischt und abwechselnd auf.

Natürlich konnte die Kommunistische Internationale Bordigas Widerstand nicht tolerieren, und so verlor er zwischen 1923 und 1926 die Kontrolle über den PCd'I [2]. Obwohl er nicht völlig mit Trotzki übereinstimmte, stellte er sich gegen Stalin auf dessen Seite. 1926 griff er die russischen Führer im Exekutivausschuß der Kommunistischen Internationale an - das war wahrscheinlich das letzte Mal, daß jemand die Kommunistische Internationale von innen auf solch einer hohen Ebene angegriffen hat. Allerdings begriff Bordiga damals Rußland noch nicht als kapitalistisch und die Kommunistische Internationale noch nicht als degeneriert. Erst einige Jahre später brach er wirklich mit dem Stalinismus.

Von 1926 bis 1930 war Bordiga im Knast und während der 30er Jahre hielt er sich von den sehr regen politischen Aktivitäten der Emigration fern. Die 30er Jahre waren von Antifaschismus und Volksfronten dominiert, was zur Vorbereitung eines neuen Weltkriegs führte. Die wenigen emigrierten italienischen Linken wandten ein, daß der nächste Krieg nur imperialistisch sein konnte. Der Kampf gegen den Faschismus durch Unterstützung der Demokratie wurde als materielle und ideologische Kriegsvorbereitung gewertet.

Nach Kriegsbeginn gab es nur wenige Möglichkeiten für kommunistische Aktionen. Die italienischen und deutschen Linken nahmen eine internationalistische Position ein, während sich der Trotzkismus dafür entschied, die Alliierten gegen die Achse zu unterstützen. Zu dieser Zeit lehnte es Bordiga noch immer ab, Rußland als kapitalistisch zu definieren, aber er glaubte nie - wie Trotzki - an eine Unterstützung der Seite mit der die Sowjetunion alliiert wäre, welche es auch immer sein würde. Niemals meinte er, den "Arbeiterstaat" verteidigen zu müssen. Man muß im Kopf behalten, daß Trotzki es als positives Ereignis bezeichnete, als Rußland gemeinsam mit Deutschland Polen überfiel und aufteilte, weil das die gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen auf sozialistische Weise verändern würde!

Als Italien 1943 die Seite wechselte und die Republik geschaffen wurde, ergaben sich Möglichkeiten, aktiv zu werden. Die Italienische Linke gründete eine Partei. Sie dachten, daß das Ende des Krieges zu Klassenkämpfen führen würde, die mit denen am Ende des Ersten Weltkriegs vergleichbar wären. Glaubte Bordiga das wirklich? Anscheinend verstand er, daß die Situation eine völlig andere war. Die Arbeiterklasse war diesmal völlig unter der Kontrolle des Kapitals, das darin erfolgreich war, die Arbeiter um das Banner der Demokratie zu sammeln. Die Verlierer (Deutschland und Japan) würden von den Siegern besetzt und somit kontrolliert werden. Aber faktisch stellte Bordiga sich bis zu seinem Tod nicht gegen die Sichtweise des optimistischen Teils seiner Gruppe. Er tendierte dazu, sich von den Aktivitäten (und dem Aktivismus) seiner "Partei" fernzuhalten, und war hauptsächlich an theoretischem Verständnis und Erklärung interessiert. Dadurch half er, Illusionen, die er selbst nicht teilte, zu schaffen und zu erhalten. Seine Partei verlor die meisten Mitglieder innerhalb weniger Jahre. Ende der vierziger Jahre war sie zu einer kleinen Gruppe geworden, wie sie schon vor dem Krieg war.

Der größte Teil von Bordigas Arbeit war theoretisch. Ein beträchtlicher Teil davon beschäftigte sich mit Rußland. Er zeigte, daß Rußland kapitalistisch war, und daß der russische Kapitalismus sich seinem Wesen nach nicht vom westlichen unterschied. Die deutsche Linke (oder Ultra-Linke) täuschte sich in diesem Punkt. Für Bordiga war nicht die Bürokratie das Wichtige, sondern die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, denen die Bürokratie folgen mußte. Diese Gesetze waren die gleichen wie die im Kapital beschriebenen: Akkumulation von Wert, Austausch von Waren, fallende Profitrate usw.. Zwar litt die russische Ökonomie nicht an Überproduktion, aber das lag an ihrer Rückständigkeit. Während des kalten Krieges, als viele die von den Rätekommunisten beschriebenen bürokratischen Regimes für ein neues und mögliches Zukunftsmodell der kapitalistischen Evolution hielten, sagte Bordiga voraus, daß der US-Dollar nach Rußland vordringen und letztlich die Mauern des Kreml sprengen würde.

Die Ultra-Linken glaubten, daß in Rußland die grundlegenden Gesetze, die Marx beschrieben hatte, geändert worden waren. Sie wiesen auf die Kontrolle der Wirtschaft durch die Bürokratie hin, der sie den Slogan Arbeiterkontrolle entgegenstellten. Bordiga meinte, es gäbe keine Notwendigkeit für ein neues Programm, Arbeiterkontrolle wäre eine sekundäre Frage. Die Arbeiter seien erst dann in der Lage, die Wirtschaft zu leiten, wenn die Marktbeziehungen abgeschafft wären. Natürlich ging diese Debatte über den Rahmen der Analyse Rußlands hinaus.

Diese Vorstellung wurde Ende der 50er Jahre klar. Bordiga schrieb verschiedene Arbeiten über einige von Marx' wichtigsten Texten. 1960 sagte er, daß das ganze Marx'sche Werk eine Beschreibung des Kommunismus sei. Das ist zweifellos der tiefgründigste Kommentar, der je über Marx gemacht wurde. So wie Pannekoek um 1930 zur Analyse des Werts zurückgegangen war, kehrte Bordiga 30 Jahre später zu ihr zurück. Aber was Bordiga entwickelte, war eine allgemeine Vorstellung von der Entwicklung und der Dynamik des Tauschs von seinen Ursprüngen bis zu seinem Ende im Kommunismus.

Seine Theorie der revolutionären Bewegung behielt Bordiga jedoch bei, samt ihrer falschen Vorstellung über die innere Dynamik des Proletariats. Er dachte, daß die Arbeiter sich zunächst um ökonomische Forderungen sammeln und die Natur der Gewerkschaften verändern würden. Dann würden sie dank der Eingriffe der revolutionären Avantgarde die politische Ebene erreichen. Hier ist der Einfluß Lenins leicht zu sehen. Bordigas kleine Gruppe trat in französische und italienische Gewerkschaften (vor allem Gewerkschaften, die von der KP kontrolliert wurden) ein, ohne etwas zu erreichen. Obwohl er das mehr oder weniger mißbilligte, trat er nicht öffentlich gegen solche verheerenden Aktivitäten auf.

Bordiga hielt den Kern der kommunistischen Theorie lebendig. Aber er konnte Lenins Sichtweise, d.h. die Sichtweise der Zweiten Internationale nicht überwinden. Deshalb mußten seine Aktionen und Ideen widersprüchlich bleiben. Aber heute ist das, was an seiner Arbeit wichtig war und ist, nicht schwer zu verstehen.

Pannekoek verstand den Widerstand des Proletariats gegen die Konterrevolution ganz unmittelbar, und er brachte ihn zum Ausdruck. Er sah in den Gewerkschaften Monopole des variablen Kapitals, ähnlich den gewöhnlichen Monopolen, die konstantes Kapital konzentrierten. Gegen den produktivistischen, hierarchischen und nationalistischen Standpunkt des Stalinismus und des sozialdemokratischen Sozialismus (der größtenteils durch den Trotzkismus und heute den Maoismus geteilt wird) beschrieb er die Revolution als die Übernahme des Lebens durch die Massen. Aber er schaffte es nicht, die Natur des Kapitals oder das Wesen der Veränderung, die der Kommunismus mit sich bringen würde, zu verstehen. In seiner extremen Form, wie sie Pannekoek am Ende seines Lebens vertrat, wird der Rätekommunismus zu einem System der Organisation, in der die Räte die gleiche Rolle haben wie die Partei im Leninismus. Es wäre jedoch ein ernster Fehler, Pannekoek mit seiner schwächsten Phase in Eins zu setzen. Aber unabhängig davon kann man die Theorie der Arbeiterkontrolle nicht übernehmen, vor allem nicht zu einer Zeit, in der das Kapital nach neuen Wegen sucht, die Arbeiter durch das Angebot der Teilhabe am Management zu integrieren.

Das ist genau der Punkt, an dem Bordiga wichtig ist: er betrachtete Marx' gesamtes Werk als den Versuch, Kommunismus zu beschreiben. Der Kommunismus existiert potentiell im Proletariat. Das Proletariat ist die Negation dieser Gesellschaft. Vielleicht wird es nur um zu überleben gegen die Warenproduktion revoltieren, weil die Produktion von Waren seine - sogar physische - Vernichtung erzwingt. Die Revolution ist weder eine Frage von Bewußtsein noch eine Frage der Führung. Das unterscheidet Bordiga sehr von der Zweiten Internationale, von Lenin und von der offiziellen Kommunistischen Internationale. Aber er hat es nie geschafft, einen Strich zu ziehen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Heute können wir das tun.


Fußnoten:

[1] In diesem Zusammenhang hat das deutsche Wort für Union nichts mit den trade unions, die auf deutsch Gewerkschaften heißen, zu tun. Die Unionen bekämpften die Gewerkschaften sogar.

[2] Obwohl er noch die Mehrheit hatte, trat er aus Disziplin zu Gunsten von Gramsci zurück.


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