Wildcat-Zirkular Nr. 63 - März 2002 - S. 15-17 [z63bethl.htm]


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»Leben« in Dheisheh (Bethlehem)

Auf die Flüchtlingslager in Westbank und Gazastreifen gab es in den letzten zwei Wochen massivste Angriffe. »Die Armee rückte in Palästinensergebiete vor«, lautet die offizielle Beschreibung für diese Aktionen. Wie das aussieht, wenn »die Armee vorrückt« möchte ich am Beispiel des Flüchtlingslagers Dheisheh genauer zeigen.

In Dheisheh befindet sich auch Ibdaa, ein selbstorganisiertes Kulturzentrum für Kinder und Jugendlichen. Das Ziel des Projektes ist es, einen Rahmen zu bieten, in dem Kinder und Jugendliche ihre Traumatisierung verarbeiten und sich selbst jenseits von Gewalt und Armut entdecken können. Wesentliche Eckpunkte des Projekts sind Basisdemokratie, Geschlechtergleichheit und internationaler Austausch.

Die hier zitierten Berichte sind stark gekürzt und bearbeitet. Sie sind größtenteils im Internet nachlesbar, z.B. auf www.alternativenews.org, www.oznik.com, www.gush-shalom.org.

9. März

»Israelische Panzer, begleitet von Bulldozern haben das Flüchtlingslager Dheisheh vollständig umzingelt und es wurde eine absolute Ausgangssperre verhängt - nicht daß sich die Leute vorher nach draussen gewagt hätten. Aus dem nahegelegenen Flüchtlingslager Aida wurde gemeldet, daß israelische Scharfschützen auf alles schiessen, das sich bewegt, deswegen haben die Leute in Dheisheh ihre Häuser seit Freitag nicht verlassen. Gerade jetzt haben israelische Truppen Dheisheh eingenommen und verschiedenen Häuser als Vorposten übernommen. Israelische Scharfschützen sind auf den Dächern. Das Haus der Familie, dessen Sohn den Selbstmordanschlag in Jerusalem letztes Wochenende ausgeführt hatte, wurde mit Bulldozern plattgewalzt.

Der Vater eines Freundes, ein Angestellter der UNRWA, starb heute in Dheisheh eines natürlichen Todes. Die israelischen Truppen verweigerten der Familie die Erlaubnis ihn zu begraben, so daß die Familie ihn im Haus begraben musste - das ist das erste Mal, daß so etwas im Lager geschieht.

Das nächstgelegene Krankenhaus wurde von Soldaten und Panzer gestern umzingelt und kann nicht erreicht werden, der Direktor dieses Krankenhauses wurde gestern erschossen.

Zusätzlich zu der Belagerung des al-Yamama-Krankenhauses haben die israelischen Truppen auch die Strasse von Dheisheh nach Bethlehem aufgegraben, so daß Krankenwagen das Lager nicht erreichen können und kein Verletzter ins Krankenhaus gebracht werden kann.«

10. März

»Ich habe gerade mit einem Freund aus Beit Sahour [Stadtteil von Bethlehem] gesprochen, der mir erzählt hat, daß die Israelis in das neue Zentrum von Ibdaa im Dheisheh Flüchtlingslager eingebrochen sind und ihre Scharfschützen auf dem Dach des Zentrums positioniert haben, da sie dadurch eine Überblick über das ganze Lager haben. Das Zentrum haben die Leute aus Dheisheh in harter Arbeit aufgebaut, nachdem ihr erstes Zentrum inklusive den Computern und der Bücherei darin absichtlich niedergebrannt worden war. Wie oft sollen die Leute sich aufrappeln und wiederaufbauen??? Die Zentrum wird für die Kinder genutzt, für die Tanzgruppe, das Computer- und Internetzentrum, das Restaurant, als Gästehaus für internationale BesucherInnen und Freiwillige. Es repräsentiert ihren Stolz und nun ist die israelische Armee dort eingebrochen und niemand weiss, in welchem Zustand sie es verlassen werden.«

11. März

»Am Freitag, den 10. März, sprengte das israelische Militär vier Häuser im Lager. Alle vier Häuser gehören Familien, die in der Intifada Söhne verloren haben. Eine andere Familie wurde unterrichtet, daß ihr Haus heute gesprengt werden wird. Die extreme Dichte der Häuser - viel Häuser teilen sich eine Wand mit den Nachbarn - bedeutet, daß die Zerstörung eines Hauses weitreichende Schäden an den benachbarten Häusern hervorruft.

Um ca. 6 Uhr 30 heute morgen forderten die israelische Truppen alle männlichen Bewohner Dheishehs im Alter zwischen 14 und 50 Jahren auf, sich zu versammeln. 600 Jungen und Männer wurden verhaftet, die meisten Männer im fraglichen Alter halten sich seit Donnerstag ausserhalb des Lagers auf. Den verhafteten Männern wurden die Augen verbunden und die Hände gefesselt. Die Soldaten bespucken die Männer und schlagen sie.« Die überwiegende Mehrheit der Verhafteten wurde nach 20 Stunden, nach der Durchsuchung aller Häuser und Verhören freigelassen.

13. März

»Der fünfte Tag der dritten Invasion unserer Stadt ist zu Ende. Nach der Erniedrigung, die Männer zwischen 14 und 50 Jahren gestern erleben mussten, wurde das Flüchtlingslager Dheisheh völlig zerstört zurückgelassen. Die Häuser von Dutzenden Familien, Straßen, die ganze Infrastruktur des Lagers ist durch israelische Panzer und Bulldozer zerstört. Während alle Männer versammelt wurden, um sie festzunehmen, wurden hunderte von Häusern durchsucht und entweder beschädigt oder total zerstört zurückgelassen. Kinder und Frauen sind terrorisiert und verängstigt, als sie ihre Väter, Verwandten und Nachbarn so brutal behandelt sahen. Viel unserer Freunde aus dem Kinderzentrum Ibdaa wurde ebenfalls verhaftet. Dheisheh ist bis jetzt von israelischen Panzern umzingelt.

Meine Cousine Mervat, die im Flüchtlingslager Aida lebt, saß mit ihren fünf Töchtern unter dem Treppenaufgang ihres Hauses. Mervat war die letzten fünf Tage allein mit ihren Töchtern und ihrer Schwiegermutter, die eine gebrochene Hüfte hat, weil ihr Ehemann Munther am Tag des Einmarsches nach Bethlehem nicht von der Arbeit nach Hause kommen konnte. Munther und Mervat sind in den letzten fünf Tagen durch die Hölle gegangen, weil die Panzer nicht auffhörten das Lager oder die umliegenden Teile von Beit Jala zu beschießen. Stell dir fünf Mädchen im Alter von neun Jahren bis einem Monat vor, die diesen Alptraum und Terror erleben müssen.(...)

Letzte Nacht sind innerhalb einer halben Stunde 20 PalästinenserInnen im Flüchtlingslager Jabalia getötet worden. Kannst du dir vorstellen, wie wertlos menschliches Leben wird. In diesen Tagen ist ein Menschenleben für die Israelis überhaupt nichts wert.«

Die schlimmsten Aktionen im Lager scheinen momentan vorbei zu sein, doch Dheisheh ist nach wie vor von Panzern umzingelt, einige Gebäude bleiben militärisch besetzt. Pressemeldungen zufolge soll bald ein weitere große Durchsuchung stattfinden. Die Ausgangssperre besteht weiterhin, während ich dies schreibe bereits den 9. Tag. Ibdaas Räumlichkeiten sind während der Militäraktion stark beschädigt worden, das Computerzentrum, der Kindergarten, das Gästehaus und die Kinderbücherei sind weitgehend zerstört. Jegliche Hilfe für den Wiederaufbau des Zentrums ist willkommen.

U., Freiburg


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