Wildcat-Zirkular Nr. 55 - März 2000 - S. 5-11 [z55cmuro.htm]


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Zur Verteidigung der Rebellen von Seattle

(oder: Pflege seines inneren Anarchisten)

Cruz Muro (ein libertärer Latino aus dem Südwesten der USA, der heute in New York City lebt), 9. Dezember 1999

 

»Ein unerfreulicher Nachmittag«

Ein paar von uns aus New York fuhren nach Seattle, um sich an den Protesten gegen das Ministertreffen der Welthandelsorganisation (WTO) zu beteiligen. Ich selber machte in diesen Tagen eine Veränderung durch. In den vier Tagen, die wir dort waren, lebten wir praktisch auf der Straße. Wir marschierten in friedlichen Demonstrationen, beteiligten uns an Informationsveranstaltungen, wurden von Anti-Riot-Einheiten mit Tränengas angegriffen und gejagt, und liefen Gefahr, festgenommen zu werden oder Gummigeschosse, Schlagstöcke und Pfefferspray abzubekommen. Gegen Mittag des 30. Novembers, des ersten Tags des WTO-Treffens, wurde klar, daß es der Polizei mit den Festnahmen vor allem darum ging, die Leute mit Gewalt und unter Einsatz von Waffen auseinanderzutreiben. An diesem Abend wurde der Notstand ausgerufen, wozu eine Ausgangssperre ab 19 Uhr gehörte. Bei Einbruch der Nacht rückten Soldaten der Nationalgarde in Arbeitskleidung an. Bilder von den Straßenaktionen in dieser Nacht und an den folgenden Tagen werden die meisten aus den Medien kennen.

Die Zerstörungsaktionen von schwarzgekleideten Jugendlichen, die in dem 15 bis 20 Block großen Gebiet in der Innenstadt Geschäfte demolierten, wurden allgemein verurteilt. Die WTO, Geschäftsleute, Regierungsvertreter sowie das Fernsehen und die Zeitungen, von der Seattle Times und dem Seattle Post-Intelligencer bis zu überregionalen Tageszeitungen wie der New York Times und dem Wall Street Journal, sie alle verdammten die Rioter und beschrieben sie als Kriminelle, Hooligans und Diebe.

Progressive Aktivisten - Pfarrer, Umweltschützer, Gewerkschafter - stimmten in einen ähnlichen Chor ein. »Auf keinen Fall unterstützen wir Gewalt und Zerstörung von Eigentum«, sagte Naomi Walker, eine Sprecherin des AFL-CIO-Chefs John Sweeney. Carl Pope, der Geschäftsführer des Sierra Club erklärte: »Wir bedauern die Gewalt, die im Zentrum von Seattle verübt wurde. Sie verdrängt die eigentliche Sache der 50 000 Menschen, die zusammenkamen, um Respekt vor den ArbeiterInnen und vor der Umwelt zu verlangen. Unser Anliegen wird von der Gewalt überschattet. Das Anliegen von tausenden friedlichen Demonstranten darf nicht von ein paar Anarchisten an den Rand gedrängt werden.«

Andere waren über die »Gewalt« gegen das Eigentum noch empörter. Medea Benjamin, eine Anführerin von Global Exchange, einer Gruppe aus San Francisco, erklärte: »Wir schützen hier Nike, McDonald's, Gap und ich frage mich die ganze Zeit, 'Wo bleibt die Polizei?'. Diese Anarchisten hätte man festnehmen sollen« (New York Times, 2.12.99). Mike Dolan von Ralph Naders Public Citizen schloß sich dem an: »Diese gewaltfreien direkten Aktionen wurden schon frühzeitig von kleinen Banden von Vandalen gestört und kaputt gemacht, die einige Zeitungskästen umschmissen und anscheinend im Zentrum ein paar Scheiben einschlugen. Der Polizei gelang es nicht, diese wenigen asozialen Individuen zu identifizieren und festzunehmen. Warum hat die Polizei die Randalierer nicht frühzeitig ausgemacht und festgenommen? Wenn sie es getan hätte, wäre uns dieser unerfreuliche Nachmittag und mir persönlich schwerwiegende Unannehmlichkeiten erspart geblieben. Wir sind nicht hierhingekommen, um Seattle zu demolieren, sondern um zu zeigen, was für einen demolierten Ruf die WTO hat« (World Trade Observer, 1.12.99). Seit diesen Tagen hat es weitere Beschuldigungen und Spekulationen gegeben, z.B. ob die Anarchisten Provokateure der Regierung waren.

Will denn niemand die Anarchisten verteidigen? Waren ihre Aktionen so verwerflich und asozial, wie ihre Kritiker behaupten? Oder sind diese jungen Rebellen unsere Brüder und Schwestern, keine Saboteure der Bewegung, sondern Leute mit einem revolutionären Geist, die wir dafür umarmen sollten, daß sie den Willen hatten, die berechtigte Wut und Ablehnung gegenüber einer gesellschaftlichen Ordnung auszudrücken, die auf Habsucht, systematischer Gewalt und der Unterdrückung der Mehrheit der Menschen auf der Welt beruht?

Akteure und Symbole

»Massenhafter gesellschaftlicher Ungehorsam als neue Stufe des Kampfes kann die tiefverwurzelte Wut des Ghettos in eine konstruktive und kreative Kraft verwandeln. Das Funktionieren einer Stadt zu stören, ohne sie dabei zu zerstören, kann wirkungsvoller sein als ein Riot, weil dies langfristig teurer für die gesamte Gesellschaft wird, ohne sie mutwillig zu zerstören. Außerdem handelt es sich um eine Aktionsform, bei der es für die Regierung schwieriger ist, sie mit ihrer überlegenen Gewalt niederzuschlagen.« (Martin Luther King, Where Do we Go from here?, S. 21)

Die Proteste in Seattle wurden von drei größeren Gruppierungen und deren Aktionen getragen, wobei sich die Handlungsfelder und Ereignisse überlagerten.

Da war erstens die riesige Koalition aus gewerkschaftlichen Aktivisten, Friedensbewegten, Umweltschützern und Leuten aus dem kirchlichen und religiösen Spektrum. Diese Gruppen bildeten den Großteil der Protestierer, vor allem am Tag der gewerkschaftlich abgesegneten Großdemo, bei der über 30 000 Leute vom Seattle Center in die Nähe des Tagungsorts der WTO in der Innenstadt marschierten. In den Reihen der Gewerkschaften fielen vor allem die International Longshore Workers [Hafenarbeitergewerkschaft], die Service Employees Industrial Union und die Stahlarbeitergewerkschaft auf.

Zweitens gab es das Direct Action Network (DAN) mit sehr viel weniger Leuten, eine größtenteils jugendliche Menge. Aber sie hatten sich zum Ziel gesetzt, über den symbolischen Protest hinauszugehen und die Arbeit der Staatsmänner durch gewaltfreie Blockaden lahmzulegen, d.h. sie wollten die WTO in die Zange nehmen.

Und schließlich war da der kleine Kern von Anarchisten, angeblich aus Oregon [grenzt südlich an den Bundesstaat Washington, in dem Seattle liegt], die die heilige Kuh der Amerikanischen Geschäftswelt angreifen wollten.

In der heutigen Zeit kann keine Gruppe von Bürgern wirklich unmittelbaren Einfluß auf die Entscheidungen der Mächtigen nehmen, und daher ist fast jede politische Bewegungen auf einen gewissen Grad von Symbolismus angewiesen, um ihren Protest auszudrücken. Die Reichen und Mächtigen halten die Zügel, während wir Zeugnis ablegen und Jeremiaden anstimmen.

Aber während eine große Gruppierung in Seattle für den Symbolismus des moralischen Protests, des Dissens' und der politischen Mißbilligung waren (Gewerkschaften, Kirchen, fairer Handel, Ökos) und andere für den Symbolismus, der darin besteht, die ministeriellen Übeltäter durch gewaltfreien bürgerlichen Ungehorsam tatsächlich zu behindern (wenn auch nur für einen Tag), so waren die Anarchisten für den Symbolismus des unmittelbaren Angriffs auf den Kapitalismus, auf die Ökonomie, die auf dem Profitmachen beruht und von multinationalen Firmen betrieben wird.

Sie riefen zu einer gegenkulturellen Wende auf, zu einer radikalen Veränderung unserer gesamten Lebensweise. Sie versuchten dies teilweise durch die Zerstörung der Symbole der Unterdrückung, der Firmenlogos. Ihre Parole ist die Direkte Aktion statt lediglich symbolischer Gesten der Ablehnung. Ihre Rhetorik nimmt gewissermaßen die Gesellschaft vorweg, die der Titel des letzten Buchs von David Korten anspricht: »Die Welt nach der Firma: das Leben nach dem Kapitalismus« [»The Post-Corporate world: Life After Capitalism«].

Daher gingen engagierte Anarchisten in Bezugsgruppen auf die Einkaufshäuser los, auf Nike Town, die Radisson, Sheraton, Starbucks, Gap, FAO Schwarz-Barbie Center, McDonalds - auf die Plätze, an denen Waren ausgestellt und verkauft werden, auf die Orte, wo wir alle an der Konsumkultur teilnehmen (leider liegt das Gelände von Microsoft weit weg auf der anderen Seite des Washington-Sees).

Ich werde mich noch lange daran erinnern, wie ich an einem regnerischen Nachmittag im Dezember in die Innenstadt von Seattle kam, in der Nähe des Pike Place Market, und von der Polizei mit Tränengas eingedeckt und gejagt wurde, kurz nachdem man uns den Riot Act vorgelesen hatten. Es war furchtbar und schrecklich, aber doch erfrischend. Es war ein Augenblick, in dem normale Leute die Straße erobert hatten und sich für Stunden den öffentlichen Raum wieder aneigneten. Normalerweise wird der größte Teil des städtischen Raums von geschäftlichen Interessen oder dem Staat beherrscht. Aber in Seattle war er für ein paar Tage umkämpftes Terrain, res publica (die Sache des Volkes). Dank des Direct Action Networks und der Anarchisten existierte die Demokratie auf der Straße.

Waren die Anarchisten in Seattle ultra-extremistische Abenteurer, die den Erfolg der Anti-WTO-Proteste gefährdeten, oder waren sie Propheten? Es ist schon richtig, daß ihre Aktionen die Rahmenbedingungen der Anti-WTO-Woche in Seattle bestimmten.

Die auf Frieden, Gerechtigkeit und Religion beruhenden Bewegungen haben jahrelang Erklärungen herausgegeben, die soziale Gerechtigkeit fordern und Materialismus und Habsucht verurteilen; Aufrufe gegen die Einsamkeit in der Konsumgesellschaft und für gerechte menschliche Verhältnisse. Dies sind prophetische Ansprüche. Es ließe sich sagen, daß sich die säkularen Anarchisten diese Aufrufe zu Herzen nahmen, als sie die Orte des Konsums und des entfremdeten Lebens im buchstäblichen Sinne angriffen und unmittelbar gegen die Warenkultur vorgingen. Ironischerweise waren es ihre Praxis und ihre Aktionen, die den Konsumismus, den Materialismus, die Höherbewertung von Dingen über den Menschen, den Marktplatz als Gott mit verachtendem Spott überzogen. Es ist aufschlußreich, daß fast alle anderen die Angriffe auf das Eigentum verleugneten, wobei einige sogar den Staat aufforderten, die rebellischen Jugendlichen festzunehmen. Das läßt vermuten, daß es einen Konsens oder eine Vereinbarung über die Heiligkeit von Firmeneigentum gibt (einige Kritiker der Rebellen gingen soweit, eigenhändig die Graffitis von den Geschäften zu entfernen).

Die Anarchisten gingen über den Ruf nach einer Reform des Kapitalismus im Stil von Bill Clinton hinaus. Indem sie als Maximalisten handelten, griffen sie symbolisch nach einer totalen und nicht nur teilweisen Veränderung. Der gegen die Firmen gerichtete Symbolismus malt eine Zukunft aus, die viele von uns wollen: eine ohne weitere Ausbeutung in der südlichen wie der nördlichen Hemisphäre, ohne konzentrierte ökonomische Macht, ohne Geschäftsführer und Bosse, ohne Klassen und Lohnsklaverei und im Einklang mit der Umwelt. Ihre Kritik richtet sich nicht nur gegen die WTO oder die an der Macht befindlichen Regierungen, sondern gegen das gesamte System des Marktes und des Profitmachens.

Für viele von uns war ihr Symbolismus ansprechender als der »legitime« Protest. Ihre Phantasie war großartiger, als irgendeine Firma zu reformieren oder die Verhandlungen einer schlechten Institution zu blockieren. Jung, kühn, mutig, rein, fast schön in ihrer unheilvoll schwarzen Kluft, machte die anarchistische Jugend ihr Spiel, ohne von uns übrigen Hilfe oder auch nur Solidarität zu erbitten (im Gegenteil, sie werden im allgemeinen verurteilt).

Sie weckten wieder Erinnerungen an den Geist der Rebellion von Watts 1965, den Feuern in Detroit 1967, Paris und Chicago 1968, South Central Los Angeles 1992 - und natürlich auch an die weitverbreitete Ablehnung, auf die diese früheren Straßenaktionen gestoßen waren.

Die Anarchisten von Seattle werfen für Pazifisten gewisse Fragen auf, die sich so formulieren lassen: Als die Bürgerrechtsbewegung im Kampf gegen die Segregation das Jim-Crow-Gesetz verletzte, das von vielen Südstaatlern verehrt und heiß geliebt wurde, waren sie da asozial? Als Gegner des Vietnam-Kriegs Blut über Regierungsdokumente wie z.B. Personalakten gossen oder Einberufungsbefehle verbrannten, waren das gewaltsame Aktionen? Wenn Friedensbewegte mit dem Hammer auf den Sprengkopf einer Atomrakete losgehen, handelt es sich dabei um Vandalismus oder Diebstahl? Sollen wir die Zerstörung eines Ladens von Firmen wie Starbucks, Nike, Gap usw. verurteilen? Wenn wir die Festnahme von antiautoritären Jugendlichen fordern, unterstützen wir dann nicht indirekt eine ungerechte internationale Wirtschaftsordnung, die auf Superausbeutung im Ausland und auf Ausbeutung im eigenen Land beruht?

»Methoden und Motivationen«

Die Atmosphäre in den etablierten Friedenskirchen in der Innenstadt von Seattle und die am Treffpunkt des Direct Action Networks am Capitol Hill bildeten einen auffälligen Kontrast: hier die »verantwortlichen, pragmatischen« Stimmen von Menschen mittleren Alters aus der Mittelklasse (Gewerkschafter, Kirchenleute, Friedensbewegte, Umweltschützer usw.), dort anarchische (selbstbestimmte, autonome) Gruppen von Jugendlichen, die sich den WTO-Verhandlungen, dem Privateigentum und den gesellschaftlichen Regeln (auf denen die ungerechte Ordnung beruht) entgegenstellten.

Es gehört zu den Verdiensten des Direct Action Network, daß es mit einer geschickten Taktik den üblichen Gang der Dinge unterbrach, indem es die offiziell anerkannte Etikette routinemäßiger Proteste durchbrach, diese auf Sicherheit ausgelegte Choreographie des arrangierten oder vorher abgestimmten Protests mit Erlaubnis der Herrschenden. Die Aktionen waren erfrischend und belebend, weil sie die normale Art von Demos unterliefen, bei denen oft alles vorher mit dem Polizeichef abgestimmt ist - bis hin zur letzten Busladung von Festgenommenen.

Wie unangemessen die überwiegend pazifistischen Reaktionen auf die Brutalität der Polizei waren, wurde durch eine besonders enttäuschende Szene verdeutlicht, die am Mittwochmorgen, am Tag nach den heftigen Straßenkämpfen, auf der Seneca und der Fünften Straße zu sehen war: eine stille religiöse Prozession, die genau gegenüber der Phalanx der Polizei Halt machte - ergeben, ja unterwürfig. Vielleicht ist das alles, was wir in solchen Momenten tun können, und doch könnten vielleicht diejenigen von uns, die mehr ins System eingebunden sind, die »institutioneller« sind, trotzdem die Aktionen der Jugendlichen unterstützen, die gegen die Grundwerte dieses Systems vorgehen wollen. Mag sein, daß uns unsere organisatorische Verstrickung in Sachen wie Gemeinnützigkeit, Aktienbesitz, Lebensversicherungen, Hypotheken, interne hierarchische Strukturen usw. davon abhält, selber im Namen der Gerechtigkeit aktiv zu werden; aber es muß uns nicht notwendig dazu zwingen, denjenigen unsere Unterstützung zu verweigern, die zum militanteren Kampf bereit sind.

Letztlich gehörten die Demonstrationen weder ausschließlich den Friedensbewegten, den Umweltschützern, den Gewerkschaftern, den Religiösen oder den Anarchisten - niemand hat ein Copyright oder ein Monopol auf die Straße. In Seattle waren eine Menge Organisationen anwesend, aber es gab kaum eine zentrale Dirigierung oder vorprogrammierte Rituale. Da, wo es zu Protesten kam, stand nicht schon vorher fest, wie es ausgehen würde. Public Citizen hatte dazu aufgerufen, nach Seattle zu kommen, um gegen die WTO zu protestieren. Aber was den öffentlichen Raum tatsächlich aufmachte, war die Masse der Leute, die spontan und auf eigene Faust handelten. An einigen Punkten schien es so, als gäbe es überhaupt keine offiziellen Anführer, sondern nur Menschenmengen.

»In letzter Instanz gibt es nur drei Wege, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen: durch Überzeugung der Männer, die im existierenden System die Macht haben; durch einen konspirativen Staatsstreich oder durch die offene Mobilisierung der Menschen gegen die herrschende Ordnung. Der erste Weg ist die Technik der Liberalen, der zweite einer Art von Anarchisten, der Dritte der meisten anderen Radikalen.« (Sidney Lens: Radicalism in America)

Und an die Anarchisten gerichtet: Sind Riots alles, was ihr könnt? Ist das eure einzige Taktik und Methode? Seid ihr ein Zirkuspferd, das nur ein Kunststück drauf hat?

In der Nacht, als die Starbucks in der Stewart Streets eingeschmissen wurden, hörte ich unter tausenden von Argumenten eines heraus. Eine Zimmerfrau, die noch ihren Schutzhelm und ihre Arbeitsstiefel trug, verurteilte das Einschlagen der Geschäfte. »Den Laden da hab vielleicht ich gebaut! Alles in Seattle ist von den ArbeiterInnen gebaut worden!«

Seattle ist so gewerkschaftlich, wie eine Stadt nur sein kann. 1919 traten etwa 60 000 ArbeiterInnen in einen Generalstreik für Arbeiterrechte, der alles zum Erliegen brachte. Es war der Ort großer Kämpfe mit der Firma Boeing. In der Zukunft, falls die Bewegung sich weiterentwickeln und anwachsen kann, wird der mächtige Arm der organisierten Arbeiterbewegung nötig sein, um eine wirkliche Revolution gegen das Firmenkapital zustande zu kriegen - nicht nur die Straßenaktionen einer minderheitlichen Strömung innerhalb einer minderheitlichen Gegenkultur. Die Frage ist, wie dieses Verhältnis verändert werden kann.

Könnt ihr Anarchisten des spanischen Typs sein, die Nationale Konföderation der Arbeiter von Katalonien, oder die Industrial Workers of the World (IWW) von Amerika, die ihre Basis unter den Lohnarbeitern hatten? (»Den Arbeitern das, was sie schaffen - Schafft die Lohnsklaverei ab!«, diese IWW-Parole war auf der großen Demonstration zu sehen.) Ihr müßt Eure Aktionen besser erklären, und warum ihr so handelt.

Die Herausforderung für die Anarchisten (und für uns alle) ist es, Euer Anliegen den normalen Leuten verständlich zu machen. Wenn ihr nicht den Dialog mit anderen führt und keinen oder nur geringen Kontakt zu normalen ArbeiterInnen habt, dann werdet ihr nur hilflos auf die Mauern unseres gemeinsamen Gefängnisses einschlagen.

Und schließlich: die Rasse spielt eine Rolle. Die Kräfte des Direct Action Networks und der Anarchisten waren fast alle weiß, wie die übrigen Demonstranten in Seattle. Für mich ist klar, daß es Tote gegeben hätte, wenn die Beteiligten an der Schlacht in Seattle Tortilla-, Reis- oder Bohnenesser oder afrikanischer Abstammung gewesen wären. Es ist gibt eine Fülle von historischen Beispielen dafür, wie tödlich es für farbige Menschen ist, wenn sie in großen Gruppen auf eigene Faust handeln. Weiße Hautfarbe ist immer noch ein Privileg.

Trotzdem war es für mich als farbigem Mann aus der Arbeiterklasse eine Ehre, in diesen verregneten Tagen in Seattle an der Seite von tapferen idealistischen Rebellen zu stehen, die die Bedeutung dieser Versammlung internationaler Staatsmänner begriffen hatten, bei der es um die ökonomische Zukunft für Dich und mich ging. Die Schlacht von Seattle war eine großartige Weise, um dieses Jahr und dieses Jahrhundert zu beenden, dieses Jahrtausend abzuschließen: sie verkörpert eine klare Hoffnung für die Zukunft.


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