Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 - Mai 2000 - S. 75-83 [z56brenn.htm]


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Addressing the World Economy:

Two Steps Back

Ben Fine, Costas Lapavitsas, Dimitris Milonakis: Zur Debatte der Weltwirtschaft: Zwei Schritte zurück), aus: Capital & Class Nr. 67, Frühling 1999 S. 47-90

Im folgenden wird Brenner hauptsächlich an vier Punkten kritisiert:

  1. sein Konzept der innerkapitalistischen Konkurrenz steht eher in der Tradition von Smith als der von Marx;
  2. er übersieht die Bedeutung des Kredits;
  3. er berücksichtigt die Internationalisierung von Produktion und Finanzströmen nicht;
  4. er ist nicht werttheoretisch fundiert.

1. Einführung

Als bekannt wurde, daß New Left Review ein Sonderheft rausbringen würde, in dem Robert Brenner zur aktuellen globalen Ökonomie schreibt, waren die Erwartungen groß. Nach seinem wichtigen Beitrag zur Debatte über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus erwarteten viele, daß er ein analytisches Vakuum füllen könne, das in der politischen Ökonomie seit über 20 Jahren herrscht und das weder von den Regulationisten noch von den Post-Fordisten hatte gefüllt werden können.

Zusammengefaßt argumentiert Brenner folgendermaßen: Überkapazitäten und Überproduktion haben zu einem Rückgang der Profitraten geführt. Die zurückgehende Profitabilität resultierte in einem reduzierten Investitionswachstum in Produktionsanlagen. Als Folge daraus sind seit den 70er Jahren Produktivitätswachstum und Lohnsteigerungen zurückgegangen. Damit diese Argumentation überhaupt trägt, muß Brenner eine Erklärung dafür finden, warum die kapitalistische Umstrukturierung in einer so langen Periode die Überkapazitäten nicht beseitigen konnte. Er füllt diese Lücke im wesentlichen mit dem Argument des »sunk capital«: Unternehmer, die hohe Investitionen in fixes Kapital getätigt haben, können potentielle Konkurrenten dadurch abblocken, daß sie sich mit einer geringeren Profitrate zufrieden geben - damit bleiben sie im Geschäft und die Umstrukturierung wird verhindert.

Alles in allem ist Brenners Beitrag sehr informativ, aber theoretisch sehr enttäuschend. Er nimmt die Debatte in Britannien Anfang der 70er Jahre zum Ausgangspunkt und er hat sehr viel mit dem 'Profit Squeeze'-Ansatz gemein, obwohl er sich explizit von dessen zentraler Aussage distanziert, die Ursache der Krise seien die zu hohen Löhne.

2. Affinitäten zu den britischen Debatten in den 70ern über Profitabilität und Krise

Brenner geht nicht über die stagnierende Debatte hinaus, im Gegenteil: er führt uns in die frühen 70er Jahre zurück, als die Linke das Ende des Nachkriegsbooms zu verstehen versuchte. Damals herrschte der profit squeeze-Ansatz von Glyn und seinen Mitstreitern vor: Lohndruck durch die Arbeiter in Verbindung mit der internationalen Konkurrenz auf Warenmärkten führten zu einer fallenden Profitabilität. Dies wurde durch eine Keynesianische Nachfragetheorie vervollständigt, wonach das Nationaleinkommen sich in Profite und Löhne aufteilt (und Regierungseinnahmen und wie sie ausgegeben werden), und nach der zu niedrige Löhne zu einer Realisierungskrise führen. Tatsächlich hat man es hier mit einem linken Keynesianismus zu tun.

Genauso wie die 'Profit Squeeze'-Theoretiker geht Brenner in seinem neuen Buch von Spekulationen darüber aus, was hinter der fallenden Profitrate steckt. Von da aus kommt er zur Frage, warum die Produktivität nicht schnell genug steigt. Der 'Profit Squeeze'-Ansatz ging strukturell genau so heran, er gab lediglich andere Antworten.

Für beide Ansätze gibt es keine Vermittlung zwischen dem Produktionssystem und dem Marktsystem, oder wie Marx es ausdrückte, zwischen dem produktiven und dem Warenkapital. Und wie der 'Profit Squeeze'-Ansatz so ist auch Brenner Keynesianer, insofern er die ökonomischen Aktivitäten durch Regierungspolitik vorgegeben sieht, und überhaupt den Nationalstaat als Hauptbezugspunkt hat.

3. Horizontale Erklärung der zurückgehenden Profitabilität: Der Geist von Adam Smith

Bei genauerem Hinsehen erkennt man, daß Brenners Theorie der sinkenden Profitabilität eine besondere Art Unterkonsumtionstheorie ist, unterfüttert durch eine spezielle Erklärung der unzureichenden Investitionen. Im wesentlichen erklärt Brenner die Krise damit, daß einzelne Unternehmer vor Investitionen zurückschrecken, weil sie fürchten, keine Absatzmärkte zu finden. Dieses Verhalten ist selbstverstärkend, weil es die potentiellen Märkte für Investitionsgüter weiter verengt.

Brenners Anlehnung an die Smith'sche Theorie der sinkenden Profitabilität ist bemerkenswert. Nach Smith hängt die Entwicklung des Kapitalismus von der Kombination aus Markterweiterung und in der zunehmenden Arbeitsteilung liegenden Produktivitätssteigerung ab. Brenner adaptiert (und verschlechtert) diese Theorie, indem er sie ausschließlich auf die zunehmende Arbeitsteilung bei neuem fixen Kapital anwendet. Zusammengefaßt vertritt Brenner eine Theorie des stagnierenden Monopolkapitalismus mit starken Smith'schen Beimischungen. Dabei ist wohl bekannt, daß Smiths Theorie den großen Fehler hat, daß er die Wahrheit eines Einzelunternehmers mit der Gesamtökonomie gleichsetzt. Die Theorie der stagnierenden Märkte stimmt immer nur für einen Unternehmer oder eine Branche, aber nie für die Gesamtökonomie; deshalb kann Brenners Theorie nichts erklären, sondern nur beschreiben, wie es gekommen ist.

Brenner macht viel Aufhebens um fallende Profitraten, erklärt aber nicht, worin deren Bedeutung liegen soll. Niedrige Profite sind immer noch besser als gar keine, also warum sollten die Kapitalisten nicht investieren? Die Beziehung zwischen Profitabilität, produktiven Investitionen und Marktzugang ist komplexer, als Brenner das darstellt. Überproduktion ist nicht viel mehr als eine Tautologie, wenn sie langsameres Wachstum mit dem Zugang zu nicht ausreichenden Märkten erklären soll. Andererseits kann eine intensivierte Konkurrenz in der Gesamtökonomie lediglich ein Mechanismus zur tendenziellen Ausgleichung der Profitrate sein - etwas was für Ricardo und Marx im Gegensatz zu Smith klar war. Konkurrenz kann die Profitrate nicht senken - was die einen Kapitalisten über niedrigere Marktpreise verlieren, gewinnen die anderen.

4. Individualismus und Erklärungen der kapitalistischen Krise

Es ist also klar geworden, daß sich Brenners Theorie auf das Verhalten individueller Kapitalisten stützt: investieren sie angesichts drohender Konkurrenz oder nicht? Der ökonomische Niedergang der letzten 25 Jahre wird somit zum Ergebnis des ungeplanten und unkoordinierten Verhaltens individueller Unternehmer. Brenner hat sich selbst in die Zwickmühle manövriert: Wenn man die Frage so stellt wie er, nämlich: Wie kann die Profitabilität bei steigender Produktivität fallen, obwohl die Löhne mit dem Produktivitätszuwachs nicht Schritt halten?, dann liegt die Antwort darin, daß das eine Konsequenz von individuellen Entscheidungen der Kapitalisten für niedrigere Profitraten ist. Brenners Theorie bringt keine weitere Erkenntnis über die Welt, als sie ein individueller Kapitalist hat. Ohne jeden werttheoretischen Bezug wird die Krise als Ausdruck davon gesehen, daß die Investitionen der Einzelkapitalisten nicht über die Märkte koordiniert werden - wobei er den Markt als reinen Nachfragemechanismus sieht, ohne die marktähnlichen und nicht-marktähnlichen Institutionen zu berücksichtigen, über die die Ökonomie in der Praxis funktioniert.

Die Begriffe, in denen Brenner seine Theorie faßt, zeigen seine Nähe zu den neuen endogenen Wachstumstheorien der mainstream-Ökonomen. Aber er verpaßt den einzigen Punkt, an dem diese etwas erfaßt haben: sie unterscheiden nicht mehr so einfältig zwischen Aufschwung und Abschwung, wie er es tut.

5. Zurückgehende Profitabilität, 'Krise' und die Rolle des Kredits

Die Autoren gehen davon aus, daß es den direkten Zusammenhang zwischen abstrakter Theorie (fallende Profitrate) und empirischen Ergebnissen, so wie Brenner ihn präsentiert, nicht gibt. Sie meinen damit hauptsächlich die Vermittlung über den Kredit. Es sei einleuchtend, daß jede Krisentheorie die historische Besonderheit der kapitalistischen Krisen und der Akkumulationsschwierigkeiten erfassen muß. Denn Krisen sind ein konkreter Ausdruck des tieferen, abstrakteren und widersprüchlichen Charakters der kapitalistischen ökonomischen Verhältnisse: Beschaffenheit der Schlüsselindustrien (Baumwollgüter, Stahl, Auto, Erdöl usw.), die Kreditketten zwischen den Industrien, die institutionelle Struktur des Kreditsystems, die Struktur des internationalen Handels, die internationalen Zahlungsmittel usw. Gerade durch die gegenseitige Durchdringung dieser ökonomischen Prozesse, werden vertragliche, gewohnheitsmäßige und historische Verbindungen und Verpflichtungen geschaffen, was der Krise ihren scharfen und mächtigen Charakter verleiht. Aus demselben Grund ist auch klar, daß sich die Krisen im Lauf der kapitalistischen Entwicklung verändern.

So gesehen ist Brenners theoretisches Modell zu abstrakt und nicht abstrakt genug. Zu abstrakt, weil Brenner nur einen Idealtypus der kapitalistischen Krise behandelt. Nicht abstrakt genug, weil er die scharfen Umschwünge in der Konjunktur nicht erfaßt, die allen kapitalistischen Krisen gemeinsam sind. Fallende Profitraten können allein keine kapitalistische Krise auslösen, es sei denn, die Rate fiele auf Null. Brenner übersieht die Rolle des Kredits bei der Umstrukturierung des fixen Kapitals und als Stütze der kapitalistischen Akkumulation im allgemeinen, diese ist aber für das Verständnis der Krise zentral. Eine Krise tritt erst dann ein, wenn sich die Zinssätze und die Profitrate in entgegengesetzter Richtung bewegen, »weil dadurch potentielle Profite nicht mehr so leicht als spekulatives Kapital funktionieren können und es Kapitalisten schwerer wird, ihren laufenden Verpflichtungen nachzukommen.«

»Der deutlichste Ausdruck der Schärfe einer Krise ist die Flucht der Kapitalisten ins Geld - das was zur Zeit modernerweise 'credit crunch' genannt wird. Dadurch kann es zu mehr Bankrotten kommen und es werden auch Unternehmen betroffen, die rundum profitabel arbeiten.« Daraus ergibt sich auch, daß eine Krise typischerweise nicht jahrelang dauert, sondern kurz und heftig ist. Das Szenario 'niedrige Profitraten und Rezession' kann genausogut zu massiven Investitionen in fixes Kapital führen. Brenners Beschreibung hat also keinen Erklärungswert, weil er die Rolle des Kredits außen vor läßt.

Aber tatsächlich beschreibt ja Brenner etwas Richtiges: es findet keine ausreichende Akkumulation statt. Deshalb sollten eher seine Überlegungen zum langen Abschwung betrachtet werden. Aber auch in dieser Beziehung flüchtet Brenner auf die rein abstrakte Ebene: auch lange historische Abschwünge lassen sich präzise fassen (Eisenbahnboom, Massenproduktion von Konsumgütern, Informationstechnologie usw.). Und auch hier spielt das Kreditsystem eine je spezifische Rolle, eine Vermittlungsrolle, die sowohl vom Aktienmarkt wie vom Bankensystem übernommen werden kann - was aber durchaus einen großen Unterschied macht und von Brenner analysiert werden müßte, gerade weil er die USA, Japan und die BRD miteinander vergleicht. Das japanische Bankensystem ist wichtiger, um Japans wirtschaftliche Erfolge zu erklären als die von Brenner immer wieder bemühten Währungsrelationen.

6. Internationalisierung der Produktion und des Finanzkapitals

Mit seinem Ansatz von Nationen, die sich um Märkte streiten, fällt Brenner noch weit hinter die theoretische Debatte in den 70er Jahren zurück, die Internationalisierung der Produktion nimmt er gar nicht wahr. Möglicherweise ließe sich seine Vernachlässigung der produktiven Internationalisierung damit erklären, daß diese sich im Verlauf des Abschwungs stark abgeschwächt hat. Dann ist es trotzdem seltsam, daß er mit seinem auf den Handel fixierten Ansatz nicht wahrnimmt, daß inzwischen ein Drittel des Welthandels Intrafirmenhandel ist.

Brenner übersieht mindestens zwei wichtige Entwicklungen im internationalen Finanzsystem: Seit dem Zusammenbruch von Bretton Woods 1971 hat es eine weltweite Liberalisierung der Finanzmärkte gegeben. Zweitens hat die Entwicklung der Informationstechnologie seit den späten 70er Jahren zu einer »regelrechten Revolution« geführt: im Zusammenhang mit den Verbesserungen in der Telekommunikationstechnologie haben sich die Kosten weltweiter Finanzoperationen drastisch verringert, die Unterscheidungen zwischen Banken, Sparkassen, Kreditgenossenschaften usw. haben sich immer weiter aufgeweicht und es entstanden explosionsartig viele neue Finanzinstrumente. Diese Revolution der Informationstechnologie hat die Effizienz der Finanzinstitutionen gewaltig verbessert. Die Produktivität und die Akkumulation in den industriellen Kernbereichen, die hauptsächlich auf der Intensivierung der Arbeit und der Erhöhung der Ausbeutungsrate basiert, hat nur marginal davon profitiert.

Diese scharfe Verschiebung in den Dynamiken der industriellen und der finanziellen Akkumulation markiert eine neue Entwicklung in der Geschichte des Kapitalismus. Dazu kommt, daß die Ausweitung der Finanzmassen gar nicht mehr an solche Zwecke gekoppelt ist wie Bereitstellung von Geld für produktive Investitionen, sondern im Gegenteil: der Großteil dieser Finanzmittel kommt aus den Unternehmen. Hätte Brenner die Bedeutung der Internationalisierung der Produktion und die Rolle der Finanzströme erkannt, hätte er vielleicht auch der Rolle der Finanzsysteme und ihrer Interaktion mit der nationalen Industrie- und Finanzpolitik mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Ohne eine Betrachtung dieser relativ unabhängigen Finanzinstitutionen, die zum großen Teil auf Kosten der Industrie funktionieren, ist der lange Abschwung nach Sicht der Autoren nicht zu verstehen.

7. Robert Brenner's intellektueller Werdegang: Ein kurzer Exkurs

Brenners Entwicklung ist davon charakterisiert, daß er sich immer auf die Gegenseite der vorherrschenden Orthodoxie in der Debatte gestellt hat (in Opposition zu neo-Smithianischen und neo-Malthusianischen Theorien des Übergangs, zu technologisch-deterministischen Interpretationen der Geschichte sowie zu sich auf die Profitklemme stützenden Erklärungen für den langanhaltenden Abschwung). Brenners Weg von seiner auf den Klassenkampf gestützten Erklärung des Übergangs zum Kapitalismus zu seiner auf dem Wettbewerb zwischen Einzelkapitalen beruhenden Erklärung epochaler Verschiebungen in der Langzeitkonjunktur des Kapitalismus ist erstaunlich. Aber es gibt methodologische Lücken und Widersprüche in seiner früheren Arbeit sowie andere, spätere Einflüsse, die diesen gewaltigen Wandel eher erklärbar machen.

In der Diskussion um den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus stellte Brenner das Klassenverhältnis in den Mittelpunkt. Von diesem Standpunkt aus kritisierte er sowohl demographisch/neo-Malthusianische Ansätze, die in demographischen Verschiebungen die Ursache für die Entwicklung des Kapitalismus sehen, als auch das, was er damals den neo-Smithianischen Marxismus nannte, der den Kapitalismus aus der Entwicklung des Marktes erklärt. Durch seine Betonung der Eigentumsverhältnisse und der Formen des Klassenkonflikts, die sie verursachen, konnte Brenner erklären, warum die Entwicklung in verschiedenen Teilen Europas (England, Frankreich und Osteuropa) zu Beginn des modernen Zeitalters in unterschiedliche Richtungen ging.

Brenner wies dem Neo-Smithianismus nach, daß er voraussetzt, was bewiesen werden soll: kapitalistische Eigentumsverhältnisse. Wenn man den Kapitalismus mit der Produktion für den Tausch gleichsetzt, stellt man Ursache und Wirkung auf den Kopf: Die kapitalistische Akkumulation wird als Resultat der Imperative des Tauschs betrachtet, die kapitalistischen Klassenverhältnis als Ergebnis der marktbestimmten Entwicklung der Produktivkräfte. Brenner sieht diese Herangehensweise in der Tradition Adam Smiths, der im Wirtschaftswachstum die Folge von Spezialisierung und Produktion für den Tausch, verbunden mit der Entwicklung des Handels, sah. Der Tausch wiederum, so Smith, hat seine Wurzeln in der »natürlichen Neigung des Menschen zu tauschen, zu handeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln«. Brenner wies Smiths Methode, die auf individuellem Eigeninteresse und Wettbewerb auf dem Markt beruht, zurück und folgte Marx, indem er die Dynamik des Kapitalismus auf die Errichtung des kapitalistischen Klassenverhältnisses zurückführte, das den Produzenten eine spezifische Logik der Kostensenkung und Profitmaximierung aufzwingt.

Der Punkt ist jedoch, daß Brenner diese klassengestützte Herangehensweise an die ökonomische Entwicklung ins Extrem getrieben hat, indem er sämtliche strukturellen Faktoren, die keine Klasseneigenschaften haben, aus seinem Bezugsrahmen ausschloß. Das ist eine ausdrücklich nicht-dialektische Herangehensweise an die Theoretisierung solch komplexer Erscheinungen wie Ursachen und Mechanismen gesellschaftlicher Veränderungen. Brenner behauptete damals, Klassenstruktur und Klassenkonflikt seien der Ursprung aller gesellschaftlichen Veränderung, und sah sich dabei als Nachfolger von Marx in dessen »reifen« Arbeiten (Kapital und Grundrisse) im Gegensatz zu Marx' »unreifer« Theorie des Übergangs in dessen früheren Arbeiten (Deutsche Ideologie, Elend der Philosophie und Kommunistisches Manifest). Nach Brenner gibt Marx in diesen früheren Arbeiten eine technologisch-deterministische Darstellung der gesellschaftlichen Veränderung, bei der die gesellschaftlichen Strukturen sich lediglich den Erfordernissen der Entwicklung der Produktivkräfte anpassen. In diesem Kontext repräsentiert Marx' Arbeit für Brenner eine typisch Smithianische Darstellung der ökonomischen Entwicklung, bei der die Entwicklung der Produktivkräfte zum zentralen Begriff bei der Erklärung der historischen Entwicklung wird.

Brenners Interpretation der Marx'schen Frühschriften wird diesen in keiner Weise gerecht. Er übersieht schlicht, daß Marx in diesen Arbeiten ein anderes Thema (Erkenntnis der allgemeinen Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung) angeht als im Kapital (Enträtseln der Bewegungsgesetze einer spezifischen Produktionsweise, des Kapitalismus). Das erste liefert die hauptsächliche Grundlage, auf der Marx seine materialistische Geschichtsauffassung formuliert, und bietet eine dialektische Deutung der Geschichte gestützt auf die Interaktion der Produktivkräfte mit der Klassenstruktur vermittelt durch den Klassenkonflikt - letzteres ist der Gegenstand von Marx' politischer Ökonomie des Kapitalismus.

Obwohl Brenner sich selbst in der Nachfolge von Marxens Spätschriften sieht, fehlt ihm dessen Grundbegriff in der Analyse des Kapitalismus in eben diesen Arbeiten: der Begriff des Werts. Das ist ungewöhnlich, will er doch eine Klassenanalyse des Kapitalismus abliefern. Angesichts des Warenfetischismus wird eine richtige Klassenanalyse des Kapitalismus ohne eine Dialektik des Werts aber zur Unmöglichkeit. Ohne Werttheorie kann die verschleierte Natur des Kapitalverhältnisses nicht enthüllt werden, und die Grundlage der innerkapitalistischen Konkurrenz - um diese dreht sich Brenners ganzes Buch - kann nicht enthüllt werden.

In Brenners jüngstem Beitrag gibt es eine weitere Verdrehung: Der Grundbegriff seiner früheren Arbeiten, d.h. der Klassenkonflikt auf der Grundlage der Mehrwertgewinnung, fehlt völlig. Wenn man aber die Abwesenheit einer Werttheorie in seinen früheren Arbeiten bedenkt, ist dieses Fehlen nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Ohne Werttheorie kann es keine richtige Klassenanalyse des Kapitalismus geben, und das macht Brenner anfällig für Herangehensweisen, die den Kapitalismus mit dem Wettbewerb zwischen Einzelkapitalisten gleichsetzen.

Für vorkapitalistische Produktionsweisen entscheidend sind bei Brenner das vertikale Verhältnis zwischen Aneignern und Produzenten und die Formen des Klassenkonflikts, die davon hervorgerufen werden. Doch bei der modernen Ökonomie ist plötzlich alles anders. In der Frage der grundlegenden Ursache der modernen ökonomischen Entwicklung weicht das vertikale Klassenverhältnis dem horizontalen Verhältnis zwischen Einzelkapitalisten. Das ist auf jeden Fall eine nicht-marxistische Position. Marx hat bei vielen Gelegenheiten klargestellt, daß unabhängig davon, welches ökonomische System man betrachtet, das bestimmende Merkmal das vertikale Verhältnis zwischen Aneignern und Produzenten ist. Hinter der Schwäche in Brenners Herangehensweise steht das Fehlen eines werttheoretischen Ansatzes. Erst mit der Kategorie des Wertes wird es möglich, den Zusammenhang zwischen dem Konkurrenzkampf der Kapitalisten und dem Kapitalverhältnis, also die Verbindung zwischen horizontalen innerkapitalistischen Verhältnissen mit dem vertikalen Klassenverhältnis und Klassenkonflikt, herzustellen.

Brenner hat im Wesentlichen auf Marx' werttheoretische Analyse des Kapitalismus und seinen Bewegungsgesetzen verzichtet. Er liefert jedoch keine alternative Theorie, die die systemische Natur der dynamischen Bewegungsgesetze des Kapitalismus und seiner immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen aufzeigen würde. Kurz gesagt, kein Wert, keine Dialektik, keine Vermittlung zwischen abstrakten und allgemeinen Begriffen und komplexeren, spezifischen, historischen Resultaten, sowie kein Klassenverhältnis. Dies führt letztlich zu mehr oder weniger selektiven und willkürlichen theoretischen und empirischen Fragmenten.

8. Der breitere Zusammenhang

Brenners Vorgehen ist also größtenteils auf dem Niveau der Debatte in den 70er Jahren. Seither ist die marxistische Debatte nicht vorwärtsgekommen und in vieler Hinsicht sogar zurückgefallen, wenn man etwa an die Rolle denkt, welche die Regulationisten dabei gespielt haben, von der Werttheorie abzurücken. In diesem Zusammenhang ist es besonders ärgerlich, daß New Left Review Brenners Beitrag als »Erneuerung des Marxismus« angekündigt hat und dann eine Analyse veröffentlicht, die in weiten Teilen kompatibel zur aktuellen mainstream-Ökonomie ist. Während die mainstream-Ökonomen gerade einen Zweifrontenkrieg gegen jeden radikalen Ansatz fahren, taugt Brenners Arbeit wenig, um in diesem Kampf standzuhalten. Auch empirisch hilft er uns nicht viel weiter, weil Brenner z.B. solche Begriffe wie »Dienstleistung« einfach benutzt, ohne zu erklären, was er damit meint (Finanzdienstleistungen? Fastfood? der kleine Lebensmittelladen an der Ecke?). Und schließlich zieht Brenner zwar nicht explizit diese Schlußfolgerung, aber sie ist überall in seinem Artikel implizit präsent: eine keynesianische Institution wird gebraucht, welche die Nachfrage genügend hochsetzen kann, um die Konkurrenz um Märkte abzuschwächen und die Kapitalakkumulation wieder anzuregen. Die Autoren hoffen gezeigt zu haben, daß eine solche Wirtschaftspolitik die strukturellen Probleme des Kapitals nicht lösen könnte. Das unauflösbare Problem bürgerlicher Politik besteht im Moment darin, wie man das Finanzkapital beschneiden kann, ohne dem industriellen Kapital zu schaden, dies hat die Asienkrise mit aller Schärfe deutlich gemacht.


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