Wildcat-Zirkular Nr. 56/57 - Mai 2000 - S. 54-63 [z56kris2.htm]


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Vom schwierigen Versuch, die kapitalistische Krise theoretisch zu bemeistern

1) Was bringt uns eine Theorie der Krise?

Es ist erstmal einfacher zu sagen, was uns die Krisentheorie nicht bringt: Sie bedeutet nicht, daß wir uns ein Bild malen vom 'kapitalistischen System', das an seinen eigenen Widersprüchen zugrundegeht und wir brauchen nur abwarten. Krisentheorie heißt auch nicht, daß 'wir Theoretiker' genau rausfinden könnten, welchen Stöpsel wir ziehen müssen, damit 'das System' zusammenbricht. Mit einer solchen Betrachtungsweise würden wir unsere eigene Rolle gnadenlos überschätzen.

Krisentheorie ist zunächst ganz banal für uns selber als Analyse wichtig: wo stehen wir, wie schätzen wir die Lage ein? Erleben wir gerade den Durchmarsch des Kapitals oder reichen alle ihre Maßnahmen von Umstrukturierung nicht hin, um zugrundeliegende Probleme zu lösen und zu einem »langanhaltenden, selbsttragenden Aufschwung« zu kommen, wie das immer genannt wird? Zweitens ist sie wichtig für die politische Auseinandersetzung und für unsere Argumentation. Wir müssen aufzeigen können, daß der Kapitalismus endlich ist - und wie er es heute ganz konkret ist! Das ist keinesfalls trivial in einer Zeit, in der man den Kapitalismus als 'Ende der Geschichte' hinzustellen versucht (hat)! Eine gute Krisentheorie erforscht die gegenwärtige kapitalistische Produktionsweise und ihre erkennbar bevorstehenden Entwicklungstendenzen. Daraus können wir sehr begrenzte, aber für die praktische Aktion ausreichende Zukunftsaussagen machen. Natürlich ist marxistische Krisentheorie zur Zeit eine recht minoritäre Angelegenheit. Es kann aber ganz schnell gehen, daß 'die Leute' von uns wissen wollen, was das ist »Krise« und wie wir die Lage sehen (siehe Indonesien!) ...

2) Warum sollte man sich Gedanken über die Krise des Kapitals machen?

Für uns Revolutionäre ist es von entscheidender Bedeutung, daß die kapitalistische Gesellschaft nicht nur ungerecht ist, sondern instabil. Ja, daß sie sogar instabil sein muß! Marx hat gezeigt, wie gerade ihre Antriebskraft zum tendenziellen Fall der Profitrate führt: Indem der lebendigen Arbeit ein immer größeres Quantum an toter Arbeit entgegengestellt wird (Fabriken, Maschinen, Wissenschaft ...), fällt die Profitrate. Ricardo hatte noch versucht, den historisch zu beobachtenden Fall der Profitrate auf äußere Faktoren zurückzuführen, auf die unproduktiver werdende Landarbeit. Demgegenüber hatte Marx gezeigt, daß die Ursache im Kapital selber liegt - und zwar gerade darin, daß die (Industrie-)Arbeit produktiver wird!

Das Gesamtkapital kann diese Schere letztlich immer nur durch periodische Entwicklungssprünge überwinden, in denen sich die massive Entwertung der Arbeitskraft mit einer Steigerung der Gebrauchswertseite verbindet - also kurz gesagt: intensivierte Ausbeutung und besserer Lebensstandard. In der Geschichte des Kapitalismus setzte das immer voraus, daß die Wertmassen entscheidend gesteigert werden konnten und das hieß immer: frisches Fleisch vom Land und aus dem Ausland in die industriell organisierte Produktion reinzuholen.

Seit etwa drei Jahrzehnten ist diese Quelle in Westeuropa, Japan und den USA erschöpft. Leute wie der Historiker Wallerstein gehen davon aus, daß weltweit die Möglichkeit, Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in industrielle Prozesse zu rekrutieren, zwischen 2020 und 2030 erschöpft sein wird. Wir können daraus nicht ableiten, daß der Kapitalismus damit automatisch verschwinden wird - aber man kann sicher sein, daß der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, danach nicht mehr existieren wird. Und daß wir damit gerade in den Jahrzehnten leben, wo das entschieden wird.

3) Was ist Krise?

Krise heißt vom Wortstamm her und in der Medizin 'Wendepunkt im Krankheitsverlauf, an dem sich das Schicksal des Patienten entscheidet'. Unter Krise stellt man sich Firmenzusammenbrüche, massive Geldentwertung, Panik usw.vor - sie hat also was dramatisches und plötzliches. Zweitens gibt es im Kapitalismus ein konjunkturelles Auf und Ab mit einer Periode von etwa sieben Jahren, das ebenfalls als »Krise« bezeichnet wird. Drittens gibt es im modernen Kapitalismus Stagnationsphasen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken können. Solche Phasen gab es bisher drei, zur Zeit erleben wir die längste seit 200 Jahren.

Die Merkmale der aktuellen Stagnationsphase sind:

4) Geschichtlicher Abriß unter dem Gesichtspunkt der Krise

4.1 Goldene Jahre?

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in den meisten Ländern zu Aufruhr und Streikbewegungen. Soweit diese in den drei Kontinenten stattfanden, wurden sie gnadenlos massakriert, das berüchtigste Beispiel hierfür ist Algerien im Mai 1945, wo die französische Kolonialmacht einen Aufstand militärisch niederschlug und dabei 40 000 Menschen ermordete. In den USA führten die Streikbewegungen (v.a. der Ford-Streik 1944) zur endgültigen Anerkennung der Gewerkschaften und zur Etablierung eines Sozialstaats mit hohen Arbeiterlöhnen. In Japan und der BRD wurden die Streiks in die Zange zwischen Wirtschaftskrise und politischer Repression genommen. Die Währungsreform führte in der BRD zu einer scharfen Erhöhung der Arbeitslosigkeit und zu Hunger und Elend (Arbeitslosigkeit 1948: 4,5%, 1950 12%). Niederschlagung der Streiks, Schüsse in Demos, KPD-Verbot sind Stichworte für die politische Repression (die Entwicklung in Japan war noch deutlich repressiver, es würde aber in diesem Zusammenhang zu weit führen, darauf einzugehen). Dies machte die Arbeiterklasse, die sich mit zwölf Millionen Flüchtlingen aus den verlorenen Ostgebieten und in den 50er Jahren aus der DDR neu zusammensetzte, gefügig zum deutschen Wirtschaftswunder auf der Basis von Niedriglöhnen; ein Industriearbeiter in der BRD verdiente in den 50er Jahren ein Fünftel seines US-amerikanischen Kollegen. (Bereits Ende der 50er Jahre wurde der Zustrom aus dem Osten durch die Anwerbung von »Gastarbeitern« in Süd-Europa ergänzt und später dann weitgehend ersetzt.)

Das, was die mainstream Linke heute als »das goldene Zeitalter des Fordismus« u.ä. hochleben läßt und hypostasiert, dauerte in der BRD nicht mal ganz 15 Jahre: von Anfang der 50er bis Mitte der 60er Jahre. Erste Krisensymptome in den Abschwungphasen 1962/63 und vor allem 1966/67 werden von den Unternehmern benutzt, um die »Störenfriede« aus der Produktion rauszusäubern, wie sich der BDI damals ausdrückte.

4.2 Die erste Abschwungphase

Die Phase von Mitte der 60er bis Ende der 70er (also weitere 15 Jahre) kann man als Kampf darum sehen, ob die Kapitalisten ihre Krise auf die ArbeiterInnen abwälzen können - die ArbeiterInnen blieben in diesem Kampf siegreich: die Reallöhne stiegen weiter, und zwar in einer Phase, in der die Arbeitslosigkeit sprunghaft zunahm, viele ArbeiterInnen »entdeckten« die Arbeitslosigkeit. (Der mainstream-Linken ist gar nicht bewußt, daß erst jetzt - im Ergebnis der Kämpfe - das Bild der Wohlstands- und Konsumgesellschaft zutrifft! Erst 1969 hatten über 80 Prozent aller Haushalte einen Kühlschrank; bei Waschmaschinen werden die 80 Prozent Mitte der 70er Jahre erreicht; und beim Auto beginnt das »goldene Zeitalter« noch später.)

Es kommt in dieser Phase zu zwei Krisenmaßnahmen, die bis heute fortwirken:

4.2.1 15.8.1971 Nixon-Schock (Ende von Bretton Woods)

Von heute aus gesehen markiert das den Übergang von der zyklischen Rezession zur historischen Krise: In einem überraschenden Zug löst der damalige US-Präsident Nixon den Dollar von seiner Goldparität, wertet ihn gegen den Yen und die DM ab, erhebt Sonderzölle von 10% auf Importe in die USA und verhängt einen »Lohn- und Preisstopp« (5%). Allein von 1969 bis 1971 hatten sich die an den weltweiten Finanzmärkten gehandelten Dollarströme verdoppelt und damit in drei Jahren soviel zugenommen wie in den vorhergehenden Jahrhunderten (allerdings geht es hierbei um Summen, die uns heute lächerlich vorkommen).

Durch die Lösung der Goldbindung und die freigehandelten Währungen müssen international tätige Unternehmen ihre (zukünftigen) Investitionen vor Währungsschwankungen absichern; aus dieser Unsicherheit entsteht der Derivathandel (wodurch die Finanzströme um so stärker anwachsen). Die Abkopplung des Dollars vom Gold wirft aber auch krisentheoretisch das Problem auf: was ist dann noch das Geld? Vor allem ehemals operaistische Theoretiker wie Negri, Montano, Marazzi und Cleaver, die diesen Schachzug theoretisch mitvollziehen wollten, verloren den Kopf und brabbeln seither was vom Ende des Wertgesetzes, denn offensichtlich sei die Stärke des US-Dollars nur noch auf die Stärke seiner Kampfbomber gegründet. In Wirklichkeit passiert etwas, das in allen kapitalistischen Stagnationsphasen passiert ist: der Kredit ändert seine Form, um den Kriseneinbruch zeitlich dehnen zu können. Dabei wird Geld scheinbar ex nihilo geschaffen.

4.2.2 Im Herbst '73 nehmen die Ölmultis den Yom-Kippurkrieg und das dadurch ausgelöste Öl-Embargo der OPEC zum Anlaß, die Erdölpreise zu vervierfachen. Diese »Ölkrise« hat vor allem drei Auswirkungen:


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