Wildcat-Zirkular Nr. 62 - Februar 2002 - S. 6-13 [z62krank.htm]


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Rettungsversuche auf der Intensivstation

Anmerkungen zu »Weiterhin krank« (Zirkular 61)

Beim Lesen des Artikels »Weiterhin krank« von Karl im letzten Zirkular sind mir einige Sachen aufgefallen, die meinen persönlichen Erfahrungen z.T. diametral widersprechen. Nach meiner Einschätzung haben sich in den 90er Jahren nicht zu unterschätzende Veränderungen in den Arbeitsverhältnissen vollzogen. Das betrifft zum einen, wie auch im Artikel von Karl angedeutet, die Rolle der Ex-DDR als Experimentierfeld für das Aufbrechen von Standards im Westen. Ich denke, daß dieser Prozeß spätestens seit Ende der 90er Jahre im vollen Gange ist und durchaus erfolgreich verläuft.

Zum anderen wird diese Strategie von einer übergreifenden gezielten Vermarktlichung von Arbeitsverhältnissen (in Ost und West) unterstützt, deren Auswirkungen auf das tägliche Verhalten der ArbeiterInnen und damit auch auf die Entwicklung von Kämpfen nicht zu unterschätzen sind. Kernpunkt der Vermarktlichung ist die direkte Konfrontation von ArbeiterInnen mit dem Druck des Marktes. Das bedeutet, daß diese nicht mehr - wie im fordistischen Großbetrieb - Anweisungen über verzweigte Hierarchieketten erhalten, sondern - unter der Bedingung, profitable Ergebnisse zu erzielen - weitgehende Handlungsfreiheiten in ihrer täglichen Arbeit erhalten. Vom Chef bzw. höheren Management kommen nur Rahmenvorgaben. Wie diese erfüllt werden, bleibt den »Leuten an der Basis« weitgehend selbst überlassen. Das führt u.a. dazu, daß Arbeitende, die sich bis dato kaum um Vermarktungs- und Kostenaspekte ihrer Tätigkeit kümmern mußten, nun selbst dafür zuständig sind. Knackpunkt dieser Strategie ist, daß dadurch immer weniger der Chef für die sich verschärfenden Arbeitsbedingungen verantwortlich gemacht wird, sondern es eben der anonyme Markt ist, der keine andere Wahl läßt. Wenn man dann gegenüber von dieser Art der Arbeitsorganisation Betroffenen in gewohnter Art gegen den Chef argumentiert, erreicht man meist nur noch Kopfschütteln. Es folgt i.d.R. der Verweis auf die Konkurrenz, man könne bei der Konkurrenz sich gar nichts anderes erlauben, ansonsten sei man weg vom Markt. Und so unrecht haben sie damit nicht...

Ich möchte dazu ein paar Erfahrungen aus meiner eigenen Tätigkeit beisteuern, die ich in einer Vertriebsabteilung eines Elektro-Konzerns (im Osten) gemacht habe. Dieser ist vorrangig im Bereich der Energieversorgung tätig, der seit einigen Jahren - nicht zuletzt infolge der Liberalisierung des Strommarktes - einem sehr heftigen Konkurrenzdruck ausgesetzt ist.

Bis Mitte der 90er Jahre war die dortige Arbeitsweise - aus heutiger Sicht - geradezu gemütlich, auch wenn ich das damals nicht so gesehen habe. Es wurden - ganz traditionell - Angebote erstellt und eingehende Aufträge abgewickelt, d.h. Bestellungen getätigt, Pläne erstellt und mit dem Kunden abgestimmt, und Bauabläufe überwacht. Es wurde halt das abgearbeitet, was anfiel. Kalkuliert wurde ziemlich pauschal, d.h. das Angebot setzte sich aus Vorlieferungen zzgl. eines prozentualen Betrages für Projektierung und Montage sowie der Gemeinkosten und einem »kalkulierten Normalgewinn« - von damals 6 Prozent - zusammen. Die Energieversorger hatten aufgrund ihrer Monopolstellung eine sehr gute und beständige Gewinnsituation. Bei Investitionen wurde eher danach geschaut, jeweils modernste und sicherste Ausrüstungen zu kaufen, wodurch für deren Anbieter immer genug abfiel. Beim Arbeitsablauf war alles weitestgehend vorgegeben, Ausnahmen regelte der Chef, der sich bei seinem nächsten Vorgesetzten i.d.R. absicherte usw. Im Auftragsfall wurde das Projekt halt abgewickelt, es gab im Grunde kaum eine Kostenkontrolle. Zwar mußte die Niederlassung am Jahresende eine schwarze Zahl vorweisen, ansonsten wurden man mit betriebswirtschaftlichen und/oder Marketing-Aspekten halbwegs in Ruhe gelassen.

Ähnliche Erfahrungen habe ich bei meiner zeitweiligen Tätigkeit in einem Energieversorgungsunternehmen (EVU) Anfang der 90er Jahre gemacht. Betriebsergebnisse spielten - zumindest auf den unteren Etagen - kaum eine Rolle. Man konnte nicht unbedingt faulenzen, hatte aber seinen geregelten Feierabend, und nur im Ausnahmefall richtig Stress. Es gab auch genügend Leute, eine funktionsfähige Infrastruktur war im Wesentlichen die Hauptaufgabe.

Ab etwa Mitte der 90er Jahre hat sich das entscheidend geändert. Das ist nicht nur auf den gestiegenen Konkurrenzkampf zurückzuführen, sondern auch auf die geänderte Arbeitsorganisation. Zunächst wurde die projektbezogene Arbeitszeiterfassung eingeführt. Alle Mitarbeiter müssen seitdem über jede Arbeitsstunde Buch führen, diese jeweils einem Projekt zuschlüsseln. Zunächst stieß das auf Ablehnung unter den Kollegen, die halt irgendwas aufschrieben und die Berichte oft nur nach Mahnung ablieferten. Hauptkritikpunkt war, daß es ziemlich unmöglich ist, eine den Tatsachen entsprechende Statistik zu führen, da meist an mehreren Projekten parallel gearbeitet wird. (Die offizielle Begründung war, daß man einen besseren Überblick erlangen wolle, um exaktere Kalkulationen zu ermöglichen.) Jedoch nach mehrmaligem Insistieren seitens der Geschäftsleitung wurde das System - dessen Einführung ein paar Jahre zuvor noch am Widerstand der Kollegen gescheitert war, wie mir ein West-Kollege berichtete - so akzeptiert.

Seitdem werden Kalkulationen zunehmend in Eigenverantwortung erstellt. Gewinne in der Kalkulation auszuweisen ist jedoch auf Grund der Marktsituation sehr schwierig, so daß von vornherein ein enormer Kostendruck besteht. Dieser muß dann an Vorlieferanten weitergegeben werden, was sich negativ auf die Verhältnisse zu Lieferanten und die Kollegen von anderen Firmen auf der Baustelle auswirkt. Auch wurde inzwischen der Zwang, vorrangig Produkte des eigenen Konzerns zu verkaufen, abgeschafft. Zeitweilig war es möglich, Produkte von externen Anbietern, die billiger waren als die eigenen Konzernstellen, einzusetzen. Zwar hatten meist diese Stellen die Möglichkeit des »last call«, wenn sie sich jedoch nicht in der Lage sahen, externe Angebote zu unterbieten, konnte man eben auf diese zurückgreifen. Inzwischen hat sich die Situation insofern geändert, daß die konzerninternen Stellen jetzt ihre Preisgestaltung entsprechend angepaßt haben - die Auswirkungen auf die dort Beschäftigten kann man sich leicht ausmalen. Auch ist es heute möglich, die Preise mit konzerninternen Stellen frei zu verhandeln, während es vorher eine feste Preisliste gab, von der nur in wenigen Ausnahmefällen abgewichen wurde.

Ein weiterer Aspekt der Vermarktlichung ist die beständige Umstrukturierung. Große Abteilungen wurden aufgesplittet und dann in sogenannte Profitcenter umgewandelt, die unter den bereits genannten Bedingungen nun weitestgehend eigenverantwortlich am Markt operieren. So manche Abteilung wurde dabei outgesourct und oft auch nach nur kurzer Zeit wieder ingesourct - je nach gerader aktueller Strategie in der Konzernspitze. Hinzu kommt, daß die Firma, in der Zeit, in der ich dort beschäftigt bin, insgesamt viermal den Besitzer bzw. die Rechtsform gewechselt hat, Nachbarabteilungen ver- und zurückgekauft wurden, Kollegen von heute auf morgen auf einmal direkte Konkurrenten wurden und jeder ständig in Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, der Firma etc. war. Zwischen den jeweiligen Profitcentern gibt es beständig Animositäten um Zuständigkeit, Zuschlüsselung von Umsätzen und gegenseitige Konkurrenz, bis hinunter zu den Kollegen auf der Baustelle. Ähnliche Entwicklungen sind bei den Energieversorgungsunternehmen (EVU) zu beobachten. Bei einem EVU beschäftigt zu sein, war in der Vergangenheit vergleichbar mit einem Beamtenstatus. Einige Unternehmen (im Westen) gewährten ihren Leuten Rente ab 50, und aufgrund der Monopolstellung hatten sowohl Unternehmer als auch Beschäftigte goldene Bedingungen. (»Die hatten wenigstens richtigen Sozialismus!«, wird im Osten da oft seufzend festgestellt.)

Bei den EVUs im Osten - die größeren haben alle eine westliche »Konzernmutter« - wurde die Umstrukturierung meist mit Hilfe von sogenannten Consulting-Firmen begonnen. Diese haben teilweise regelrecht gewütet. In dem EVU, wo ich eine Zeitlang beschäftigt war, mußten sich alle in nur wenigen Jahren mehrfach intern neu bewerben (mit Vorstellungsgeprächen usw.), d.h. alle Stellen wurden neu ausgeschrieben - und nicht nur pro Forma. Die Leute wurden mehrfach systematisch durcheinandergewürfelt, mußten sich im Themengebiet neu einarbeiten, mit Kollegen zusammenraufen, längere Anfahrtswege in Kauf nehmen usw. Als dann endlich Ruhe einzukehren schien, wurden sie oft mit ein paar anderen EVUs fusioniert, und das Spiel begann von Neuem, und in jeder Runde wurden sie weniger...

Auch dort müssen jetzt Stundennachweise gebracht werden, müssen sich viele Stellen in internen Ausschreibungen mit externen Anbietern messen, werden ganze Abteilungen outgesourct usw. Und spätestens mit der Fusionierung mit West-EVUs werden die dortigen Bedingungen denen im Osten angeglichen. Solche Vermarktlichungsprozesse haben natürlich Auswirkungen auf den Umgang unter den Kollegen. Während es früher kein Problem war, jemandem auszuhelfen, ist das heute insofern schwierig, weil man jede Stunde auftragsgebunden abrechnen muß. Man kann zwar sicher »schummeln«, die Spielräume sind jedoch gering. Wer zu viele »unproduktive« Stunden, also solche, die keinem Projekt zuzuordnen sind, schreibt, fällt zumindest erstmal negativ auf. (Was die Konsequenzen sind, ist eine andere Frage. Tatsächlich achten jedoch fast alle darauf, daß das nicht eintritt.). Die Statistiken dazu werden regelmäßig in Rundschreiben veröffentlicht.

Wenn jemand z.B. krank macht, hat er meist selbst Angst, daß sein Kollege dann sein Projekt versaut. Das trifft auch oft zu, da die Leute froh sind, ihre überzähligen Stunden irgendwohin schreiben zu können, ohne dafür verantwortlich gemacht zu werden. Zum anderen kommen viele auch krank zur Arbeit, da sie ihre Arbeit nicht den ohnehin schon überlasteten Kollegen zumuten wollen.

Überstunden werden massenweise gemacht, oft trauen sich die Projekteure aber nicht, diese abzurechnen, damit das Projekt eben nicht »rot« wird. Denn wenn man zu viele Stunden verbraucht, hat man halt schlecht kalkuliert. Kalkuliert man richtig, kriegt man keinen Auftrag... Früher war das Sache des Chefs, heute muß man sich selbst einen Kopf machen.

Auf dem Bau selbst gibt es - im Gegensatz zu vorher, als fast sämtliches Personal von der Firma selbst war - in der Regel nur noch einen oder manchmal zwei bauleitende Monteure, der Rest wird durch Subunternehmen und Leihkräfte erledigt. Der neueste Trend ist der Einsatz von Fremd-Bauleitern, meist entlassene eigene Leute, denen - anschließend - der Schritt in die Scheinselbständigkeit schmackhaft gemacht wurde. Diese verdienen mitunter auf den ersten Blick gar nicht schlecht (ca. 60 DM/Std.), müssen dafür aber eine Grundausstattung an Werkzeug und Kleinmaterial mitbringen, oft inkl. einem kleinen LKW. Dann wird ihnen max. 10 h/Tag (die gesetzliche Obergrenze) bezahlt, in Realität sind sie 14 h und länger am Stück auf dem Bau - unter enormem Streß zumeist, da der Koordinierungsaufwand infolge der vielen Kleinfirmen sehr hoch ist. Kosten für Übernachtung, Verpflegung, Anreise, Handy (und natürlich die ganzen Sozialversicherungen) usw. werden ebenfalls aus eigener Tasche bezahlt. Ein selbständiger Bauleiter, den ich auf einer Hamburger Baustelle kennengelernt habe, ist jeden Sonntagnachmittag beizeiten in Sachsen losgefahren, damit er vor dem Wochenendverkehr wieder in Hamburg war. Freitagabend ging's dann - meist spät in der Nacht - zurück. Am Wochenende muß dann Buchführungskram erledigt und das Auto gepflegt werden. Wenn die Baustelle zu Ende geht, muß er sich rechtzeitig um Anschlußaufträge kümmern. Meist geht das aber schlecht zu koordinieren, da das Ende sich oft mehrfach hinauszögert - man muß eben flexibel sein. Solche Aufträge zu bekommen ist aber auch schwierig, da kaum jemand einen Bauleiter einstellt, den er selbst nicht kennt. In der Regel bietet dann der alte Auftraggeber einen neuen Auftrag an - zu weit schlechteren Bedingungen. Wenn man einmal den Schritt in die »Selbständigkeit« gewagt hat, ist man besser unter Druck zu setzen. Inzwischen habe ich schon mehrfach selbständige Monteure (für um die 25, 30 DM/h), die meist ursprünglich von Leihfirmen kommen, erlebt.

Bezüglich der Leihfirmen muß ich Karl auch widersprechen. Wenn er schreibt, daß Leiharbeit derzeit insgesamt gesehen kaum ins Gewicht fällt, mag das stimmen. Die Zuwachsraten sind jedenfalls - da decken sich meine persönlichen Erfahrungen mit den Zeitungsmeldungen - sehr hoch, und auf dem Bau (abgesehen im Baugewerbe selbst, wo Leiharbeit - noch - verboten ist), haben sie inzwischen einen Anteil von ca. einem Drittel der Beschäftigten. Die Bedingungen sind mitunter katastrophal. Die Leute werden regelrecht verheizt und sind dennoch froh, einen Job zu haben. Ich habe mit Leuten gesprochen, die sich für jeden Tag, an dem der Chef keine Arbeit für sie hat, bis Mittag zu Hause bereit halten müssen. Wenn dann keine Order kommt, haben sie Urlaub zu nehmen (!). Einer hat mir berichtet, daß er von seinen 24 Tagen (Mindest-)Urlaub im letzten Jahr 20 Tage mit solcher Warterei verbracht hat. Die Leute verbringen oft die ganze Arbeitswoche auf der Baustelle, wohnen und essen dort im Container.

Auch im Büro gibt es in unserer Firma zunehmend Leiharbeit. Zunächst wurden in kleineren Niederlassungen - im Osten und im Westen - die Sekretärinnen entlassen und durch Leihkräfte ersetzt. Dann folgten die Zeichner und inzwischen werden bei Auftragsspitzen auch Leih-Ingenieure eingesetzt. Die maximale Verleihdauer wird mit diversen Tricks umgangen usw. Die festangestellten Monteure bekommen für die jeweilige Baustelle ein bestimmtes Stundenvolumen, mit dem sie auskommen müssen. Teilweise haben sie das in der Angebotsphase selbst kalkuliert. Sie haben in Eigenregie Leihkräfte anzufordern, und selbst dafür zu sorgen, daß sie im Stunden- und Zeitlimit bleiben.

Das Problem ist, daß sie, wenn es in die »heiße« Angebotsphase geht, meist mehrmals unter Druck gesetzt werden, daß sie die von ihnen angesetzten Stundenzahl »überprüfen«, sonst ist der Auftrag futsch. Und meist machen sie das halt mit, damit sie nicht in die Pampa geschickt werden, damit die Niederlassung überlebt usw. Und wenn sie den Auftrag dann abarbeiten müssen, werden die Leiharbeiter, Subunternehmer unter Druck gesetzt, damit alles trotzdem geschafft wird. Und nicht zuletzt setzen sie sich selbst unter Druck. In der Endphase von zeitkritischen Projekten (und das sind inzwischen fast alle) sind sie dann schon mal bis zu 30 Stunden am Stück auf der Baustelle.

Aus solchen Problemen halten sich der Chef oder höhere Konzernstellen weitestgehend raus. Sie entscheiden meist nur noch über Wohl und Wehe eines Standortes oder bestimmter Abteilungen insgesamt. Am Anfang war ich selbst überrascht, wieviel »Freiräume« man hat. Aber diese sind meist eben nur Schein, in der Praxis laufen die (Markt-)Vorgaben auf ein hohes Maß an Selbstausbeutung hinaus. Ich habe selbst an mir bemerkt, wie ich meine Arbeit immer mehr effektiviere, um möglichst keine Überstunden machen zu müssen - ich bin froh, über jede Stunde, die ich rausschinden kann. Die Folge ist aber eben, daß man sich in der Zeit auf Arbeit enorm verausgabt. Und in auftragsschwachen Zeiten werden die dennoch zuhauf anfallenden Überstunden abgebummelt. Die meisten wollen aber gar nicht abbummeln, sie nehmen lieber die Kohle und stecken die ins Häuschen oder das tolle Auto, das sie brauchen um zu den immer weiter entfernten Baustellen zu kommen. Leerlaufzeiten, oder Zeiten zur Pflege von Werkzeugen, Rechnern ... gehen gegen Null. Da bleibt im Büro oder auf der Baustelle kaum Zeit für ein Schwätzchen - die Poren des Arbeitstages schließen wir also zum Großteil in Eigenregie.

Die beschriebenen Arbeitsbedingungen sind allerdings noch solche von relativ »Privilegierten«. Die Bedingungen in den kleinen Handwerksklitschen, also den Subunternehmen auf dem Bau oder im Büro, sind noch weit schlechter. (Ein Kommilitone von mir hat nach dem Studium in einem Ingenieurbüro für 2300 DM brutto angefangen, inkl. Überstunden - kein Witz!) Vor kurzem habe ich einen Kollegen aus einer kleinen Elektrobude getroffen, der erzählte, daß der Chef bei Neueinstellung jetzt darauf achtet, daß die Leute nicht unter Mindestlohn bezahlt werden - und dann pro Monat 500 Mark bar zurückfordert und bekommt. Auch ist es in solchen kleinen Buden üblich, Lohn und Gehalt mit mehrmonatiger Verspätung zu zahlen.

Die Frage ist natürlich, warum die Leute sich das gefallen lassen. Die meisten in »unserer« Firma sind - zumindest wenn sie eine Weile dabei sind - ziemlich unzufrieden aber dennoch froh, dort einen Job zu haben. Denn es gibt wenigstens richtigen Metall-Tarif. Zwar gibt es auch immer häufiger Abweichungen von solchen Standards, aber generell sind die Bedingungen weitaus besser als in den Subunternehmen. Und der Druck vom Arbeitsmarkt her ist zumindest im Osten nicht zu unterschätzen.

Das erklärt aber nicht alles. Eine wesentliche Rolle im Osten spielt m.E. eben doch (wie auch von vielen neoliberalen Demagogen argumentiert wird) »40 Jahre« stalinistischer Sozialisation. Die Menschen haben einfach nicht gelernt, von sich aus selbst aktiv zu werden. Immer wurde auf irgendeine Anweisung von oben oder sonstwo gewartet. Das betrifft sowohl die generelle staatliche »Fürsorge« im sozialen Bereich als auch die Verhältnisse im Betrieb.

Sicherheit ist auch heute noch oberstes Gebot. Für die meisten ist es eine Horrorvorstellung, ohne Job dazustehen. Um das zu vermeiden, nehmen viele die bescheidensten Arbeitsbedingungen und -entlohnungen in Kauf. Auch denke ich, daß viele immer noch auf den »Aufschwung Ost« hoffen; es herrscht eine Art Durchhaltementalität.

Zum anderen muß man auch Antworten auf der psychologischen Ebene suchen. Die meisten von denen, die jetzt so gebeutelt werden, haben vor zwölf Jahren ziemlich laute Töne gespuckt und die sich anbahnenden Veränderungen lauthals begrüßt. Alle, die da nicht so laut mit gebrüllt haben, waren »Stasis«. Ich denke, daß viele das noch im Hinterkopf haben.

Außerdem hat es bei den diversen Entlassungen so manch unschöne Geschichte gegeben, die zu einer Rette-sich-wer-kann-Mentalität geführt hat. Wirklich Widerstand wurde geleistet, wenn's unmittelbar ans Eingemachte ging, also die Betriebsschließung unmittelbar bevorstand, vorher kaum.

Allerdings bin ich der Meinung, daß die Mentalität im Westen oft nicht so großartig von der im Osten abweicht. Sicher gibt es da Abstufungen, aber was ich so erlebt habe (ich bin vor allem in den letzten zwei Jahren im Westen ein wenig herumgekommen), zeugt auch nicht von großartigem Widerstandsgeist. Der Osten hat seine Rolle als Experimentierfeld erfolgreich gespielt, und mittlerweile werden im Westen in nicht mehr zu übersehendem Maße Standards eingerissen, die jahrzehntelang nicht angetastet wurden. Zwar ist das dort alles etwas zählebiger, aber eben auch, weil die Chefs eine nach meiner Einschätzung ziemlich unbegründete Furcht vor ihren Arbeitern haben. Denn auch das System der »Sozialpartnerschaft« hat nicht unbedingt die Kampffreudigkeit breiterer Schichten befördert. Auch dort hat die neoliberale Ideologie Fuß fassen können und die Vermarktlichung der Arbeitsorganisation trägt ein übriges bei, diese Ideologie in der Praxis (scheinbar) zu bestätigen.

Jedoch ist eben nicht alles Ideologie, der Druck des Marktes ist ein durchaus realer. Das muß man in jedem Falle berücksichtigen, wenn man gegenüber Kollegen argumentiert. Aber darin liegt m.E. auch eine Chance, denn wenn diese anfangen nachzudenken, wird ihnen schnell klar werden, daß der Fehler im System liegt. Im Osten schwant das auf Grund ihrer Erfahrungen schon vielen, die Vergänglichkeit von sehr fest gefügt erscheinenden Gesellschaften ist den meisten durchaus noch bewußt.

Was zahlenmäßige Veränderungen angeht, kann man sicher feststellen, daß sich immer noch 2/3 im Normalarbeitsverhältnis befinden. Entscheidend ist aber, daß viele von ihnen das immer öfter eben nicht mehr from nine to five sind und sich generell mit immer mehr Unwägbarkeiten und weniger Solidarisierungspotentialen konfrontiert sehen. Sicher gab es auch früher in Krisenzeiten Phasen verstärkter Arbeitsintensität und geringerer Sicherheit, aber heute ist das zum permanenten Zustand geworden, dessen Auswirkungen kaum abschätzbar sind.

Wenn ich also lese: »wenig Entwicklung in den Ausbeutungsverhältnissen«, dann kommen mir schon Zweifel. Sicher basiert meine Einschätzung vor allem auf Beobachtungen, die ich in einem Sektor und zum größeren Teil im Osten gemacht habe. Es wäre nun von Interesse, daß wir uns die Situation etwas genauer unter die Lupe nehmen und möglichst viele Erfahrungen auswerten.

L., Magdeburg


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