Wildcat-Zirkular Nr. 55 - März 2000 - S. 12-17 [z55goldn.htm]


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Seattle: Der erste Riot gegen die »Globalisierung« in den USA?

Loren Goldner, 13. Januar 2000

Zwischen 1970 und 1973 verschwand in den USA die Massenpolitik von den Straßen. In der Rückschau ist klar, daß die Zeit von 1964 bis 1970 keine »vorrevolutionäre Situation« war. Aber allen, die diese Zeit als Aktivisten erlebt haben, muß nachgesehen werden, daß sie das dachten. Einige aus den Kreisen der Herrschenden teilten diese Fehleinschätzung. Die Aufstände der Schwarzen in den Städten von 1964 bis 1968, die Rebellion der Arbeiterklasse mit ihren wilden Streiks (oft angeführt von schwarzen Arbeitern) von 1966 bis 1973, der Zusammenbruch des US-amerikanischen Militärs in Indochina, die Revolte der »Studenten« und der »Jugendlichen« und die Entwicklung der militanten Frauen-, Schwulen- und Ökologie-Bewegungen waren alle Anzeichen für ein tiefgreifendes gesellschaftliches Erdbeben. Selbst dreißig Jahre nach ihrem Ende hängen die »Sechziger Jahre« immer noch über der amerikanischen Gesellschaft wie der Rauch nach einer Feuerbrunst - sowohl für die Linken wie für die Rechten.

Die »Ölkrise« und die Weltwirtschaftskrise von 1973 bis 1975 beendeten diese Ära, und seitdem ist die revolutionäre Bewegung in den USA und überall auf der Welt zurückgegangen und umgruppiert worden. Wenn es den Anschein hat, daß diese Ebbe in den USA umfassender war als in Europa, so liegt dies nur daran, daß das US-amerikanische Kapital die Speerspitze bei der Demontage des alten keynesianischen »Gesellschaftsvertrags« darstellt, während sich Europa noch auf halbem Weg dahin befindet. Das Abebben der offenen Kämpfe in den USA, das nur kurzzeitig durch die Aktionen gegen den Golfkrieg 1990/91 oder die Riots in Los Angeles 1992 unterbrochen, aber nicht umgekehrt wurde, ist der Ausdruck einer ungeheuren »Neuzusammensetzung« der Klassenlinien im Rahmen einer weltweiten Umstrukturierung des Kapitals. Viele der früher erfolgreichen Kampfformen, vor allem die wilden Streiks, sind nahezu verschwunden. Die Bewegungen der sechziger Jahre waren gefühlsmäßig internationalistisch, aber in der Praxis kamen sie kaum über den nationalen Rahmen hinaus. Auch wenn man sich spitzfindig über die Realität der »Globalisierung« herumstreiten kann, so ist doch seit langer Zeit klar (selbst für bekennende Reformisten), daß eine sinnvolle Strategie von Anfang an international - oder besser »transnational« - sein muß, um irgendetwas nennenswertes zu erreichen. Dies gilt selbst für die tagtäglichen Konflikte. Der Spruch »Denke global, handle lokal« mag zwar wie eine Lösung klingen, aber seine praktischen Konsequenzen laufen normalerweise darauf hinaus, die Liegestühle auf dem Deck der Titanic neu anzuordnen.

In den 20er Jahren mögen einige amerikanische und chinesische ArbeiterInnen ein radikaleres Bewußtsein als heute gehabt haben. Vielleicht waren sie rhetorisch sogar internationalistischer als heute. Aber die heute existierenden Bedingungen zwingen sie ganz praktisch dazu, den Internationalismus auf eine Art und Weise konkret werden zu lassen, die in den 20er Jahren undenkbar war. Die Notwendigkeit einer globalen Strategie ist vielen seit langem klar, aber es war extrem schwierig, sie praktisch umzusetzen. Hiesige Reformisten wie das Institute for Policy Studies arbeiten mit Unterstützung von ein paar Kapitalisten hart daran, so etwas wie einen »globalen Keynesianismus« und einen »globalen Sozialstaat« zu entwickeln. Sie müssen nur noch das kleine Problem lösen, daß es da einen »abgetrennten bewaffneten Apparat« gibt, den souveränen Nationalstaat, der nicht gerade verschwunden ist. Währenddessen hat die »zentristische« Clinton-Regierung seit 1993 die NAFTA, die WTO, das ASEAN-Abkommen und den Abbau des Sozialstaats durchgesetzt, eine Serie von Angriffen auf die arbeitenden Menschen in Amerika, die auf den Widerstand der Straße gestoßen wären, wenn die »Rechten« sie durchgeführt hätten. Damit ist all das herbeigeführt worden, was die Globalisierer immer verlangt hatten.

Die ArbeiterInnen in den USA haben auf diese Situation in widersprüchlicher Weise reagiert. Lange Zeit gab es starke protektionistische Meinungen unter den amerikanischen ArbeiterInnen: »Kauft amerikanisch«, »Rettet amerikanische Jobs«, »Park Deinen Toyota in Tokyo«. Die Unterstützung für die Gesetzgebung gegen Einwanderer, gelegentliche Gewalt gegen Asiaten, die abscheuliche Propaganda der Teamsters [Transportarbeitergewerkschaft] gegen Mexikaner, die Anti-Dumping-Kampagne der Stahlarbeitergewerkschaft oder die Wählerbasis in der Arbeiterklasse für Buchanans »Festung Amerika« - das alles sind häßliche Beispiele dafür. Letztlich liegt all dem die Haltung zugrunde: entlaßt jemand anderen, oder: stell niemand anderen ein, rette meinen Job, ganz zu schweigen von einer gehörigen Dosis Rassismus gegen Asiaten und Latinos. Viele ArbeiterInnen haben sich zum Mitgefühl mit ihren, durch Importe unter Druck gesetzten Unternehmern hinreißen lassen und daher enorme Zugeständnisse hingenommen. Auf der anderen Seite haben traditionelle Gewerkschaften wie die UAW (Automobilarbeitergewerkschaft) oder aufrechte reformistische Oppositionsgruppen wie die Labor Notes ernsthafte Versuche unternommen (meistens entlang industrieller Sektoren), um Verbindungen zu ArbeiterInnen in Mexiko, Asien oder Europa aufzubauen, aber eng begrenzt auf den Rahmen einer Gewerkschaft und oft auch nur einer Firma. Es gab einige koordinierte Aktionen im Automobilsektor zwischen den USA und Mexiko oder die Bridgestone-Firestone-Kampagne von ArbeiterInnen in den USA und in Japan. Aber alle diese Aktionen standen ausschließlich unter der Kontrolle einiger Fraktionen von Gewerkschaftsbürokraten - ob mit oder ohne Amt -, und sind nur Ausdruck der Ausweitung eines branchenbezogenen Gewerkschaftsreformismus im Weltmaßstab.

Es gibt heute in den USA, auch bei einigen ArbeiterInnen (was in der Kampagne gegen die NAFTA oder gegen die »fast track«-Gesetzgebung [1] von 1995 sichtbar wurde), erste Anzeichen für die Suche nach einer anderen Art von Internationalismus als demjenigen, der entweder von der globalistischen herrschenden Klasse oder den zögerlichen Aktionen der offiziellen Gewerkschafter geboten wird, die den Rahmen des Kapitalismus unhinterfragt akzeptieren. Wenn die Weltwirtschaft zu einem »Negativsummenspiel« für die Arbeiter geworden ist, zu einem »Wettlauf nach unten« - und das scheint der Fall zu sein -, dann würde eine »andere Art von Internationalismus« die Schaffung eines »Positivsummenspiels« bedeuten, bei dem die ArbeiterInnen ganz konkret als Klasse für sich für ihre eigenen Interessen kämpfen können, auf eine Art, die implizit oder sogar explizit die praktische Einheit der arbeitenden Menschen in den USA und in China, in Japan und in Bangladesh, in Italien und Albanien ausdrückt. Weil die Gesellschaft genauso wie die Natur das Vakuum nicht ertragen kann, würden beim Fehlen einer solchen Perspektive die Protektionisten und / oder die antiprotektionistischen internationalistischen Reformisten hineinströmen und dazu beitragen, die Karten in einer gegen die Arbeiterklasse gerichteten Weise neu zu mischen.

Von einem revolutionären Standpunkt aus ist es einfach, die Ereignisse in Seattle mit Skepsis zu betrachten. Die große Masse der amerikanischen TeilnehmerInnen an den Protesten waren weiß, sowohl bei den Gewerkschaftsblocks wie bei den Gruppen der Direkten Aktion - und das in einem Land, in dem heute farbige Menschen dreißig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Parole »Fairer Handel statt Freihandel« kann zu Recht als eine nur dürftig getarnte Variante von Protektionismus betrachtet werden - und es gibt viele, denen es bei dieser Parole nur darum geht. Die vorherrschende Betroffenheit der Demonstranten wurde von der ganz realen Aussicht bestimmt, daß kleine Gruppen von Vertretern transnationaler Konzerne sich über nationale Gesetze und Vereinbarungen zu Arbeit und Umwelt hinwegsetzen und sie über den Haufen werfen könnten. Aber damit war für einige sofort die Idee verbunden, daß auch chinesische Bürokraten die Macht dazu hätten. Stahlarbeiter kippten ausländischen Stahl in den Hafen und andere veranstalteten eine »Seattle Tea Party« gegen ausländische Importe, wobei China das Hauptangriffsziel darstellte. Kaum jemand fragte mit derselben Lautstärke nach den negativen Auswirkungen des WTO-Beitritts auf die chinesischen ArbeiterInnen, die aus naheliegenden Gründen in Seattle nicht dabeisein konnten.

Im ganzen Verlauf behielt die Gewerkschaftsbürokratie die volle Kontrolle über die teilnehmenden ArbeiterInnen (es war ihr fester und erfolgreicher Plan, nichts außer einer friedlichen, disziplinierten und harmlosen Demonstration durchzuführen, unabhängig von, wenn nicht sogar gleichgültig gegenüber den »Verrückten« von den Direkte-Aktion-Gruppen). Wenn überhaupt so waren es nur wenige ArbeiterInnen, die diese Kontrolle infrage stellten. Die Feindseligkeit der von Sweeny angeführten AFL-CIO gegenüber der WTO beruhte auf dem Gefühl des »Verrats« bei der vor kurzem abgeschlossenen Vereinbarung zwischen den USA und China über die Aufnahme Chinas in die WTO. Das Scheitern von Seattle bewahrte die Demokraten davor, sich in einem Wahljahr hart für den Eintritt von China einsetzen zu müssen, während sich sowohl die Stahlarbeitergewerkschaft wie die Teamsters klar für die protektionistische Option ausgesprochen haben. Die freundlichen Worte von Clinton über das Recht zu demonstrieren müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden, vor allem nachdem bekannt geworden ist, daß einflußreiche Kräfte an der Spitze eine harte Repression verlangten, als die Polizei am ersten Tag die Kontrolle verloren hatte, und daß Aufklärungseinheiten der US-Armee in der Verkleidung von Demonstranten überall zugegen waren, mit versteckten Kameras im Kragen und dem ganzen neuen Gerät des technokratischen Überwachungsstaats, den die »New Economy« des Computerzeitalters zu bieten hat. Im Gebiet von Boston, wo ich lebe, sind viele »Nach-Seattle«-Treffen von einer noch offener protektionistischen Haltung geprägt, mit so widerlichen Parolen wie: »Kein einziger amerikanischer Job mehr nach Mexiko«. Ich denke nicht, daß dies eine Ausnahme ist.

Aber trotz all dieser Momente eines »ungleichen«, beschränkten oder einfach reaktionären (»buchananistischen«) Bewußtseins, die die Aktionen von Seattle enthalten haben mögen, müssen wir Seattle als einen Durchbruch charakterisieren. Die Tatsache, daß die Behörden ganz offensichtlich nicht auf die Ereignisse vorbereitet waren, schuf eine einmalige Situation, die sich nicht wiederholen läßt (es wird nie wieder irgendwo eine internationale Handelskonferenz mit einer so geringen Vorbereitung auf massive Repression geben). Dies machte genau das Moment des Unbekannten und Unvorhergesehenen möglich, das für Situationen kennzeichnend ist, in denen für einen Moment jegliche manipulative Kontrolle - ob durch den Staat oder die Gewerkschaften oder die »Linke« - versagt, in denen für einen Moment die Macht »auf der Straße« liegt. Seattle hat innerhalb von 24 Stunden die über zwanzigjährige Einmütigkeit in der tolerierten »öffentlichen Diskussion« über internationale Wirtschaftsfragen zerrissen. Millionen Menschen, die noch nie von der WTO gehört hatten, erfuhren, was sie ist und was sie tut - auf eine gründlichere Weise als durch jahrzehntelange friedliche Opposition und Geschnatter der Forschungsinstitute. Selbst vom Protektionismus überzeugte amerikanische ArbeiterInnen wurden auf den Straßen zusammengeworfen mit Aktivisten, darunter auch Arbeiteraktivisten, aus hundert Ländern. Sie wurden auf eine Art und Weise mit dem menschlichen Gesicht der Produzenten von »ausländischen Importen« konfrontiert, wie es nie zuvor in einem solchen Maße geschehen war, erst recht nicht in einer so offenen Situation (im Gegensatz zu langweiligen internationalen Gewerkschaftskonferenzen von Delegationen der Bürokratie). Teamsters, barbusige lesbische Amazonenkriegerinnen und Baum-Retter wurden zusammengebracht und sprachen miteinander, was es in diesem Umfang in den USA bisher nicht gegeben hatte. Die Ereignisse in Seattle schufen ein konkretes Angriffsziel für den Widerstand gegen anscheinend abstrakte Mächte, die ernsthafte Aktionen auf einem angemessenen Level bisher immer so schwierig gemacht hatten. Aus den Berichten von Leuten, die dort waren, und aus dem Material, das ich bekommen konnte, spricht ein authentischer Hauch einer spontanen Bewußtwerdung über die Macht des Kapitals und des Staats in der Hitze der Konfrontation, wie es sie seit den sechziger Jahren in den USA nicht mehr gegeben hat; ein authentischer Beleg durch die Massen in Bewegung für die Wahrheit der Feuerbachthesen, d.h. dafür, daß der klassische Materialismus »die sinnliche Aktivität nicht als gegenständlich begreift«. Die allermeisten Demonstranten in Seattle und besonders diejenigen aus den Gruppen der Direkten Aktion waren Ende der sechziger Jahre erst Kinder oder noch gar nicht geboren. Nie zuvor hatten sie irgendwo auf diese Weise ihre eigene Macht auf der Straße erfahren. Für die wenigen Aktivisten aus den 60er Jahren, die sich noch immer als Revolutionäre begreifen, aber davon abgestumpft sind, daß sie das alles schon mal durchgemacht haben, mag es banal klingen: zum ersten Mal Schlagstock und Tränengas abzubekommen, zum ersten Mal zu sehen, wie Polizisten auf Leute in der Arrestzelle eindreschen, eine erste konkrete Erfahrung davon, was die bürgerlichen »Rechte« bedeuten, wenn der Staat sie in einer Konfrontation mit Füßen tritt, das ist eine unumkehrbare Überschreitung einer Grenzlinie, eine unersetzbare Erfahrung von kollektiver Macht und von der Rolle derjenigen, deren Aufgabe es ist, sie zu unterdrücken. Die Menschen, die das durchgemacht haben, egal welches Bewußtsein und welche Absichten sie nach Seattle gebracht haben, können nie mehr dieselben sein.

Dieses kurze und flüchtige Gefühl, daß »es nie mehr so sein wird wie vorher«, das manche in Seattle und danach hatten, wird schnell wieder verschwinden (so wie nach den Riots in Los Angeles oder nach der Streikwelle in Frankreich im Dezember 1995), wenn es nicht eine Strategie für einen wirklichen Internationalismus gibt, einen Internationalismus, in dem sich die Kritik der Sklavenarbeit in China oder der Kinderarbeit in Indien mit einer praktischen Kritik z.B. der rasanten Ausbreitung von Schwitzbuden- und Gefängnisarbeit in den USA verbindet. Eine Perspektive, die die am meisten unterdrückten Schichten der Arbeiterklasse und deren Verbündeten miteinschließt, bildet immer einen Schutz vor der Borniertheit, auch der militanten Borniertheit, die eine reformistische Neumischung der kapitalistischen Karten möglich macht, so wie es in den 30er und 40er Jahren der Fall war. Seitdem »1973« die Zeit der wirksamen wilden Streiks auf der Ebene einer Fabrik beendet hat, tastet sich die Arbeiterbewegung in den USA und in vielen anderen Ländern an ein neues konkretes Terrain heran, auf dem es etwas zu erkämpfen gibt, jenseits der endlosen verlorenen lokalen Kämpfe gegen Fabrikschließungen und Entlassungen oder regelrecht reaktionärer Kämpfe, deren Forderungen darauf hinauslaufen, das die Leute »woanders« entlassen werden sollen. Mit ihrer enorm gesteigerten globalen Mobilität sind die Kapitalisten der Weltarbeiterklasse zuvorgekommen, die über 25 Jahre verlorener und defensiver Kämpfe noch nicht überwunden hat. Wenn Seattle tatsächlich ein positiver Wendepunkt sein sollte, an dem sich die Geschichte endlich wendet, dann kann dies nur darin bestehen, daß dieses Terrain gefestigt und enorm ausgeweitet wird.


Fußnoten:

[1] 1995 wurde im US-Kongreß der Entwurf eines Gesetzes debattiert, das den Präsidenten mit weiteren Vollmachten beim Abschluß von internationalen Abkommen ausgestattet hätte. So hätte mit diesem Gesetz z.B. der Präsident ohne das Votum des Kongresses NAFTA beschließen können. Um dieses Gesetz zu verhindern, übten die Gewerkschaften Druck auf die Abgeordneten der Demokraten aus, so daß es schließlich vom Kongreß abgelehnt wurde. Dies war das erste Mal, daß es in den USA zu einer mehrheitlichen Opposition gegen die Ziele der Globalisierung kam. (L.G.).


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